Beiträge von Campino

    Anscheinend dreht Mark Keller einen neuen Film in Köln.

    Hier ein YT-Video zu den Dreharbeiten:

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    Interessant dabei die Beschreibung, dass anscheinend auch Tom Beck in dem Film mitspielt.

    EDIT: http://www.sat1.de/film/der-sat-1-filmfilm/news/einstein

    Dienststelle - 10:30 Uhr

    Anna Engelhardt, Chefin der Autobahnpolizei wartete bereits ungeduldig auf ihre beiden Mitarbeiter. Nur kurz über Funk wurde sie über die gescheiterte Verfolgungsjagd informiert, und war dementsprechend ein wenig ungehalten darüber, dass Kevin und Ben den Attentäter haben entwischen lassen.
    Sie sah die beiden Männer gerade durch die Tür schreiten, als sie sofort aufstand und die beiden Polizisten zu sich rief. "Peters, Jäger. Sofort in mein Büro." Ben und Kevin schauten sich kurz an und der jüngere der beiden verdrehte die Augen. Die beiden hatten sich nur wenig auf der Rückfahrt unterhalten, waren sie doch froh dass sie diesmal Todesopfer vermeiden konnten, auch wenn die Rettung des Getränke-LKW-Fahrers denkbar spektakulär und knapp war. Jedoch ließ die Chefin ihnen erstmal keine Wahl, und so nahmen sie beide auf den Stühlen vor ihrem Schreibtisch Platz. Für einige Minuten herrschte Stille, denn Anna Engelhardt blickte die beiden Beamten nur ein wenig böse an, weil sie warten wollte, mit was sie wohl beginnen würden. Von Semir war sie es gewohnt, erstmal keine Fragen stellen zu müssen, doch Ben und Kevin schwiegen zunächst. "Nun... was haben sie zu sagen?", fragte sie dann nach einer gefühlten Ewigkeit, und ließ die beiden Polizisten aufblicken. Kevin blickte aus dem Fenster, denn er verstand nicht, warum er sich rechtfertigen musste, während Ben zunächst nach richtigen Worten suchte. "Wir mussten dem LKW-Fahrer helfen. Dabei ist der Typ uns... durch die Lappen gegangen." Wieder kurze Stille, als wolle Anna Engelhardt die Antwort kurz auf sich wirken lassen, bevor sie ein wenig die Augen zusammenkniff. "Wissen sie eigentlich, wie groß die Chance war diesen Typen zu kriegen? Uns hilft der Zufall und sie...", doch weiter kam sie nicht. Kevin drehte den Kopf vom Fenster weg und fiel der Chefin ins Wort, die das von ihren Männern nicht gewohnt war. "Wir haben dem Fahrer das Leben gerettet. Hätten wir ihn in seinem Wagen verbrennen lassen sollen?", fragte er mit aufgebrachter Stimme, die selbst seinen Kollegen die Augenbrauen hochziehen ließ. "Ich rate ihnen besser, mich nicht zu unterbrechen...", drohte die Chefin mit ein wenig zusammengekniffenen Augen, doch Kevin blieb äusserlich ruhig. "Wir hatten keine Wahl.", stellte er klar. "Sie hätten verhindern müssen, dass der Attentäter den LKW überhaupt unter Beschuss nimmt." "Chefin, das ging alles zu schnell.", ergriff nun auch Ben wieder das Wort. "Der hat den Arm aus dem Fenster gehalten, dreimal geschossen und dreimal getroffen. Das war kein Zufall, genauso wie der gestrige Mord, als einer der Opfer eine Kugel ins Auge bekommen hat." Der Puls der Chefin senkte sich wieder, sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder voll auf Ben. "Wir haben es hier mit einem exzellenten Schützen zu tun. Ausserdem ist mir aufgefallen, dass er sich hervorragend durch den Verkehr manövriert hat."

    Anna Engelhardt legte einen Finger quer über die Lippen und dachte nach. "An was denken sie?" Ben hatte seine Gedanken eben im Auto nicht direkt geäussert, und auch jetzt fiel es ihm ein wenig schwer seinen Verdacht zu äussern. "Vielleicht... ein ehemaliger Kollege dieser Dienststelle.", sagte er. Er wurde von zwei Augenpaaren überrascht angesehen. Kevin widersprach ihm als erstes: "Das kann genauso gut auch ein Mitglied im Schützenverein sein, der gut Auto fahren kann, oder ein ehemaliger Rennfahrer, der gut schießen kann.", meinte er. "Meine Herren, Spekulationen bringen uns nicht weiter. Wir haben 4 Tote, und keinerlei Erkenntnisse, ausser dass wir wissen, dass der Täter gut schießen kann, gut Auto fahren kann, die Autos für die Anschläge klaut und offenbar keine Spuren hinterlässt. Die Opfer sind in keinen Zusammenhang zueinander zu bringen." Dann blickte sie die beiden Männer nacheinander an, ihr Puls hatte sich, genau wie ihre Stimmlage beruhigt. "Die Mordkommission ist drauf und dran uns den Fall wegzunehmen. Das würde unserem Ansehen nicht unbedingt gut tun.", sagte sie mit ernster Miene. Wieder kehrte Stille ein in das Büro, Kevin strich sich mit der Hand durch die sowieso abstehenden Haare, während Ben mit dem Zeigefinger über die Lippen fuhr. Einfach zu warten bis der Kerl irgendwann mal was falsch machen würde, wäre zu wenig.
    "Ich habe mir nochmal ihren Vorschlag von gestern durch den Kopf gehen lassen, Herr Peters.", sagte sie dann und blickte Kevin direkt an, der aufmerksam zuhörte. "Wie haben sie sich das gedacht?" Der junge Polizist legte die Beine überkreuz, und dachte kurz nach. "Ich glaube, dass er Aufmerksamkeit will. Niemand bringt aus reinem Spaß wahllos Menschen um. Entweder man tut es aus Rache, doch diese Menschen haben nichts miteinander zu tun. Er will Aufmerksamkeit, über die Medien. Und ich glaube, wenn wir uns als seinen Gegner präsentieren, können wir Unschuldige aus der Schusslinie nehmen." Anna Engelhardt und Ben hörten der Stimme des Polizisten interessiert zu. "Wir müssen seinem Gegner ein Gesicht geben. Wir beide...", dabei zeigte er erst auf Ben und dann auf sich selbst "sind die beiden Polizisten, die ihn jagen. Seine Feinde, die er zu besiegen hat. Und wir können uns schützen, im Gegensatz zu der Bevölkerung auf irgendwelchen Rastplätzen." Frau Engelhardt nickte stumm, bevor sie weitere Fragen stellte: "Was ist, wenn er nicht darauf eingeht?" "Dann haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder geben wir zu dass wir nichts haben, um ihn leichtsinnig werden zu lassen. Oder aber wir erstellen den Eindruck, dass wir dicht an ihm dran sind, um ihn unter Druck zu setzen. Aber wichtiger ist, dass wir verhindern, dass weitere Unschuldige ums Leben kommen. Deswegen müssen wir seine Aufmerksamkeit auf uns lenken, ihn provozieren." Wieder kurze Stille, denn Frau Engelhardt dachte über jedes einzelne Wort nach. Sie musste die Sache genau abwägen, hielt sie doch letztlich den Kopf dafür hin, wenn etwas schief gehen sollte. "Für heute mittag, 13 Uhr, ist eine Pressekonferenz angesetzt. Trauen sie sich zu, die Statements zu geben, damit der Mörder darauf reagiert." Ben blickte von der Chefin zu Kevin, der stumm und ohne Gefühlsregung im Gesicht nickte. "Na schön, Peters. Ich vertraue auf ihre Erfahrung aus der Mordkommission. Versuchen wir es. Lenken sie seine Aufmerksamkeit auf uns alle, versuchen sie seine Lust auf das Morden von Unschuldigen in irgendeiner Form auf uns zu kanalisieren. Und ab jetzt trägt jeder Beamte dieser Dienststelle eine kugelsichere Weste." Das Ende des Satzes klang ein wenig sarkastisch, danach entließ sie die beiden Polizisten.

    Im Büro der beiden ließ Ben sich auf den Stuhl fallen. "Hälst du das nicht für ein wenig riskant?", fragte er seinen Partner, der sich auf den kleinen Büroschrank vor der Glaswand setzte. "Klar ist es riskant. Aber uns fällt nichts ein. Bis der Kerl Fehler macht werden Dutzende Menschen sterben. Und jetzt wird er auch die Raststätten nicht mehr der Reihe nach abklappern. Wir haben nichts und können nicht immer auf den Zufall hoffen." "Hast du sowas bei der Mordkommission schon mal gemacht?" Kevin schwieg kurz und schüttelte den Kopf. "Nein, aber ein Kollege. Ich hab das damals mitbekommen, bei diesem Serienkiller, der 3 Jungen auf dem Gewissen hatte, erinnerst du dich? Vor einem Jahr ungefähr." Ben musste kurz nachdenken, nickte dann aber. "Du meinst, als die Polizei über die Presse herausgegeben hat, dass man eindeutige Hinweise auf den Täter hatte?" Sein Partner nickte. "Das stimmte nicht. Die Ermittlungsgruppe ist absolut im Dunkeln getappt. Doch nach dem Pressebericht hat der Täter bei seinem letzten Mord zwei Unachtsamkeiten begangen, weswegen wir ihn letztlich überführen konnten." "Und du meinst, das hätte nur an dem Bericht gelegen?" "Es gibt Studien, dass Mörder und Gewalttäter auf Presseberichte über sie reagieren. Je eindeutiger, desto eher.", meinte der junge Kommissar und Ben zog ein wenig die Augenbrauen hoch. Kevin überraschte ihn immer wieder aufs Neue. "Ich hätte jetzt nicht gedacht, dass du dir Studien über Polizeiarbeit anschaust." Der junge Mann musste grinsen. "Tu ich auch nicht... war die Abschlussarbeit eines Kollegen in der Fachhochschule." "Achso.", meinte Ben und nickte, bevor er fragte: "Was war dein Thema?" Kevin grinste kurz. "Drogen und Jugendgangs." Sein Freund zog die linke Seite des Mundes nach oben. "Hätte ich mir eigentlich denken können." "Ich musste nicht viel lernen.", antwortete der Polizist schnippisch. "Und deine?" "Finanzbetrug.", meinte Ben nun sarkastisch, als Jenny in das Büro trat.
    "Ich hab gehört, du darfst zur Pressekonferenz nachher.", meinte sie lächelnd in Kevins Richtung, der kurz nickte. "Das heißt, ich werde schon wieder um eine Verabredung mit dir gebracht?" Während Ben in sich hineingrinste und sein Gesicht hinter dem Computermonitor verbarg zuckte sein Freund mit den Schultern. "Tut mir echt leid, Jenny..." Doch die junge Polizistin setzte eine gespielt beleidigte Miene auf und stemmte die Hände in ihre schlanken Hüften. "Okay, Herr Peters.", meinte sie scherzhaft. "Letzte Chance. Heute abend lade ich dich zum Essen bei mir ein. Und wehe es kommt dir nochmal irgendwas dazwischen." Kevin lächelte, er spürte wie sehr sich Jenny darum bemühte etwas mit dem schweigsamen Kerl zu unternehmen, das tat seiner Seele richtig gut. Deswegen nickte er sofort eifrig, bevor Jenny das Büro verließ.
    "Und wehe es kommt dir nochmal irgendwas dazwischen.", äffte Ben kichernd hinter seinem Monitor, als Jenny das Büro verlassen hatte, und bekam als Reaktion sofort eine zusammengeknüllte Papierkugel von Kevin an den Kopf geworfen.

    Hotel - 9:30 Uhr

    Semir hatte am Frühstückstisch sehr wenig Hunger. Fast schon lustlos würgte er ein Brötchen mit Honig runter, während sich die restlichen Urlauber mit Rührei, Obst und Marmeladenbrötchen die Bäuche vollschlugen. Andrea betrachtete ihren Mann ein wenig mit Sorge, während sie aufpasste dass ihre beiden Töchter nicht das komplette Restaurant mit Nutella eindeckten. Der Vater der beiden Mädchen beobachtete sie und lächelte. Selbst im tiefsten Kummer konnten die beiden ihn immer wieder ein wenig aufmuntern, wenn sich der Kummer nicht gerade um die Mädchen selbst drehte. Momentan drehte er sich aber komplett um seinen Freund und Ex-Kollegen André Fux. Er hatte gestern abend endgültig beschlossen, André die Fotos zu zeigen und ihn darauf anzusprechen. Er wollte sehen, wie André reagierte, was er zu seiner Verteidigung sagte. Gab es alles zu, stritt er es ab, hatte er eine Erklärung? Erst dann würde der Polizist entscheiden, wie er weiter verfahren würde, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, André anzuzeigen und so ins Gefängnis zu bringen. Das war schon ein absurder Gedanke, als er hier hinflog, und seit er wusste wie glücklich sein ehemaliger Partner auf der sonnigen Insel war, war die Vorstellung nochmal ein Stückchen grausamer geworden.

    Nach dem Frühstück machte sich Familie Gerkhan strandfertig. Sie packten Obst und Kekse ein, Ayda schnappte sich die Spieletasche mit Ballspielen und Semir übernahm Luftpumpe und zusammengerollte Luftmatratze. Er half, die Sachen zum Strand zu bringen, der nur durch eine Promenade vom Hotel getrennt war. Sie fanden drei Liegen ganz in der Nähe vom Wasser, und Andrea nickte ihrem Mann gütlich zu, dass sie es schaffen würde die nächsten Stunden allein auf die beiden Mäuse aufzupassen. Semir gab ihr einen dankbaren Kuss auf die Stirn und ging grübelnd langsam wieder zurück ins Hotel, wo er durch die Palmen und Sträucher bereits André im Pool erkennen konnte. Er gab einen halbstündlichen Kurs im Aqua-Gymnastik, an dem sich hauptsächlich ältere Damen beteiligten und versuchten, mehr schlecht als recht, die Übungen, die André im Wasser vollführte, nach zu machen. André nahm natürlich Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit seiner Teilnehmer und machte alle Übungen nur halb so schnell wie er eigentlich könnte. Als er seinen Freund im Augenwinkel vernahm, der auf einer Liege Platz nahm und wartete, machte er eine motivierende Handbewegung, er solle doch mitmachen. Mit einem etwas gequält erzwungenen Lächeln winkte Semir ab und erinnerte sich an früher, dass André ihn öfters versuchte zu überzeugen, mal etwas Sport zu treiben. Er nahm ihn öfters mit zur Boxschule, sie trainierten sogar am Boxsack im Büro, doch wirklich dazu durchringen konnte der kleine Kommissar sich nie. Ironischerweise entdeckte er den Sport für sich erst einige Jahre später.

    Als die Übung vorbei war zog André sich aus dem Pool und kam tropfend zu seinem Freund. "Hey Semir. Was gibts?" Der Polizist kaute ein wenig auf seiner Unterlippe, sah sich kurz um. Jede Menge Leute um ihn herum, viele Liegen waren schon belegt, und er wollte es auch nicht hier im Hotel tun. Ausserdem versuchte er, den unangenehmen Zeitpunkt noch weiter nach draussen zu schieben. "Hast du Zeit? Du wolltest mir doch noch die Dünen von Maspalomas zeigen?" André fuhr sich mit einem Handtuch durch die kurzen Haare, sah erst ein wenig verwirrt drein, nickte dann aber und meinte mit seiner knarzig markanten Stimme: "Na klar. Ich geh mich nur schnell anziehen, dann treffen wir uns am Eingang."
    Semir nutzte diese Minuten um ins Zimmer zu gehen, seinen Rucksack zu holen um dort erneut den Umschlag mit den Bildern zu verstauen. Er atmete tief durch, er war nervös. So viel hatte er in seiner Zeit als Autobahnpolizist schon erlebt, so oft dem Tod ins Auge geblickt, er hatte auf seinen Partner gezielt, sogar mit Platzpatronen auf Ben geschossen, er hatte zwei, eigentlich sogar drei Partner verloren. Alles schien so weit weg, und er hatte das Gefühl, diese Situation würde an Grausamkeit alles überbieten, weil er dachte, er sei drauf und dran das mühsam aufgebaute Leben seines Freundes zu zerstören. 'Nein, er musste es tun', sagte er zu sich selbst. Er würde keine ruhige Minute mehr haben, wenn er André nicht wenigstens darauf ansprechen würde... warum und weshalb.

    Mit unruhigen Schritten ging Semir durch den tropischen Garten und durch die Empfangshalle. André stand bereits bei seinem Gefährt, dem Strandbuggy von gestern, der offenbar ihm gehörte, und zusammen fuhren sie durch den Ortskern des Touristenzentrums Playa del Inglés in Richtung Maspalomas. Dort standen die Hotels nicht mehr so dicht gepresst, dafür aber nochmal luxuriöser und aufwendiger gestaltet. Sie bogen von der Hauptstraße ab und parkten in einem Kreisel, der direkt am Eingang zu dem Weltkulturerbe, den Dünen von Maspalomas lag. Sie blickten über eine kleine Wüste, mit Sandhügeln, die in der Sonne glitzerten und weit Richtung Meer ragten. Die Insel hatte hier eine Art Landzunge die komplett von Sahara-Sand bedeckt war, wie André kurz erklärte, bevor sie sich zu Fuß aufmachten, um diese kleine Wüste zu durchqueren. Der Sand war durch die Sonne so aufgeheizt, dass sie nicht barfuss gehen konnten, ohne sich die Füße zu verbrennen, manchmal tauchten sie so tief in den Sand ein, dass er die Unterschenkel oberhalb der Knie berührte.
    Als sie in der Mitte der Wüste, genau in der Senke zweier hoher Hügel standen, machte André kurz Halt. "Wir müssen aufpassen. Manche Pärchen denken hier, sie wären allein.", sagte er augenzwinkernd, doch Semir konnte in diesem Moment nicht lächeln. Er hatte beschlossen, es jetzt zu sagen. Hier waren sie alleine, niemand könnte mithören, und der ehemalige Polizist erkannte sofort am Gesichtsausdruck seines Freundes, dass er angespannt und nervös war.

    "Was ist denn los mit dir? Du bist so still heute...", fragte André ein wenig mit Sorge und sah Semir an, der den Rucksack langsam abnahm. "André...", begann er vorsichtig und suchte nach den richtigen Worten, die er aber sowieso nicht finden würde. "Ich... ich muss dir etwas zeigen." Zuerst dachte der großgewachsene Animateur, Semir hätte ein Geschenk für ihn, doch der ernste angespannte Gesichtsausdruck verwirrte ihn. Das Lächeln gefror ihm dann völlig, als sein Freund leise sagte: "Ich weiß, was du auf Mallorca getan hast." Was zum..., weiter kam André nicht. Semir nahm den Rucksack ab, stellte ihn auf den heißen Sand und zog den Umschlag mit den Fotos heraus. Noch einmal durchatmen, dann hielt er ihn in Richtung seines Freundes. "Das wurde uns auf die DIenststelle geschickt, kurz nachdem du zum Flughafen gefahren bist." Mit halb offenem Mund und großen Augen, die immer etwas müde aussahen, nahm André den Umschlag in die Hand, öffnete ihn und zog die Fotos heraus. "Oh nein...", murmelte er wie erschlagen und schaute sich jedes Bild nacheinander an. Semir atmete innerlich schnell, er hatte das Gefühl im Sand unter ihm zu versinken, als er lauernd auf eine Reaktion von André wartete, der sich jedes Bild ansah. Kurz blickte er sich um, doch weder war jemand auf oder zwischen den Hügeln zu sehen, noch waren irgendwelche Stimmen von Touristen zu hören.

    Autobahn - 9:15 Uhr

    Kevin hatte gerade das Blaulicht angeschaltet, Ben ließ den Wagen per Kickdown aufheulen. Der dunkelblaue SUV trat ebenfalls aufs Gas und die Verfolgungsjagd begann durch den relativ dichten Berufsverkehr. "Cobra 11 an Zentrale, wir verfolgen einen dunkelblauen SUV in Richtung Norden. Bonrath, Hotte, wir kommen gleich an eurem Rastplatz vorbei. Setzt auch am besten vor den Kerl.", rief der junge Polizist ins Funkgerät und gab an die Zentrale noch das Kennzeichen durch. Der Fahrer bewegte den Wagen durch den Verkehr, wechselte mehrmals die Spur und schnitt nur haarscharf die Autos. Als er sich fast Millimeter genau zwischen zwei Autos durchpresste, als er die Spur wechselte, trat Ben in die Eisen. "Was machst du denn?", bekam er sofort von seinem Partner zu hören, der ansonsten recht ruhig auf dem Beifahrersitz saß, als hätte er solche Verfolgungsjagden schon 1000mal mitgemacht. "Ich pass nicht da durch.", gab ihm sein Kollege zur Antwort und streckte den Arm in Richtung Frontscheibe aus. "Willst du mich verarschen. Wenn ein SUV durchpasst, passt du auch durch, oder hat die Karre Überbreite?" Ben presste die Lippen zusammen und verkniff sich die Antwort, trat aufs Gas und steuerte die Lücke an. Er verkrampfte seine Finger ins Lenkrad als er von dem hinteren Wagen, denn er schnitt einen kurzen Stoß spürte und fing den Mercedes gerade so ab. "Was hab ich denn gesagt?", rief er sofort wütend zu Kevin rüber, der schnippisch behauptete: "Tja. Dann hat der Typ wohl besseres Augenmaß als du."

    Dem erprobten Ben war sofort aufgefallen, dass der Fluchtfahrer keine hektischen Lenkbewegungen machte, sauber und beinahe ruhig in seiner hohen Geschwindigkeit immer eine Lücke im Verkehr sah, während Ben mehrmals heftig bremsen musste. Dann sahen sie vorne den Porsche von Bonrath, der versuchte sich vor den SUV zu setzen, während Ben nun dicht dahinter fuhr. "Jetzt haben wir ihn.", murmelte der Fahrer des Mercedes und Kevin löste innerhalb seines Hemdes den Knopf, der seine Waffe sicherte. Der SUV verlangsamte tatsächlich hinter dem Porsche auf der rechten Spur, allerdings lief die Kolonne jetzt auf einen LKW auf. Bonrath fuhr auf die Überholspur statt zu bremsen, während der SUV nach rechts auf die Standspur zog und wieder Gas gab. Kevin machte ein unverständliches Gesicht, während sein Partner nur ein "Oooooh, Bonrath!!" von sich gab. Offenbar war er solche Aktionen von seinem langen Kollegen bereits gewohnt.
    Der SUV flüchtete nun wieder schneller, Ben versuchte sich dranzuhängen, Bonrath und Herzberger direkt hinter dem Mercedes. Auf der mittleren Spur fuhr ein kleiner LKW, der offenbar Getränke geladen hatte, jedenfalls war die Plane des LKWs dunkelrot und hatte eine Biersorte als Aufschrift. Der SUV verlangsamte rechts von dem LKW knapp hinter ihm. "Was macht der denn da...", murmelte Kevin, doch die Antwort folgte sofort. Die Scheibe der Fahrerseite ging herunter und ein Arm, mit Lederhandschuh bekleidet und eine Waffe in der Hand haltend erschien aus dem Fenster. Ben und Kevin konnten gar nicht so schnell reagieren, da bellte die Waffe zweimal auf und der Kerl hatte die beiden Gurte zerschossen, die eine Abdeckplane am Heck des LKWs hielten. Nun konnte man in den Frachtraum sehen, wo viele Fässer drin standen. "Oh Mann...", sagte Kevin nun erstaunt, und es war äusserst selten der Fall, dass er von irgendetwas beeindruckt war. Die Präzision der Schüsse allerdings, in so kurzer Zeit, war atemberaubend. Erst jetzt zog Kevin seine Waffe, betätigte den Knopf um die Scheibe runter zu drehen, da bellte die Waffe des Flüchtigen erneut auf. Was die beiden Polizisten nun sahen veranlasste Kevin sofort wieder die Waffe wegzulegen und das Funkgerät zur Hand zu nehmen. "Bonrath, brems den Verkehr ein und bring alle zum Stillstand!", brüllte er während Ben den Mercedes sofort von ganz rechts auf die linke Spur zog. Hinter ihnen wurde der Verkehr von dem Polizei-Porsche eingebremst und wurde in Bens Spiegel kleiner. Der Fahrer wusste offenbar nichts von der drohenden Katastrophe.

    Im Inneren des LKWs hatte der Fluchtfahrer etwas in Brand geschossen. Eine Stichflamme stieß nach oben, und brannte erstmal, als wäre eine Gasflasche getroffen worden. Die Plane fing bereits Feuer. "Was hat der da geladen?", fragte Ben erstaunt, bevor sie auf gleicher Höhe mit dem LKW waren. "Sauerstoffflaschen. Um das Bier zu kühlen.", wurde er von seinem Partner belehrt. "Wenn wir den Wagen anhalten und der Macht ne Vollbremsung, greift das Feuer über. So lange er fährt fressen sich die Flammen nach hinten. Du musst ihn rüberholen.", rief der erfahrene Autobahnpolizist nun, und öffnete sogleich das Verdeck des Mercedes. Kevin verzog die Lippen etwas, schnallte sich aber furchtlos ab und zog sich durch die Öffnung im Dach, setzte sich auf die hintere Kante und stieg mit dem linken Fuß auf Bens Schulter. Der LKW-Fahrer hatte natürlich mittlerweile mitbekommen, dass irgendsoein Typ neben ihm aus dem Auto kletterte. Kevin zog mit etwas zusammengekniffenen Augen seinen Dienstausweis, denn der Fahrtwind brannte in den Augen und ließ sein Hemd nach hinten reißen. Mit einer Handgeste bedeutete er dem Fahrer, das Fenster runter zu kurbeln. "Habt ihr sie noch alle?", war die erste Frage des etwas älteren Fahrers, der immer noch nicht bemerkt hatte, dass sein Wagen abfackelte. "Sie müssen aussteigen!", schrie Kevin laut gegen den Fahrtwind und die Motorengeräusche, während Ben versuchte, den Mercedes auf gleicher Höhe zu halten. "Ihr Wagen brennt! Aber halten sie nicht an." Mit einem Blick in den Seitenspiegel verlor der Mann alle Farbe im Gesicht. Die Flammen hatten sich bereits durch das Planendach gefressen, und der LKW zog die Flammen wie eine Fackel hinter sich her. Beide Polizisten befürchteten dass jeden Augenblick die Gasflaschen explodieren würden, was zumindest Kevin in Mitleidenschaft ziehen würde.
    "Sie müssen springen!", rief Kevin laut und rutschte ganz an den rechten Rand des Wagens heran. "Sind sie lebensmüde???", bekam er als Antwort zurück und der Polizist verzichtete auf gutes Zureden oder psychologische Gespräche. "Spring rüber, Mann! Ich hab kein Bock hier als Barbecue zu enden!!" Kevins Entschlossenheit schien den Fahrer zu beeindrucken, ausserdem bekam auch er Panik wegen seiner, teilweise gefährlichen Fracht. Der erste Verschluss des Bierfasses gab seinen Geist auf, und der Gerstensaft spritzte gegen das teilweise bereits abgebrannte Dach des LKWs.
    Endlich öffnete der Fahrer langsam die Tür, nachdem er den LKW nochmal beschleunigt hatte, um genug Zeit zu haben, bis er ausrollte. Dann hangelte er sich zitternd heraus, während Ben so nah wie möglich an den LKW fuhr. Je langsamer die beiden Fahrzeuge wurden, desto eher kamen die Flammen zurück Richtung Führerhaus und den gefährlichen Gasflaschen. Kevin streckte die Hand nach dem Mann aus, der aussah, als würde er gleich vor Angst sterben. "SPRING!!!", rief der junge Polizist gegen den Fahrtwind, und war guter Dinge, den Mann dann festhalten zu können, denn er war weder groß, noch so er besonders schwer aus.

    Mit einem gewaltigen Satz, in dem er sich von dem Trittbrett wegdrückte, überwand der Fahrer die kurze Distanz zwischen LKW und dem Mercedes. Eine ausgestreckte Hand konnte er sofort an die Dachkante zur Öffnung nach innen klammern, die andere erwischte Kevin am Hemd, und der Polizist hatte Mühe, sich nicht vom Auto zerren zu lassen und packte sofort beherzt zu. Ben ging sofort in die Eisen, als er sah, dass der Mann in Sicherheit war und der Mercedes kam in wenigen Sekunden quer zum Stehen. Kevin ließ den Mann gerade los, der auf die Straße fiel, weil ihm sofort vor Aufregung die Beine nachgaben, als der wegrollende LKW mit einem lauten Knall explodierte... oder besser gesagt nacheinander jede Gasflasche im Inneren des Frachtraums, da die Sicherung nun komplett aufgab. Durch die Druckwelle bersteten mehrere Fässer und Kevin, der Fahrer des LKWs und das gesamte Auto bekam einen Regen von Bier ab. Es benetzte den Mercedes, die Straße und teilweise auch die Polstersitze, weil das Dach noch offenstand. Die Ladefläche stand nun in Vollbrand und der Wagen rollte langsam bis zur Leitplanke, wo er stehen blieb. Kevin saß schwer atmend immer noch auf dem und wischte sich durchs verklebte Gesicht, während Ben, ebenfalls ein wenig schneller atmend, aus dem Wagen stieg und zu dem brennenden Wagen sah. Kevin strich mit einem Finger über das feuchte Dach des Mercedes und leckte ihn ab... als wäre es gerade nichts aussergewöhnliches was er gerade erlebt hatte, quittierte er die Kostprobe kurz und schmallippig mit einem fachmännischen Blick. "Gaffel Kölsch.", so dass Ben, der eigentlich der Mann für die Scherze war, ein wenig die Augen verdrehte...

    Hotel - 23:00 Uhr

    Heute hatten die Kinder länger ausgehalten. Lilly wurde erst kurz vor Ende der Flamengo-Show in der Poolbar quengelig, während Ayda noch fit war, und eigentlich noch gar nicht ins Bett wollte. Doch Semir und Andrea blieben hart. Alle vier hatten einen schön Urlaubsabend verbracht, und seine Familie half dem Polizisten unbewusst, seine Sorgen um André ein wenig zu verdrängen.
    Jetzt aber, wo die Kinder im Bett im Nebenzimmer lagen, er nur in Shorts und Shirt auf dem Rücken im Bett lag und seine Frau Andrea gerade aus dem Bad kam, kamen die Sorgen wieder zurück. Er hatte die Arme hinterm Kopf verschränkt und starrte an die Decke, als Andrea sich neben ihm zudeckte. "Grübel jetzt nicht zu viel.", sagte sie zu ihm, kuschelte sich dicht an ihn und zog die dünne Decke bis an die Schultern. Heute nacht würde sie sich vor Hitze eh wieder freistrampeln, denn die Nächte waren auch hier sehr warm. "Das sagt sich so einfach.", brummte ihr Mann. Er fühlte sich besser seit seinem emotionalen Ausbruch, und war froh dass er bei seiner Frau seinen Gefühlen jederzeit freien Lauf lassen konnte.
    Andrea legte ihren Kopf auf die breite Schulter ihres Mannes und schlang einen Arm um seinen Brustkorb. Mit den Fingern strich sie im Takt an seiner Körperseite vorbei, während sie langsam ein wenig einnickte. "Morgen sag ich es ihm.", hörte sie auf einmal Semirs Stimme und war sofort wieder wach. "Wirklich?" Im Dunkeln meinte sie, ihren Mann nicken zu sehen. "Ich muss. Besser jetzt, als kurz vor der Abreise. Ich muss es ihm so sagen, dass er sofort merkt, dass ich ihm nichts Böses will.", sagte Semir mit fester und bestimmter Stimme. Andrea fand es gut, dass er sich dazu durchringen konnte, und hoffte dass er dann auch morgen nicht wieder einen Rückzieher machte. Aber Semir spürte gerade die eigene Entschlossenheit, als wäre er am liebsten sofort zu André gegangen. Aber erstmal musste er die Nacht rumbringen...


    Rastplatz - 9:00 Uhr

    Die Spannung war zum Knistern. Der Tag kündigte sich mit hellem Sonnenschein an und versprach ordentlich warm zu werden, Kevin hatte sogar schon seine (selbst abgetrennte) kurze Jeans unter sein ärmelloses Hemd, dass er über dem Tanktop an hatte, gezogen. Ben vertraute noch auf die lange Jeans, bereute das aber bereits. Statt des warmen Kaffees, den er sich gerade in seine Tasse füllte, während die beiden Polizisten am Rastplatz, der in der Liste der nächste sein sollte, stand, wünschte sich der Polizist ein kühles Blondes. Kevin verzichtete komplett auf das Heißgetränk, er stand neben dem Auto und hatte Hände und Kinn aufs Dach gelegt. Sie standen am Ende des Rastplatzes, rückwärts geparkt und hatten so den kompletten Rastplatz im Auge. Bis jetzt waren es drei Autos in anderthalb Stunden, die nicht angehalten hatten, sondern langsam durchgerollt waren. Kevin hatte sich alle Kennzeichen notiert. Der Berufsverkehr war vorbei, aber der Ferienverkehr begann langsam. Viele Eltern mit Kindern parkten auf dem Rastplatz, machten auf den Bänken ein Frühstückspicknick mit selbst gebratenen Frikadellen, Eiern und Brötchen.

    "Du, irgendwie hab ich doch ein wenig Schmerzen im Nacken.", rief Ben vom Auto aus herauf zu seinem gestrigen Boxpartner. "Weichei.", gab der nur zurück, ohne die Augen von dem weißen Audi zu lassen, der langsam auf die zurollte, dann aber doch auf einen der letzten Parkplätzen anhielt, bevor es zurück auf die Autobahn ging. Beiden Polizisten war die Anspannung anzumerken, denn sie hatten keinen schnellen Plan, wie sie reagieren sollten, wenn plötzlich geschossen wird. Sie mussten damit rechnen, falls der Killer heute hier nochmal auftauchte, dass es wieder Tote geben könnte, obwohl sie da waren.
    "Hotte, Bonrath, wie siehts bei euch aus?", fragte Ben über Funk an seine Kollegen, die den anderen Rastplatz in der Liste vor und hinter den beiden Anschlagsrastplätzen bewachten. "Bis jetzt alles ruhig, Ben.", gab Hotte Herzberger zurück, der sich mal wieder mit seinem langjährigen Partner Bonrath in den kleinen Porsche gequetscht hatten. Beide Polizisten waren für diese Art von Auto eigentlich ungeeignet, den Hotte war dick und rund, während Bonrath die Knie aufgrund seiner 1m98 fast an die Ohren gezogen hatten. "Ja, bei uns momentan auch.", gab Ben zurück, der aus dem Seitenfenster sah.

    Nicht nur ihm, sondern auch seinem Kollegen fiel der unauffällige dunkelblaue SUV auf, der nun ebenfalls auffallend langsam die Straße des Rastplatzes abfuhr. Kevin hatte sich gerade eine Zigarette angesteckt, als er den Wagen beobachtete. Durch die vordere und hintere große Fensterscheibe konnte man die Silhouette eines großen Mannes schnell erkennen, genau so seinen ausgestreckten Arm in Richtung Beifahrerfenster, das geöffnet war.
    Kevin hatte gerade seine Kippe zwischen den Fingern, als er wahrnahm, was geschah. Es kam ihm vor, wie eine Zeitlupe, als der Polizist die Zigarette zwischen seinen Fingern fallen ließ, sein offenes Hemd zurückzog, und seine Dienstwaffe entsicherte. Die Zigarette hatte gerade den Boden erreicht, Ben wurde selbst gerade klar, was gleich passieren würde, als er schon den Schuß hörte. Die Kugel aus Kevins Waffe schlug durch den Grill in den Motorraum. Im gleichen Augenblick ließ der Mann im Wagen den Arm sinken, ebenso den Gasfuß. Kevin zielte nochmal, als der Wagen immer näher kam, vernahm aber auch sofort Bens Stimme. "Hör auf, hier durch die Gegend zu ballern! Komm lieber rein!!", schrie er und ließ den Motor des Mercedes aufheulen, als der SUV an den Polizisten vorbeizog. Kevin sprang auf den Beifahrersitz und hatte gerade die Füße vom Asphalt gezogen, da gab Ben bereits Vollgas, und nahm die Verfolgung des SUV auf.

    Waldweg - 17:30 Uhr

    Der Himmel über dem Land verdunkelte sich, es roch ein wenig nach Regen oder sogar Gewitter. Der ganze Tag war grau, dunstig und irgendwie für den Sommer unangenehm. Kevin hatte seine Jacke mittlerweile in den Dienstwagen gelegt, während Ben den Weg ein wenig auf und ab ging. Doch nichts auffälliges tat sich vor seinem Auge auf, weder ein Zigarettenstummel mit DNA, noch Fußabdrücke.
    Es dauerte etwas, bis der Polizeijeep von Hartmut kam, einige Kollegen ausstiegen und den Anweisungen des Rotschopfes Folge leisteten. Dann begann auch Hartmut mit der Arbeit, nachdem er die beiden Polizisten mit Handschlag begrüßt hatte. Als er in die offene Beifahrertür lugte, sagte er, als könne er in die Vergangenheit blicken: "Hat doch jemand von euch schon drin gesessen.", und drehte sich zu den beiden um. Ben hatte anscheinend einen Moment nicht zugehört und blickte gerade zu Hartmut auf, während Kevin eine Unschuldsmiene verzog und mit dem Finger unauffällig auffällig auf seinen Partner zeigte. "Ben, ich hab dir doch schon tausend Mal gesagt, dass du deinen Hintern aus den Autos, die ich untersuchen soll, rauslassen sollst.", sagte er mit eindeutig übertrieben gespielten Vorwurfston. Der Polizist sah überrascht hin und her. "Wie bitte? Ich war doch gar nicht...", bis er merkte dass er reingelegt wurde, und seinem jungen Partner neben ihm einen Stoß versetzte, während der auflachte. "Leg dich besser nicht mit mir an.", lachte Kevin und zwinkerte seinem Freund zu. "Pah. Glaubst du, ich hätte noch nie nen Boxring von innen gesehen?", witzelte der Wuschelkopf zurück und bekam prompt Antwort. "Vom Boden vielleicht.", meinte Kevin grinsend.

    "Wenn ich die beiden Kinder vielleicht mal unterbrechen dürfte?", vernahmen die beiden Polizisten dann wieder die Stimme des Technikgenies der Kölner Polizei und widmeten ihre ganze Aufmerksamkeit Hartmut zu. "Hast du was?" "Mikropartikel auf dem Fahrzeugteppich. Könnte Erde sein, muss ich analysieren. Sieht mir aber auf den ersten Blick wie ganz normale Blumenerde aus." "Das grenzt den Täterkreis auf all jene ein, die einen Garten zuhause haben...", meinte Ben erst todernst und überzeugend, bevor er dann mit dem Kopf schüttelte. "Das reicht noch nicht, Hartmut..." Kevin grinste derweil schon wieder und schüttelte mit dem Kopf. "Ein Typ ist das...", sagte er dabei scherzhaft. "Danke Ben. Das weiß ich, dass das noch nicht reicht.", sagte Hartmut und schälte sich wieder aus dem Vorderraum des Autos.
    Die Kollegen durchsuchten den Wagen zunächst auf Fingerabrücke und weitere Spuren, während einige andere auch die nähere Umgebung absuchten. Die Kollegen der Fahndung waren bereits abgezogen, und als der Abschleppdienst kam, um den Wagen zur KTU zu bringen, brachen auch Ben und Kevin auf zurück zur Dienststelle - der Feierabend nahte. Als die beiden an der Dienststelle ankamen, war nur Bonrath noch da. Er machte öfters Überstunden, war er doch meistens eh allein zu Hause. "Was machst du jetzt noch? Lust auf ein Bierchen?", fragte Ben seinen Partner, als sie aus dem Büro wieder auf den Parkplatz traten. Der schien kurz zu überlegen, grinste und schüttelte dann den Kopf. "Bierchen ist nicht schlecht... wenn ich die Location wählen darf." In erster Reaktion nickte der Polizist sofort, weil er sich freute seinen eben noch so schweigsamen Partner zu einem Feierabend-Bier überreden zu können, und setzte sich, nichtsahnend, ins Auto.


    Boxhalle - 19:30 Uhr

    Na super, dachte Ben ein wenig grimmig. 'Jetzt muss ich mir mein Bierchen auch noch verdienen'. Kevin hatte die spontane Idee die Frozzelei am Feldweg ein wenig in die Tat umzusetzen. Er nötigte Ben dazu, zu Hause seine Sportsachen einzupacken, fuhr danach in seine Wohnung zu Kalle, um auch seine Sporttasche zu schnappen und lenkte den BMW dann zu einer freien Boxhalle, wo Kevin in der Woche trainierte. Kevin bemerkte den misstrauischen Ausdruck im Gesicht seines Freundes. "Keine Angst. Du kannst jederzeit das Handtuch werfen." Die Frozzelei entspannte Ben wieder, und er entschloss sich, die sportliche Herausforderung anzunehmen. Die beiden Männer zogen sich in einer großen Kabine um, und der junge Polizist bemerkte gleich, dass in Bens Armen und Oberkörper sicherlich gewaltige Kräfte schlummerten. Er würde sehen, ob er die beim Boxen auch richtig einzusetzen wusste. Kevin selbst war nicht ganz so muskulös wie Ben, im Nahkampf setzte er aber auch andere Waffen ein als rohe Kraft.
    Die beiden machten sich eine halbe Stunde mit Laufen und Gymnastik warm, bevor sie durch die Seile in den Ring stiegen. Kevin warf Ben einen Kopfschutz zu, der wiederrum seinen Partner neckisch ansah. "Wozu die Maskerade?" Kevin war gerade im Begriff das Ding über zu ziehen. "Naja... wenn du der Chefin morgen beibringen willst, woher du das Veilchen unterm Auge und die aufgeplatzte Lippe hast?" Ben dachte erst, Kevin wolle ihn wieder aufziehen. "Zieh an, das Ding. Das geht schneller als du denkst. Du wirst auch so genug spüren." Das überzeugte den Polizisten dann, und er zog den etwas drückenden unangenehmen Kopfschutz über seine üppigen, obwohl etwas kürzer als sonst, Haare.

    Jeder Polizist muss einen Selbstverteidigungskurs in der Ausbildung absolvieren, der allerdings Boxen nicht beeinhaltete. Ben hatte mal an einem Schnuppertraining teilgenommen, und erinnerte sich sofort an Haltung, Bewegung und Schlagkombinationen. Er bemerkte aber gleich, dass Kevin geübter war, schneller auf den Beinen war und die Deckung blitzschnell wieder vor dem Gesicht hatte, nachdem er geschlagen hatte. Er selbst hatte Befürchtungen, nach einem Schlag sofort den Konter zu erwischen, und ging deshalb nach einer Kombination sofort rückwärts, was Kraft kostete. Kevin dagegen bemerkte, dass Ben durchaus Kraft in seinen Schlägen hatte, aber etwas Taktik fehlte ihm noch. Natürlich wollte der junge Polizist seinen Freund nicht vorführen, aber anstrengen musste er sich doch, den Ben bewegte sich viel, und seine Schläge kamen schnell und gefährlich.
    Ein wenig wiegte sich Semirs Partner in Sicherheit, weil Kevin nicht sofort nach einem Schlag nachging, und so versuchte er öfters hintereinander zu schlagen. Er erwischte diesmal Kevin sogar ein wenig im Gesicht, spürte aber eine Zehntelsekunde später die klatschende Linke an der rechten Kopfseite. Sein Freund hatte recht, der Schlag verteilte sich über Kopf und Nackenmuskeln und ließen ihn augenblicklich zwei, drei Schritte zurückwanken. Der Kopfschutz schützte vor äusseren Verletzungen und find viel Wucht auf das Gehirn ab, aber die Schlagkraft war doch mehr als bemerkbar. Er lächelte dennoch, und traute sich weiterhin mehr zu, nach und nach merkte er, dass sein Gegenüber Probleme mit der Kondition bekam. "Du solltest weniger rauchen.", witzelte der Wuschelkopf, seinem schneller atmenden Gegenüber zu, bevor er endlich auch einen wirksamen Schlag setzten konnte und Kevin sogar noch einen gekonnten Leberhaken verpassen konnte. Der japste ein wenig, ging zurück und ließ Ben kommen, der nachsetzen wollte und prompt in einem geübten Konter hinein lief. Einmal links, und einmal frontal schlug Kevins Handschuh in Bens Gesicht ein, der sofort merkte, dass es fatal war, wenn man einen erfahreneren Boxer unterschätzte. Doch er stand sicher und ging wieder etwas nach vorne. Die meiste Zeit aber schlugen sie sich auf die Deckung, und nach einer halben Stunde mit kleinen Pausen zogen sie sich den Schutz vom Kopf und schlugen die Handschuhe gegeneinander. "Nicht schlecht, mein Freund.", nickte Kevin anerkennend und pumpend. "Danke...", nahm Ben das Lob gerne an, pustete auch erstmal durch.

    Nachdem sie geduscht hatten und sich wieder angezogen hatten, saßen die beiden Männer nun endlich auf ihr wohlverdientes Bier am Tresen des Boxclubs. "Was denkst du über Morgen? Glaubst du, dass die Überwachungsaktion Erfolg verspricht?", fragte Ben seinen Nebenmann, der mit den Schultern zuckte. "Keine Ahnung. Wir haben verdammt wenig Anhaltspunkte." Für kurze Zeit schwiegen die beiden Männer und beobachteten zwei Kerle im Ring, die vom Umfang und von der Schlagkraft ungefähr das doppelte in die Waagschale warfen, als die zwei Polizisten. "Du machst das übrigens echt gut.", meinte Kevin zu seinem Freund, der überrascht aufblickte. "Was meinst du?" "Na, die Führungsrolle. Ohne Semir, meine ich.", sagte er zwinkernd und brachte Ben zum Lächeln. Er nahm das Lob gerne an, auch wenn Kevin noch jünger und etwas unerfahrener war als Ben... aber den Rückstand holte er dadurch auf, dass er lange bei der Mordkommission war, und solche Fälle eher kannte als der Autobahnpolizist, der vorher beim LKA war. "Aber ganz ehrlich, manchmal fühle ich mich noch etwas hilflos. Semir hat manchmal Einfälle, da würde ich nie draufkommen. Vielleicht hätte er jetzt auch einen, der uns helfen würde." Kevin schüttelte nur den Kopf und prostete seinem Freund zu. "Denk nicht darüber nach. Hört sich kitschig an, aber vertrau auf das, was du tust. Und dann finden wir zusammen einen Weg, diesem Killer das Handwerk zu legen." Die Gläser klirrten gegeneinander, und Ben fühlte sich pudelwohl. Er spürte, dass er mit Kevin enger zusammengerückt war an diesem heutigen Tag, und verspürte Stolz darüber, ein wenig zu diesem schweigsamen geheimnisvollen Mann vordringen zu können.

    Autobahn - 17:00 Uhr

    Nach der Besprechung war Kevin ungewöhnlich still. Jemand, der viel redet war er ohnehin nicht, aber sein permanentes Schweigen, seine kurz gehaltenen Antworten und keinerlei Lust auf irgendein Gespräch bemerkte Ben deutlich, als sie auf ihrer letzten Streife des Tages waren. Vor allem, weil er in den letzten Tagen doch deutlich aufgetaut war, mehr redete als sonst und auch immer mal einen flapsigen Witz machte. Doch nun ging dem Polizisten die Schweigsamkeit seines Partners auf den Keks. "Na was ist? Bist du sauer, weil die Chefin deinen Vorschlag nicht angenommen hat?", fragte er, und sah immer mal zu seinem Partner rüber, der auf dem Beifahrersitz saß, ein Bein angewinkelt hatte und mit der rechten Hand am Haltegriff über der Tür rumspielte. "Quatsch.", entgegnete er schmallippig, auch wenn er feststellte dass ihm das permanente Misstrauen von Anna Engelhardt ihm gegenüber zusetzte. Kevin brauchte Vertrauen, sonst würde er nicht funktionieren. Vertrauen bekam er in der Ausbildung kaum, bei der Mordkommission und seinem ehemaligen Kollegen Erwin Poltz überhaupt nicht. Jetzt spürte er immerhin den Rückhalt von Ben, was ihm sehr half. "Was dann?" Ach, es war zum Verzweifeln mit Kevin. Er baute sich eine Mauer aus Schweigen um seine Seele, die niemand zu Gesicht bekommen sollte, und es war so schwer durch zu dringen. "Es ist wegen Jessy.", sagte Ben, und es war keine Frage, sondern eine Aussage, und er vernahm ein leichtes stummes Nicken aus Kevins Richtung. Aha, die Tür öffnete sich etwas, ein wenig ließ Kevin ihn wieder nach innen dringen. "Sie hat heute geredet.", sagte der junge Polizist, ohne seinen Freund anzuschauen. "Na, das ist doch gut... oder?" Ben war sich nicht sicher, er wusste freilich nicht was Jessy Kevin so alles gesagt hat. Hatte sie ihm klipp und klar gesagt, dass sie auf seine Besuche verzichten kann? Bat sie ihn, öfters zu kommen? Aus Kevins Blick konnte Ben die Antwort nur schwer ablesen. "Was hat sie gesagt?", hakte er nach, ohne alzu neugierig zu wirken. Der Kommissar auf dem Beifahrersitz antwortete zögerlich. "Dass... dass sie es schön findet, dass ich bei ihr bin." Ben fand, dass seine Stimmlage, wie ihr den Satz von Jessy wiedergab nicht zu dem Satz selbst passte... denn eigentlich war der ja positiv gemeint.

    Die Autobahn zog sich wie ein langer Schlauch, wie ein Teppich ausgerollt vor den beiden. Es war Berufsverkehr, die Menschen in den Autos, die vor ihnen fuhren und hinter ihnen fuhren hatten Feierabend und flüchteten in den selbigen. "Und warum bist du dann so mies drauf? Das ist doch ganz okay?", meinte Ben erneut, ohne die Augen von der Straße zu richten. Kevin sah nun ebenfalls geradeaus durch die Windschutzscheibe und zuckte mit den Schultern. "Sie machte aber nicht den Eindruck, dass sie froh sei." "Darüber dass du kommst?" "Nein", antwortete der junge Polizist "generell. Ihr ging es einfach nicht gut, das habe ich gespürt." Ben schwieg und nickte. Natürlich ging es einem im Knast nicht gut. Du bist eingesperrt, du bist abgeschieden von deinen Freunden und Familien. Jessy hatte keinerlei Kontakt zu ihrem Bruder, was ihr vielleicht sehr helfen würde. Etwas anderes lag dem Polizisten aber noch auf der Zunge. "Hast... hast du dich in sie... also...", begann er ein wenig stotternd und wurde sogleich von seinem Freund abgewürgt. "Nein!", sagte er bestimmt, als würde er keinen Widerspruch dulden... sein zweites "Nein", war allerdings schon ruhiger und weniger überzeugend. "Sowas ist es nicht. Das ist... das ist etwas anderes zwischen uns. Aber ich kann nicht erklären was." Wieder ein kurzer Seitenblick von Ben auf Kevin. Was für ein komischer Kerl...
    "Ich...", begann Ben langsam und tätschelte Kevins Oberschenkel kurz freundschaftlich. "...kenne jemanden in der JVA. Vielleicht kriegt der es hin, dass Jessy ihren Bruder mal für 5 Minuten sprechen kann. Das wird ihr bestimmt gut tun. Der schuldet mir noch einen Gefallen." Kevin sah Ben nun direkt an, ein etwas ungläubiger, zugleich aber auch erleichternder Blick. "Das würdest du tun?", fragte er nochmal, als hätte er sich gerade verhört, doch Ben nickte sofort. "Na klar.", meinte er und zwinkerte. "Danke, Ben.", seufzte der junge Polizist, und es konnt ehrlicher nicht klingen. "Ich ruf ihn morgen früh gleich vor unserem Einsatz an.", sagte Ben, als das Funkgerät knisterte.

    "Zentrale für Cobra 11, bitte kommen.", meldete sich Jennys Stimme durch das Funkgerät, und auf Kevins Lippen zauberte sich sofort ein kurzes Lächeln, was auch Ben nicht verborgen blieb. "Cobra 11 hört." "Die Fahnder haben einen möglichen Wagen des Attentäters gefunden, und zwar nach der Beschreibung von heute Morgen. Ein himmelblauer Mercedes A-Klasse. Der Wagen wurde von einer Streife vor einem Waldstück entdeckt. Hartmut ist mit seinen Jungs schon auf dem Weg. Ich geb euch die Koordinaten durch." Kevin tippte die Koordinaten in sein Handy, bedankte sich bei Jenny und lotste seinen Partner dann von der Autobahn, ein Stück über die Landstraße und Richtung Wald. Zwischen zwei kleineren Dörfer mussten sie auf einen Forstwirtschaftsweg abbiegen, der zum Feldweg wurde und das Auto hin und her wanken ließ. "Frisch gewaschen...", grummelte Ben, als die ersten Dreckspritzer bis an die Seitenscheibe flogen. "Tja... wer fährt wie ne Sau, dessen Auto sieht auch so aus.", meinte Kevin trocken, als Ben ein Schlagloch mit ordentlich Geschwindigkeit mitnahm. Nach einer Kurve konnten die beiden Polizisten bereits das Auto sehen, von der KTU war noch keine Spur. Ben stoppte den Mercedes, beide Kommissare zogen sich Einmalhandschuhe an, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Zwei Kollegen der Zielfahndung standen bei dem Wagen und wurden begrüßt. "Wart ihr schon dran?", fragte Ben unnötigerweise, denn die Fahnder waren Profis, und wussten dass sie von derlei Autos die Finger zu lassen hatten. Ein selbstverständliches Kopfschütteln war die Antwort. Mit dem Handschuhen griff Kevin nach dem Beifahrergriff und zog. Die Tür gab sofort nach, das Auto war nicht abgeschlossen. Während Ben zum Kofferraum ging, ließ Kevin sich in den Wagen hineingleiten. "Kein Schlüssel.", rief er nach hinten, und bekam ein "Kofferraum ist leer" zur Antwort. Kevin schaute genau auf das Zündschloß und konnte einige Kratzer feststellen. Offenbar wurde das Auto mit einem Werkzeug gestartet. Der junge Kommissar ließ das Handschuhfach aufklappen, wo allerdings nur ein Stadtplaner, eine Sonnenbrille und ein Erste-Hilfe-Buch zum Vorschein kamen.

    Ben kam um das Auto herum zu Kevin und schaute nach, ob er was interessantes gefunden hatte, was Kevin aber sofort per Kopfschütteln verneinte. "Lass uns eine Halteranfrage machen, und die KTU soll den Wagen durchchecken. Irgendeine Spur muss der Kerl ja hinterlassen haben.", sagte Ben als sein Partner wieder aus dem Auto ausstieg und eher pessimistisch wirkte. "Nicht, wenn es ein Profi war. Auto geklaut, Mord verübt, stehengelassen. Wenn er jedes Mal ein anderes Auto benutzt, dann können wir uns echt gratulieren." Beide Männer setzten sich auf die lange Motorhaube des BMWs. Während sie auf die Kollegen der KTU warteten, zündete Kevin sich eine Zigarette an.

    Playa del Inglés - 16:30 Uhr

    Semir und André verabschiedeten sich per Handschlag in der Eingangshalle des Hotels. Der großgewachsene Animateur musste nochmal ein wenig arbeiten, und Semir bedankte sich bei ihm für den tollen Ausflug... auch wenn er für den Polizisten nicht die erhoffte Erleichterung seines Gewissens gebracht hatte. Aber er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, André in diesem Augenblick mit den schlimmen Fotos zu konfrontieren und er musste feststellen, als er durch den Garten in Richtung seines Hotelzimmers ging, dass sich die Situation nochmal verkompliziert hatte. André hatte hier eine Frau gefunden, war gerade dabei sein Leben nach 14 Jahren Chaos endlich in geordnete Bahnen zu lenken. Was wäre Semir für ein Freund, wenn er ihm das nun kaputtmachen würde. Jedoch... was wäre Semir für ein Polizist, wenn er einen Mord, einen eiskalten Mord einfach vertuschen würde. Seine Gefühle fuhren Achterbahn, und es schien als wäre der Weg zu seinem Zimmer unendlich lang. Er sperrte die Tür mit seiner Chipkarte auf, und erblickte seine Frau Andrea, die gerade dabei war, die feuchten Pool-Handtücher auf den Balkon aufzuhängen. "Ah, da bist du ja wieder.", sagte sie lächelnd und erkannte sofort das gequälte Lächeln ihres Mannes. "Ja... wo sind die Kinder?" "Die sind im Miniclub, Tischtennis spielen. Ich war bis eben dabei, die Betreuerinnen sind erstklassig, die können wir ruhig alleine lassen. Wie wars?" Semir fühlte sich unendlich müde, als er sich auf das Bett setzte und die Hände faltete, und erstmal nicht antworten wollte. Andrea spürte instinktiv, dass etwas nicht in Ordnung war, und setzte sich direkt neben ihm, legte den Arm um seine breite Schultern. "Hast du ihm die Fotos gezeigt?", fragte sie vorsichtig und vermutete, dass seine Reaktion darauf hindeutete, dass André nicht besonders gut darauf reagiert hatte. Doch Semir schüttelte sofort den Kopf und hauchte nur ein "Nein."

    Andreas Finger streichelten über Semirs Nacken, zärtlich und vertraut. Der Polizist genoß in diesem Moment diese Sicherheit, die er bei Andrea hatte, den Halt den sie ihm gerade gab. Er wusste nicht was er tun sollte, was er denken sollte, wie er reagieren sollte. "Wir... wir waren im Landesinneren... er.", sagte Semir stockend und er spürte, wie ihm Tränen der Verzweiflung in die Augen stiegen, was seine Frau nun doch überraschte. "Er hat eine Freundin... er ist so glücklich hier auf der Insel.", meinte der Polizist und seine Frau konnte deutlich dessen Verzweiflung heraus hören, und dass er seine Gefühle offenbar vom Zeitpunkt dieser Erkenntnis bis jetzt unterdrückt hatte.
    Er drehte seinen Kopf zu seiner Frau und sank in ihrem Schoß zusammen, sie schlang die Arme um ihren Mann, der nun von seiner Verzweiflung und seinem unglaublichen Zwiespalt übermannt wurde, und weinte. "Ich kann ihm doch nicht alles kaputtmachen, Andrea. Er ist doch mein Freund... er hat mir das Leben gerettet.", weinte er verzweifelt und Andrea strich ihm sanft über den Rücken, gab ihm Halt, wusste aber für den Moment auch keine Antwort. Auf der einen Seite freute sie sich natürlich für André, der hier offenbar sein absolutes Glück gefunden hat, aber sie wusste natürlich auch was das für Semir bedeutete, und wie groß der Graben des Zwiespalts nun war... beinahe unüberwindbar. Wenn Semir seinem polizeilichen Gewissen folgte, würde André für mindestens 15 Jahre ins Gefängnis gehen... ganz davon abgesehen, dass Felicita offenbar nichts von der dunklen Vergangenheit des Ex-Polizisten wusste und sicher nicht auf einen Mörder wartete. Andrés komplettes Glück, dass er sich hier aufgebaut hatte, würde mit einem Schlag zerstört. Und dass er jetzt hier in Spanien einem geregelten Beruf nachging zeigte auch, dass er das kriminelle Leben nicht wirklich genossen hatte, das es eher Zwang war und er im Herzen doch auf der richtigen Seite stand. "Ich kann ihm das nicht antun.", schluchzte Semir und richtete sich langsam wieder auf, wischte sich die Tränen weg. Er wusste aber auch, dass das Wissen um Andrés Mord ewig zwischen ihnen stehen würde... bei jedem Telefonat, bei jedem Treffen, bei jeder SMS.

    Langsam beruhigte sich Semir. Ihm ging es nun besser, er hatte die Gefühle die ganze Rückfahrt über unterdrückt und fühlte sich nun irgendwie erleichtert. Er ging ins Badezimmer und schlug sich mit zwei Händen Wasser ins Gesicht, und sah sich im Spiegel an. Wie würde André in seiner Situation reagieren. Wie würde Ben reagieren? Ben hätte André noch am Flughafen zumindest zur Rede gestellt, aber Ben war auch emotional nicht so sehr an André gebunden wie dessen ehemaliger Partner. Er atmete tief durch, stützte die Hände auf das Waschbecken ab, bevor er zu Andrea zurückkehrte. Sie schaute ihren Mann an, saß auf dem Bett und hatte die Hände auf den Beinen. "Semir, ich würde dir gerne helfen. Aber ich kann dir diese Entscheidung nicht abnehmen. Ich höre dir zu, wenn du es brauchst... aber ich kann dir nicht sagen "Tu es" oder "Tu es nicht."." Sie sagte es ehrlich und geradeaus, sie mochte André, sie hatte auch eine gewisse Beziehung zu ihrem ehemaligen Arbeitskollegen... aber nicht so eng wie Semir. Schon gar nicht nach dem Wiedersehen, als der ehemalige Polizist wie von den Toten auferstanden war. Semir stand im Türrahmen zum Flur und kam nun auf seine Frau zu, fasste sie an der Hand und zog sie sanft vom Bett herauf. Sie umarmten sich fest und innig, und Semir hauchte der Sekräterin ein "Ich liebe dich" ins Ohr. Ihm wurde mal wieder klar, wie unglaublich wichtig seine Frau in seinem Leben war, und was für ein Glück er doch hatte. Sie wusste, dass es besser für Semir war, wenn er während des Urlaubs irgendetwas tat um das Gewissen um die Bilder zu erleichtern, aber sie sagte es nicht. In ihren Augen wäre es aber fatal, wenn er zurückflog mit den Bildern im Gepäck, und der Last auf den Schultern.
    Das gleiche Gefühl hatte Semir auch. Es musste raus, es musste einfach. Er müsste André klarmachen, dass er ihm nichts kaputtmachen will, dass er ihm nichts Böses will. Doch wie würde André reagieren? Davor hatte der Polizist unglaubliche Angst...

    Dienststelle - 15:15 Uhr

    Kevin war eine Stunde ziellos von der JVA durch die Stadt gelaufen, bevor er endgültig ein Taxi rief, dass ihn zur Dienststelle brachte. Den Dienstwagen hatte ja Jenny genommen. Ben wartete bereits ungeduldig, sah mehrmals zur Uhr, wollte er doch Hottes Idee seinem Partner mitteilen, um dessen Meinung zu hören. Ausserdem wurde die Chefin bereits ungeduldig, die für 15 Uhr eigentlich eine Lagebesprechung angesetzt hatte, um sich über den aktuellen Sachstand zu informieren, und nun tauchte der Polizist, von dem sie sowieso nicht unbedingt begeistert war, einfach nicht auf.
    Kevin kannte den Taxifahrer, der ihn zur Dienststelle fuhr, so konnte er im Taxi eine Zigarertte am offenen Fenster rauchen und die gerade wegschnippen, bevor er in die Dienststelle schritt. Seine Stimmung war zerüttet, auf der einen Seite froh und erleichtert, dass Jessy endlich mit ihm gesprochen hatte, auf der anderen Seite bedrückt, den der Eindruck, den er von Jessy hatte, psychisch gesehen, machte ihm Sorgen. Doch nun versuchte er sich wieder mit Arbeit abzulenken, als er das Großraumbüro betrat, Jenny lächelnd zunickte und in das Büro der beiden Autobahnpolizisten ging. Ben sah ihn vorwurfsvoll an: "Die Chefin kocht...", brummte er unheildrohend, während Kevin sich auf den Drehstuhl fallen ließ. "Super. Und wann essen wir?", fragte der unbeeindruckt, als würde er das Wort "Kochen" absichtlich falsch interpretieren. Dass die Chefin ihm allerdings auf Abstand gefolgt war, nachdem sie ihn ins Großraumbüro hineinkommen sah, und jetzt in der Glastür stand, hatte er und Ben nicht bemerkt. "Ich bin mir sicher, wenn ihre Ermittlungen so schnell sind, wie ihre Sprüche, dürften wir demnächst was zu feiern haben.", meinte sie katzenfreundlich, was bei Anna Engelhardt brandgefährlich war. Ben wusste das zur Genüge und zog den Kopf unwillkürlich ein wenig hinterm Monitor ein, während sein Partner halb lächelnd, halb entschuldigend zur Chefin blickte. "Verstecken sie sich nicht, Herr Jäger.", brummte die Chefin. "Könnten wir nun endlich die Besprechung abhalten? Ich würde heute gerne ausnahmsweise pünktlich in den Feierabend.", meinte sie und wendete sich wieder aus dem Büro ab, um etwas zu schreiben holen zu gehen. Ben schüttelte derweil mit dem Kopf, während er seinen Partner ansah: "Du schaffst es aber auch immer wieder."

    Beide Polizisten gingen nun ebenfalls nach draussen. Während Ben sich an die Flipcharttafel stellte, setzte Kevin sich auf die Fensterbank, genau hinter Jenny... rein zufällig. Die Chefin besetzte einen freien Drehstuhl eines Kollegen, der gerade auf Streife war, und auch Bonrath und Herzberger stellten das Berichte schreiben für einen Moment ein, als Ben sich räusperte. "Also, der aktuelle Stand ist folgender. Hier...", er ging an die Verkehrskarte des Bezirks der Autobahnpolizei und kreiste zwei Rastplätze ein... "fanden die Anschläge statt. Dann haben wir bisher zwei Fahrzeugbeschreibung." Er schaute auf seinen kleinen Zettel, den er sich gekritzelt hatte und zog ob der ersten Beschreibung die Augenbrauen nach oben. "Eine... ähm... sehr wage. Da gabs erwartungsgemäß keinen Fahndungserfolg. Bei der zweiten läuft die Fahndung noch. Die Beschreibungen unterscheiden sich aber, man kann also davon ausgehen dass er verschiedene Fahrzeuge nutzt, eventuell nicht seine eigenen." Dann kritzelte er "verschiedene Fahrzeuge" an die Flipchartwand und schaute nochmal auf seinen Zettel. "Die Opfer sind die Herr und Frau Bauer von Bauer Electronics, deren Firma einen neuartigen Chip entwickelt hat. Mögliches Motiv diesen Chip auch zu kriminellen Zwecken zu missbrauchen führten zum stellvertretenden Geschäftsführer Philipp Heinrich." Der Polizist schreib die Namen an die Wand, umkreiste sie und stellte die jeweilige Beziehung mit Pfeilen dar. Kevin lehnte mit verschränkten Beinen am Fenster und sah nicht unbedingt gelangweilt aus, aber auch nicht so, als wäre er voll bei der Sache. Jenny, Bonrath und Herzberger hörten aufmerksam zu, die Chefin machte sich Notizen. "Beim zweiten Anschlag haben wir die beiden Opfer Uth und Ritter. Ritter hat mit Bauer Electronics keinerlei Verbindung, Uth wenn überhaupt als Kunde." Wieder kurzes Gekritzel. "Die Kugeln stammten laut KTU aus der gleichen Waffe, was auf den gleichen Täter und nicht auf einen Trittbrettfahrer hindeutet. Das Motiv bleibt aber nach dem zweiten Anschlag noch unklar." Nun hakte sich die Chefin ein. "Wie groß schätzen sie die Möglichkeit, dass dieser Täter wahllos auf Menschen schießt?" Ben blickte zu Kevin und wartete ab, ob er etwas dazu sagen wollte, schließlich hatte er von der Mordkommission noch öfters mit Mördern zu tun als Ben selbst. Doch sein junger Partner schwieg erstmal, also antwortete Ben: "Wenn es keine versteckte Verbindung zwischen Bauer und den beiden heutigen Mordopfern gibt, dann schätze ich die Wahrscheinlichkeit doch recht hoch ein. Und dann...", er pausierte kurz und schaute in die Runde. "Dann hätten wir ein Problem."

    Für kurze Zeit war Stille in der Dienststelle, nur der Funk im Funkraum knisterte bis hierher. "Welche Ansatzpunkte haben wir?", fragte die Chefin nun. "Herzberger ist hat vorgeschlagen die beiden Rastplätze vor und hinter den beiden Tatorten ab morgen früh zu überwachen. Für alle Rastplätze entlang der Autobahn haben wir nicht genug Leute, und die Möglichkeit, dass er die Reihenfolge fortsetzt ist eventuell höher, als wenn wir jetzt wahllos zwei drei Rastplätze aussuchen. Ausserdem hoffen wir momentan noch auf die Fahndung.", erklärte Ben und drückte den Deckel auf den Filzstift der Flipchart-Wand. Die Chefin seufzte auf und meinte: "Also ist es momentan eher ein Hoffen, als ein Ermitteln.", sagte sie. Der Polizist biss sich etwas auf die Lippe: "Ja, so ist es. Wir können keine Beweise oder Hinweise erfinden." "Das wäre auch etwas zu viel verlangt, Herr Jäger.", meinte Anna Engelhard scherzhaft mit einem Grinsen. "Was sollen wir an die Presse herausgeben? Das Telefon steht seit dem zweiten Anschlag nicht mehr still.", meinte Bonrath stöhnend. "Nachrichtensperre.", befahl die Chefin sofort und einsilbig. "Wir können der Presse nicht sagen, dass wir im Dunkeln stochern." Ben bemerkte, wie Kevin jetzt anscheinend aufmerksamer zuhörte, und sich dann auch von der Fensterbank erhob. Er ging zu Ben an die Flipchartwand und meinte: "Vielleicht will er das auch. Vielleicht will er ein Spiel mit uns spielen.", sagte er und schaute nacheinander die Chefin und seine Kollegen an. "Er will dass wir auf ihn reagieren. Wir müssen abstrakt denken, denn logisch gibt es keinen Grund dafür, dass man wahllos Leute umbringt." Ben konnte den Gedankengängen nicht ganz folgen, doch Frau Engelhardt kam ihm mit der Frage zuvor: "Was meinen sie genau?" "Ich glaube, dass er weitermacht, bis er von uns Statements bekommt. Dass wir an ihm dran sind, dass wir nach ihm suchen. So lange wir stummen bleiben, könnte ihn das motivieren weiterzumachen." Für kurze Zeit schien Anna Engelhardt nachzudenken, sie legte den Finger auf die Lippen in ihrer typischen Pose, bevor sie den Kopf schüttelte. "Nein. Wir können nicht falsche Informationen an die Presse geben, wenn wir überhaupt keine Infos haben. Bonrath, bis auf weiteres: Nachrichtensperre." Bonrath nickte, während Kevin ein wenig kalt lächelte. Er spürte das Misstrauen seiner Kurzzeit-Chefin deutlich, und auch sein Partner schien von den Gedanken des jungen Polizisten nicht unbedingt überzeugt zu sein, als die Vorgesetzte von Kevin und Ben die Besprechung auflöste.

    15:00 Uhr - Gran Canaria

    Semir und André saßen noch eine Stunde zusammen auf der Terasse im Landesinneren, tranken Kaffee und redeten. Über Vergangenes und Zukünftiges. "Hast du etwas davon gehört, wie die Kollegen von der Organisierten Kriminalität vorgegangen sind und erfolgreich waren? Wegen Horns Männer?", fragte André während er in seiner Kaffeetasse rührte und er im Hintergrund Felicita in der Küche rumoren hörte. Semir wischte sich über die Stirn, es war ihm unangenehm heiß, obwohl die Luft hier oben auf der Insel des ewigen Frühlings sehr angenehm war. "Ähm... nein. Du weißt ja, wie die vom BKA sind. Aber ich kann sofort, wenn ich zu Hause bin mal nachhören und dich informieren.", sagte er schnell. Sein Freund sah Semir ein wenig seitlich an und wunderte sich, zeigte seine Gefühle aber nicht. Er war überrascht, denn er kannte Semir eigentlich so, dass dieser darauf brannte zu erfahren, was in diesem Fall nun weiter passieren würde, vor allem wenn man persönlich so sehr darin verwickelt war, wie die beiden Freunde es damals im Winter waren. Und Semir spürte ein wenig die Verwunderung seines Kollegen, und er konnte es verstehen. Er wusste auch ein wenig was, dass einige Hintermänner und direkte Komplizen verhaftet wurden, einige aber noch auf freiem Fuß waren. Er wollte auf der einen Seite André keine Sorgen bereiten, auf der anderen Seite aber auch wenig über das Thema reden. Mein Gott, André fragte so unbedarft und locker, als würde es ihn neben bei interessieren und wusste keinesfalls dass Semir seine wahre Intention kannte... denn wenn der Mann, der die belastenden Fotos geschossen hatte oder an der Hinrichtung des Mannes beteiligt war, verhaftet werden würde, könnte Andrés Tat auch ohne Semir auffliegen. Der kleine Kommissar rutschte auf seinem Stuhl ein wenig hin und her, als hätte er Bienen im Hintern.

    Er war dankbar, dass André von sich aus das Thema wechselte: "Wie gehts Kevin? Wie hat er den Fall weggesteckt?", fragte der großgewachsene Karatekämpfer, der zu dem jungen Polizisten ein besonderes Verhältnis hatte. Vor Jahren, als André noch die Karateschule hatte, wo er Jungs von der Straße trainierte, war Kevin sein Schüler. Er half ihm von den Drogen wegzukommen, und erfuhr vor einem halben Jahr von dessen Rückfall. Semir wog den Kopf ein wenig hin und her, und musste kurz über eine Antwort nachdenken. Erstmal war er froh, von dem anderen unangenehmen Thema weggekommen zu sein. "Ich finde, dass man Kevin einfach nicht durchblicken kann. Von einem auf den anderen Moment hab ich das Gefühl, dass da zwei verschiedene Menschen stehen." Er blickte zu seinem Freund rüber, der ihn aufmerksam ansah. Beide wussten von Kevins damaligen Drogenproblemen, aber beide wussten nicht, dass es der jeweils andere wusste. "Er vertritt mich momentan mit Ben, weil er nach dem Fall seinen Job bei der Mordkommission hingeworfen hat. Er hatte ne Auszeit gebraucht." André beobachtete Semir genau, und spürte, dass dieser etwas verheimlichte... und er wusste ja auch genau was. Die beiden waren so gute Freunde, und der ehemalige Polizist wusste genau, dass Semir etwas verschweigen konnte. "Semir, ich weiß Bescheid über Kevin. Ich hab es ihm damals sofort angesehen, dass er noch abhängig war." Semir nickte mit geschlossenem Mund. "Er hat es uns auch erzählt. Aber ich glaube, dass er davon weg ist. Jedenfalls haben wir nichts in seiner Wohnung gefunden." Nun blickte der große Kerl etwas überrascht auf. "Ihr habt seine Wohnung durchsucht?" Sein Freund wehrte sofort ab: "Nein nein. Ich hab dir doch gestern erzählt dass er entführt wurde..." Semir erzählte seinem ehemaligen Partner von seinem letzten Fall, dass Kevin sich nicht meldete und Ben mit Semir zusammen die Wohnung ihres jungen Kollegens öffneten, weil sie sich Sorgen um ihn machten. "Wir haben nicht die ganze Bude auf den Kopf gestellt, aber wir haben auch auf die Schnelle zumindest nichts gefunden. Wir hatten uns einfach Sorgen um ihn gemacht." Nun nickte André wieder und meinte mit seiner rauhen Stimme: "Kevin ist niemand, der vor etwas davonläuft. Aber ihr müsst manchmal auf ihn aufpassen. Er braucht jemand, dem er blind vertrauen kann. Aber bis er dieses Vertrauen aufbaut, dauert lange." Dem konnte Semir nur zustimmen. Er erzählte davon, wie sich der junge Polizist zwischen ihn und Jessy stellte, unbewaffnet und voll Vertrauen in das Mädchen, dass ihm die Pistole auf die Brust setzte und abdrückte... zu Kevins Glück war keine Munition mehr in der Waffe. "Jessy hatte er recht schnell vertraut.", meinte der Polizist. "Klar. Er hat in ihr wohl eine Möglichkeit gesehen, das nachzuholen, was er bei seiner Schwester verpasst hat." "Ja, so hatte er es auch gesagt." Semir war immer wieder erstaunt, dass André sich offenbar viel besser in Kevin reindenken konnte, als er selbst.

    Nachdem sie nun beide sich recht nachdenklich und still unterhalten hatten, setzte sich Semir wieder ein wenig aufrechter hin, Felicita brachte den beiden Männern noch etwas zu trinken und unterhielt sich kurz mit André auf Spanisch. Semir musste lächeln, als er den klar deutschen Akzent in Andrés sehr passablen Spanisch heraushörte. "Ich glaube, das hier...", dabei machte der kleine Polizist eine Geste über die Terasse und das Haus "... wird dich noch mehr darin bestärken, hier zu bleiben." André nickte nachdenklich. "Wir sind momentan sehr verliebt. Ich genieße das einfach, wie es jetzt momentan ist und mache mir keine Gedanken über die Zukunft. Aber du hast recht, es ist natürlich ein Argument hier zu bleiben." Semir lächelte und freute sich einfach mit seinem ehemaligen Partner. "Ich wüsste ganz ehrlich auch gar nicht, was ich in Deutschland machen würde.", setzte er noch grinsend hinzu. Semir lachte auf: "Och, Herzberger geht doch demnächst in Rente. Dann könntest du mit Bonrath und seinem Porsche Streife fahren." Beide Männer lachten auf, sie lachten als würde das ganze Tal unter ihnen es hören. Sie lachten, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern wie zwei Schulfreunde, die ihr ganzes Leben lang miteinander verbracht hatten. Am Ende des Nachmittags, bevor Semir sich mit einer kurzen Umarmung von Felicitas verabschiedete und die beiden Männer mit ihren Buggys zurück nach Playa del Inglés fuhren, waren die Bilder tief in Semirs Rucksack geblieben...

    JVA - 13:00 Uhr

    Das Gefühl, das Kevin heute im Bauch hatte, war beklemmender als sonst während er auf dem harten Plastikstuhl saß, und die durchsichtige Glasscheibe anstarrte. Wenn er sich konzentrierte, konnte er Umrisse und Konturen seines Spiegelbildes erkennen. Er wartete darauf, dass ein Wachmann Jessy hereinbrachte, die er jeden Tag für einige Minuten, manchmal eine Viertelstunde besuchte, die aber bis jetzt kein Wort mehr mit ihm gesprochen hatte. Sie schwiegen sich an, als würden sie sich per Gedankenübertragung unterhalten.
    Doch das Gefühl war heute anders, denn Kevin war kurz davor den Besuch heute zu übergehen. Er war etwas überrascht von Jennys Einladung zum Mittagessen, und spontan aus dem Bauch hätte der junge Polizist sehr gerne "Ja" gesagt. Doch er spürte immer noch eine Art Verantwortung für das junge Mädchen, das im Gefängnis keinerlei Kontakt zu ihrem Bruder haben durfte und völlig allein war. Er blickte auf, als die Tür im gegenüberliegenden Raum aufging und ein Wärter mit dem jungen Mädchen eintrat. Ihre Augen wirkten noch müder, als am Vortag, und Kevin meinte, dass er eine leicht rötliche Schwellung an ihrer Wange erkennen konnte. Jessy setzte sich auf den Stuhl, und das Spielchen begann wieder. Ein kurzes Lächeln, Schweigen. Aber heute war etwas anders, das spürte der Polizist. Jessy strahlte eine unheimliche Traurigkeit aus, eine Schwere die bis zu dem sensiblen Mann auf die andere Seite der Scheibe herangetragen wurde. Ihr Lächeln war zaghaft, beinahe erzwungen. Sie fühlte sich nicht wohl, sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, als wolle sie sich vor irgendjemandem schützen, als wolle sie sich verstecken, verkriechen.

    Kevin fühlte sich hilflos. Er spürte ihre Stimmung, doch konnte er nichts tun... ihr nicht die Hand auf die Schulter legen, sie nicht umarmen. Die Zeit zerinn ihm wieder zwischen den Fingern, als sein Herz einen Hüpfer machte. Jessy bewegte sich... sie löste in Zeitlupentempo den linken Arm aus ihrer Umklammerung. Ihr Lächeln war immer noch von Traurigkeit erfüllt, als ihre Hand sich langsam auf der kalten Scheibe platzierte, der andere Arm blieb um ihren Oberkörper geschlungen. Es war ein neues Zeichen der Annäherung, ein neues Zeichen der Kommunikation zwischen ihr und dem jungen Mann, der sich nun ebenfalls, zuerst sehr unsicher nach vorne beugte, und seine größere Hand auf exakt die gleiche Stelle auf der anderen Seite der Scheibe legte. Ohne sich zu berühren fühlten die beiden jedoch diese unheimliche Verbindung, diese gleiche Geschichte, gleichen Gefühle, die sie verbanden. Kevin hatte seine Schwester verloren, Jessy ihren Bruder. Kevin hatte den Ausstieg aus der Kriminalität gerade so geschafft... Jessy nicht. Oder vielleicht doch? Nach dem Gefängnisaufenthalt? Konnte sowas funktionieren, war sie stark genug? Mit ihm war sie es ganz sicher, dachte der Polizist für einen Moment, als sie in ihrer Stellung kurz verharrten.

    Wie in Zeitlupe rutschte Jessys Hand langsam von der Scheibe zu dem grauen Hörer auf dem Pult. Ihre kleinen Finger schlossen sich um den Kunststoff und der Polizist spürte wie sein Herz schneller schlug. Auch er griff, deutlich schneller als Jessy, die sich jeden Centimeter ihrer Handbewegung überlegen zu schien, den Hörer und hielt ihn ans Ohr... doch er überließ dem Mädchen den ersten Satz. Für eine Minute schwiegen sie sich durch den Hörer an, doch Kevins Augen ermutigten Jessy dazu, etwas zu sagen... zu sagen was sie fühlte, zu sagen was sie Kevin jetzt in diesem Moment sagen wollte. Und er hörte ihre piepsige Stimme, die nichts mehr mit der fröhlichen, beinahe unbeschwerten Stimme der Jessy zu tun hatte, die er in der Hütte kennengelernt hatte. Die Stimme war ängstlich, tonlos, wie von einer gebrochenen Seele die noch lebte, weil sie leben musste. Er erschrak regelrecht, was er in seinem Gesicht nicht verbergen konnte. "Es ist schön, dass du immer da warst.", sagte sie leise und Kevin lächelte, auch wenn es missriet. "Du kommst hier wieder raus, Jessy.", sagte er ebenfalls mit leister Stimme, aber sie war so anders als die von Jessy. Sie klang selbstbewusst, sie klang wie der Fels in der Brandung, der Kevin für andere immer sein wollte, obwohl er mental längst nicht so stark war, wie er sich gab.
    Er hätte den Wachmann und die Zeit gleichermaßen verfluchen können, als letztere ablief und ersterer Jessy auf die Schulter tippte, um ihr zu signalisieren, dass sie den Hörer auflegen sollte, und aufstehen sollte. Jessy folgte der Geste ohne Widerworte, ihre Augen schimmerten leicht und ihr Lächeln, dass sie Kevin zum Abschied schenkte brannte sich unendlich tief in sein Gedächtnis, in seine Seele. Es dauerte einen Moment, bis er registrierte, dass er noch immer mit dem Hörer am Ohr und der Hand an der Scheibe da sass, obwohl Jessy längst den Raum verlassen hatte.

    Gran Canaria Küstenstraße - 12:15 Uhr

    Semir bekam das Grinsen die ganze Zeit nicht aus dem Gesicht, als er dem Buggy von André über die kurvigen Straßen an Gran Canarias Steilküste folgte. Dem Kommissar machte die Fahrt im wendigen Buggy unglaublich Spaß, hin und wieder überholten sich die beiden Männer an Stellen, wo man den Gegenverkehr beobachten konnte. Auch André grinste unter seiner Sonnenbrille, die er auf hatte und hatte ebenfalls sichtlich Spaß an der Fahrt.
    Sie fuhren an der Küste entlang, dann bogen sie irgendwann rechts ab in Richtung Landesinnere. Weite Berge, viel brauner Sand und hin und wieder einige grüne Büsche. Die urkanarischen Dörfer hatten enge Gassen und weißte Häuser mit roten Ziegeldächern. An einem, etwas abseits stehenden Haus, das schöne Blumen vor den Fenstern hatte, blieb André stehen und machte den Motor aus. Semir stoppte neben ihm und sah seinen Freund ein wenig überrascht an. "Kleine Pause.", raunte dieser und stieg aus seinem Buggy aus, während auch Semir den Motor ausschaltete. Der hatte gerade seine Brille von der Nase genommen, zusammengeklappt und in den Shirtkragen gesteckt, als die Tür des Hauses aufging und eine äusserst hübsche Frau herauskam. Sie war vielleicht Ende 30, hatte ein weißes Sommerkleid an und die schwarzen langen Haare trug sie offen. Man konnte direkt erkennen, dass sie eine Spanierin war, ihre Teint war braungebrannt und dunkel, und ihre Augen funkelten ebenfalls temperamentvoll braun. Sie lächelte und fiel André um den Hals, der sie ebenfalls umarmte, und Semirs Magen zog sich zusammen. Wo zuerst Freude aufkommen wollte darüber, dass André hier neben seiner neuen Arbeit wohl auch privates Glück gefunden hatte, so sehr brachte die Erinnerung an die unheilvollen Fotos Gänsehaut über seinen Körper, und er wusste für einen Moment nicht, ob er weinen oder lachen soll.

    "Na komm schon raus.", forderte André ihn auf, nachdem er sich seine Begrüßung abgeholt hatte, denn Semir schien wohl in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Mühsam schälte er sich aus dem tiefen Sitz des Buggys, setzte ein mühsam natürliches Lächeln auf und kam näher zu den beiden. "Hallo", sagte er nickend zu der Frau, die eine Hand von André festhielt und ebenfalls nickte. "Semir... das ist Felicita.", stellte er stolz vor, und sagte auf Spanisch zu seiner Freundin: "Das ist mein Freund Semir aus Deutschland, von dem ich dir erzählt habe." Semir konnte von dem Spanisch fast nichts verstehen, doch er sah wie sich das Gesicht der Frau weiter aufhellte, als sie Semir die freie Hand hinstreckte und in gebrochenem Deutsch, als hätte sie den Satz auswendig gelernt sagte: "Schön sie kennenlernen." Die süße, etwas schüchtern klingende Stimme, die nicht ganz zu ihrem offenen strahlenden Gesichtsausdruck passte und das gebrochene Deutsch ließen den kleinen Kommissar nun wieder natürlicher lächeln, und er verdrängte die dunklen Wolken abermals nach hinten.
    André und Felicita baten Semir in das kleine Domizil, ein Häuschen typisch spanisch eingerichtet, mit viel Holz, klein und gemütlich. Mit einer Terasse, die einen Blick über das halbe Dorf und einen großen Teil des Barrancos hatte, in der das Dorf lag. Felicita hatte einen kleinen spanischen Snack hergerichtet, über den sich die beiden Männer hermachten, um danach zusammen auf der Terasse zu sitzen und den Ausblick genossen. "Das war mal eine gelungene Überraschung.", meinte Semir mit einem lächelnden Seitenblick auf André, der zustimmte: "Ja, es macht echt Spaß mit den Dingern zu fahren." Sein Freund lachte auf: "Ja, das auch. Aber ich meine das hier." Da bei hob er die Hände und gestikulierte damit sein Haus. André nickte und meinte dann etwas gedankenverloren: "Ja. Das hier ist das i-Tüpfelchen. Ich hätte mir das vor Monaten nicht träumen lassen, als ich in Deutschland war." "Hattest du sie schon auf Mallorca kennengelernt?" André schüttelte den Kopf. "Nein, erst nachdem ich hierher kam. Sie arbeitet auf dem Einwohnermeldeamt, und ich war ziemlich knapp dran damals, als ich meinen Pass fort ausstellen lassen wollte." Semir grinste, Pünktlichkeit war nie Andrés Stärke. "Und da hab ich, spontan wie ich bin, sie eingeladen die Formalitäten doch bei einem Kaffee nach Feierabend zu klären.", sagte der Karatekämpfer breit grinsend, und Semir lachte auf. "Ich hab dir ja erzählt, dass es mir auf Mallorca zu gefährlich war, eine Beziehung zu führen. Aber ich habe mich danach gesehnt. Und jetzt...", sagte er verträumt in den Himmel blickend. Dann sah er zu Semir herüber und sagte einen Satz, der den kleinen Polizisten von einem Gefühlsextrem ins andere stürzen ließ. "Semir, ich glaube ich war noch nie glücklicher als ich es jetzt bin." Wie eine Schiffsschaukel fühlte sich Semir, der von Punkt A zu Punkt B pendelte, der von absoluter Freude über seinen Freund zur absoluter Angst darüber, das zu offenbaren weshalb er überhaupt nach Gran Canaria gekommen war, schaukelte. So war sein Blick beinahe undefinierbar, eine Mischung aus lächelnder Freude, aber quälendem Blick, als der Kommissar zweideutig sagte: "Du glaubst nicht, was das für Gefühle in mir auslöst, André." Der Ex-Bulle nahm diesen Satz natürlich positiv auf, es sind positive Gefühle die es auslöst. Er schloß seine Hand um Semirs Oberarm und lächelte, eine freundschaftliche Geste. Er war sich sicher sein Glück gefunden zu haben, auch wenn er selbst um die Schatten seiner Vergangenheit wusste. Doch er wusste auch um die Umstände und hoffte, dass nach Horns Verhaftung niemals etwas davon mehr an die Oberfläche kam, und niemand sein Glück zerstören würde. Darum würde er kämpfen bis zum Tod...


    Dienststelle - 12:30 Uhr

    Ben stand in seinem Büro und sah häufiger auf die Uhr. Er wartete auf Kevin und Jenny, um die Ergebnisse der Befragung zu erfahren. Er hatte einige Dinge an die Flipchartwand gekritzelt, viele Namen, die der Opfer, Bauer Electronics, Philipp Heinrich. Pfeile zeigten Beziehung zwischen den Opfern, bei den beiden letzten stand auf dem Pfeif der zu Bauer Electronics stand erst ein Fragezeichen, dann wischte Ben den Pfeil von Egon Ritter zu Bauer Electronics wieder weg.
    Er sah auf, als er den BMW von Kevin hörte, er hörte eine Tür zuschlagen, dann brummte der große Motor des Dienstwagens wieder auf und entfernte sich. Ben verzog den Mund und sah auf die Uhr... sein Kollege hielt seine Mittagspause offenbar ein, und er sah dass Jenny alleine ins Büro kam. Der Polizist kam ihr ein Stück entgegen im Großraumbüro und meinte: "Ich hoffe, Kevin geht Currywurst holen und bringt mir was mit." Es klang ironisch, denn der junge Polizist konnte sich beinahe denken, wo sein Kollege jetzt hinfuhr. Jenny schüttelte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern. "Er sagte, er hätte noch was zu erledigen in seiner Pause. Wir sollten aber nicht auf ihn warten." Sie zog ihre dünne Stoffjacke aus, in ihrem Top wirkte sie noch schlanker. "Ich hätte ihn aber schon gerne dabei...", murmelte Ben und lehnte sich gegen die Glaswand, die sein Büro vom Großraumbüro abgrenzte, dabei verschränkte er die Arme. "Es gibt eh nicht viel Neues. Paul Uth scheint keine Verbindung zu Bauer Electronics zu haben. Lebte sehr zurückgezogen im Haus seines Bruders. Der will alle Rechnungen durchforsten, aber wenn du mich fragst...", dabei zuckte sie nochmal mit den Schultern, und sank auf den Stuhl ihres Tisches. Es sagte aus, dass die junge Frau an keine Verbindung glaubte. "Bei uns siehts ähnlich aus, Jenny.", meinte Hotte, der sich gerade eine XL-Pizza einverleibte. Ben seufzte und warf den Filzstift, den er in der Hand hatte theatralisch nach oben weg... "Keine Verdächtigen, keine Spur, gar nichts... müssen wir wirklich warten, bis irgendeiner das genaue Kennzeichen von dem Typ sieht, bei einem Anschlag?", sagte er resignierend.

    Hotte wischte sich mit einer Serviette den Bart ab, stand auf und watschelte zu Ben an das Flipchart und an die Karte. "Die Anschläge passierten auf zwei Rastplätzen, die genau nebeneinander liegen." Dabei kreiste er mit einem roten Stift beide Rastplätze ein. "Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er die Rastplätze in Reihenfolge "abarbeitet."?, fragte er und blickte in die Runde, bestehend aus Dieter, Jenny und Ben, der mit den Schultern zuckte. "Ich weiß nicht. Ich meine, das kann auch Zufall sein, dass er jetzt dort zweimal zuschlug." Hotte legte den Kopf ein wenig schief und lächelte. "Dieter und ich haben da ein Prinzip, nicht wahr Dieter?" Der lächelte und zwinkerte seinem dicken langjährigen Partner zu. "Das Zufallsprinzip.", sagte er dann, als würde er die Weltneuheit verkünden. Ben blickte einigermaßen irritiert und ratlos zwischen den beiden erfahrensten Beamten der Dienststelle hin und her. "Bevor wir die Wahrscheinlichkeit steigern, und abwarten bis er morgen an dem dritten Rastplatz auf der Strecke zuschlägt, versuchen wir einfach unser Glück und schicken ein paar Beamte hin. An den Rastplatz hinter dem zweiten, und dem Rastplatz vor den ersten." Ben verstand nun, was Hotte meinte und nickte zustimmend. "Es bleibt uns nichts anderes übrig... besser als Däumchen zu drehen.", murmelte er. Und Jenny meinte vielsagend: "Dann hoffen wir mal auf den... Zufall."

    Mehrfamilienhaus Uth - gleiche Zeit

    Jenny und Kevin hatten sich im Auto die ganze Zeit unterhalten, so dass beiden die Fahrt zum Mehrfamilienhaus, in dem das zweite Mordopfer Paul Uth gemeldet war, sehr kurz vorkam. Jenny erzählte, warum sie sich entschieden hatte, zur Polizei zu gehen, und dass sie froh war jetzt langsam den Schritt vom Streifendienst zur Kripo zu wagen. Kevin war sehr interessiert, hörte zu, erzählte von sich allerdings eher wenig... nur dass er mit 4 Jahren von Hamburg nach Köln gezogen war. Die junge Frau auf dem Beifahrersitz fragte ihn auch nicht besonders viel, weil sie Angst hatte in Bereiche vorzustoßen, die vielleicht sensibel waren. Von Hotte kannte sie ja einiges von der Vorgeschichte des Mannes, der neben ihr saß, und trotzdem war sie unheimlich neugierig. Doch sie hielt sich zurück, und hoffte inständig dass der Polizist dies nicht als Desinteresse ihrerseits deutete.

    Die privaten Dinge waren aber vergessen, als die beiden Polizisten auf die Klingel in einem älteren großen Wohnhaus drückten, an dem zwei Klingelschilder angebracht waren. "Paul Uth" und darunter stand "Marvin u. Sandra Uth". "Die Eltern?", fragte Jenny, als der Summton ertönte und Kevin die Tür aufdrückte. "Möglich...", antwortete dieser kurz und knapp. Im Treppenhaus empfing sie zunächst Stille, bis im Erdgeschoss die Wohnungstür aufging. Ein groß gewachsener Mann, ungefähr im gleichen Alter wie der Tote, schaute heraus und erblickte die beiden Kommissare. "Guten Tag, Kripo Autobahn", sagte Kevin, nannte seinen Namen und zeigte seinen Ausweis, während Jenny es ihm gleichtat. "Wir haben leider eine traurige Nachricht für sie. Können wir vielleicht...", doch der junge Polizist wurde von dem Mann mit einem verachtenden Blick bestraft und sofort unterbrochen. "Wir wurden bereits informiert...", raunte der Mann und blieb auf der Türschwelle stehen, während Kevin überrascht aufblickte. "Von wem, wenn ich fragen darf?" "Eine Bekannte von uns war kurz danach am Tatort und hatte den Namen aufgeschnappt." Beide Polizisten tauschten Blicke aus, Jenny schaute ein wenig verwirrt, während es bei Kevin hinter der Stirn bereits arbeitete. "... und wie ich sehe nimmt die Polizei diesen Mord verdammt ernst, wenn sie uns ihre beiden erfahrensten Mitarbeiter schicken.", meinte Marvin Uth, der Bruder des Toten ironisch, als er Jenny und Kevin, die beide noch jünger wirkten als sie waren, betrachtete. "Wir nehmen jeden Mord gleichermaßen ernst, Herr Uth?", meinte Kevin ohne Regung in Gesicht und Stimme, formulierte das Ende des Satzes zur Frage. "Ich bin der Bruder von Paul. Er hat oben gewohnt." "Dürfen wir vielleicht doch kurz reinkommen?", fragte Jenny, ein wenig zaghaft aber lächelnd und schien den Mann doch ein wenig zu erweichen. Ohne seine kalte Miene abzusetzen gab er den Weg frei in die, etwas altmodisch eingerichtete Wohnung. Am Wohnzimmertisch saß eine Frau, die Augen leicht gerötet. Offenbar die Schwägerin des Toten, dachte Jenny, begrüßte sie und entschuldigte sich für die Störung. "Schatz, die beiden Praktikanten dürfen sich am Mord meines Bruders austoben.", fand Marvin zu seiner Ironie zurück und diesmal wurde Kevin deutlicher. "Herr Uth, wenn sie wirklich wollen dass der Mord an ihrem Bruder aufgeklärt wird, würde ich an ihrer Stelle ihre Hirnenergie nicht für Provokationen, sondern für Informationen aufbewahren.", sagte er mit seiner monotonen Stimme, die manchmal provokant wirkte und den ein oder anderen heißblütigen Menschen schnell auf die Palme bringen kann. Für einen Moment herrschte gespannte Stille und Jenny wurde es ein wenig unwohl ohne einen erfahrenen Polizisten wie Hotte oder Bonrath, mit denen sie sonst Streife fuhr.

    Für einen Moment schauten sich Kevin und Marvin an, doch es schien als würde der Bruder des Toten einlenken. "Was wollen sie wissen?", presste er hervor und setzte sich zu seiner Frau auf die Couch. "Hatte ihr Bruder Feinde, von denen sie wussten?" Die eiskalten Gesichtszüge verschwanden langsam, die Augen suchten einen Punkt an der Wand, und es schien als würde der Mann nun ein wenig die Trauer ans Licht kommen. "Paul war doch harmlos. Der hatte sich niemandem zum Feind gemacht.", sagte er und es war eine ganze Menge Schärfe aus seiner Stimme verschwunden. "Paul hat über uns gewohnt. Er war ledig, hatte gearbeitet und den Rest seiner Zeit an seinem Motorrad rumgeschraubt." Ein Eigenbrödler-Leben, dachte Jenny, wollte es aber so abwertend nicht sagen. "Und sein einziger sozialer Punkt waren sie, und die Motorradgruppe?", fragte die junge Kommissarin mit freundlicher Stimme. Der Mann nickte, bevor er der nächsten Frage vorgriff. "Aber bevor sie fragen... ich kenne niemanden aus der Gruppe." "Ist ihnen etwa an Paul aufgefallen? Hat er sich in letzter Zeit verändert, war er nervös, reizsam... irgendwas?", hakte Kevin noch einmal nach, doch ein dumpfes Gefühl beschlich ihn, dass der Bruder des Opfers nicht wirklich Bescheid wusste über das Leben seines Bruders. "Nichts... Paul war Paul, und Paul war wie immer.", beharrte er und seine Stimme wurde wieder deutlicher, er blickte dem Polizisten jetzt auch wieder in die Augen.
    Auch wenn Kevin nicht mit einer positiven Antwort rechnete, fragte er trotzdem: "Kennen sie Bauer Electronics?" Marvin Uht nickte, und sagte: "Vom Namen her ja. Wieso?" "Sie haben doch sicherlich von dem Anschlag auf Herrn Bauer und seine Familie gelesen. Wir prüfen Zusammenhänge. Kann es sein, dass ihr Bruder etwas mit Bauer Electronics zu tun hatte?" Marvin Uth schüttelte irritiert den Kopf. "Das weiß ich nicht. Vielleicht hat er sich mal etwas für sein Motorrad bestellt... aber sonst..." Jenny fühlte die Unwissenheit in den Aussagen des Mannes, und ein wenig die Angst, keine guten Informationen weiterleiten zu können. "Schauen sie mal bitte bei ihrem Bruder, ob sie irgendwas finden... Rechnungen, Unterlagen, Kostenvoranschläge von Bauer. Schicken sie uns das zu." Das Nicken des Mannes zu Kevins Forderung war schon beinahe überraschend, als sich die beiden jungen Beamten verabschiedeten.

    "Puh... der hatte ja sofort eine Ablehnung gegen uns.", sagte Jenny, als sie wieder in Richtung Auto gingen und steckte die Hände in die engen Jeanstaschen. "Sei froh", erwiederte Kevin mit einem Lächeln. "Solange sie dich noch für zu jung, statt für zu alt halten." Sofort zauberte sich auch auf Jennys Lippen ein Lächeln und ihre kurzzeitige Unsicherheit, mit Kevin als Partner an ihrer Seite verschwand wieder. "Wollen wir nicht zusammen was zu Mittag essen gehen?", fragte sie ohne eine Spur Schüchternheit in ihrer Stimme zu haben. Spontan hätte der junge Polizist sofort zugesagt, denn er fühlte sich wohl bei Jenny und hätte sich gerne noch weiter mit ihr unterhalten. "Ein anderes Mal... ich hab heute Mittag schon was vor", antwortete er stattdessen, als er sich hinter das Lenkrad saß und den Motor startete. "Dann musst du es mir morgen aber versprechen.", beharrte die junge Frau scherzhaft darauf und setzte eine gespielt beleidigte Miene auf, dass Kevin auflachen musste. "Okay... morgen ist versprochen." Doch heute hatte er anderes vor...

    Playa del Inglés - 11:30 Uhr

    Semir's Kopf glühte, als er sich im Hotelzimmer umzog. Das kam nicht etwa davon, dass es bereits sehr warm draussen war, sondern von Andrea's Gespräch. Sie hatte die ganze Zeit von André's Geheimnis gewusst, war stumm mitgeflogen und quasi ihren Jahresurlaub aufs Spiel gesetzt, auf den sie sich so lange schon freut, im Wissen dass es vielleicht kein idyllischer Urlaub wird. Semir bewunderte seine Frau, und war ihr im Stillen unglaublich Dankbar für ihren Beistand.
    Jetzt packte er seinen Rucksack zusammen... weiß Gott was André vor hatte. Der Polizist nahm zwei Plastikflaschen Wasser, und stellte sie hinein, dazu etwas Proviant und seine Sonnenbrille. Für einen Moment stand er im Raum und sah auf die Uhr... André wartete sicher schon. Sein Herz pochte, und der kleine Kommissar hörte seinen eigenen Atem im ruhigen Hotelzimmer, durch dessen Fenster von Palmenblättern geschützt nur ein bisschen Sonne einfiel. Langsam, mit schwitzenden Händen durchwühlte er seinen Koffer bis zum untersten Fach, wo er den braumen DIN-A4-Umschlag mit den Bildern herauszog. Er wollte sie sich nicht nochmal ansehen um sich zu vergewissern, dass sie wirklich alle drin sind, sondern er schob sie einfach nur in den Rucksack, den er dann schloß und sich selbst umhängte. Ein kurzes Durchatmen, bevor er das Zimmer verließ...

    André wartete vor dem Hoteleingang, als sein Freund Semir durch die Eingangshalle ging, den Rucksack auf einer Seite tragend, und seinen ehemaligen Partner erblickte. Semirs etwas angespannter Gesichtsausdruck löste sich in einem Grinsen, als er sah was André vorbereitet hatte. "Das ist ja mal klasse.", meinte er mit breitem Mund. "Zu viel versprochen?", fragte André und freute sich, dass die Überraschung gelungen war. Am Straßenrand parkten zwei Strandbuggys, die für die beiden Männer bereitstanden. "Ich dachte, das wäre das richtige Gefährt um ein wenig die Insel zu erkunden, oder?" Semir klopfte seinem Freund auf den Rücken und ging zum hinteren Buggy. "Da hast du verdammt recht gehabt.", sagte er nur und ließ sich voll Vorfreude in das Gefährt hineingleiten. Der dünne Schlüssel steckte und André musste seinem ehemaligen Partner nicht erklären wie diese Babys funktionierten. Er kannte sich aus, als würde er vorfahren und Semir einige herrliche Küstenstraßen und Bergstrecken zeigen. Helmpflicht bestand nicht in diesen Dingern, doch beide Männer setzten ihre Sonnenbrille auf um vor Staub und Steinchen geschützt zu sein. Die kleinen Motoren der Buggys krächzten auf, als sie den Schlüssel umdrehten und André fuhr vorne erst ein Stück durch den Ort und dann Richtung Schnellstraße, die zu den Küstenstraßen führte.


    Einfamilienhaus Ritter - 11:45 Uhr

    Das leise Ticken der Küchenuhr hatte etwas von einem gespenstischen Zusatz zum regelmäßigen, immer leiser werdenden Schluchzen von Christina Ritter. Sie hatte sich an den Küchentisch gesetzt und hemmungslos begonnen zu weinen, als Ben und Herzberger ihr so schonend wie möglich den Tod ihres Mannes beigebracht hatten. Zur Sicherheit hatten sie einen Krankenwagen bereits in Bereitschaft und einen Notfallseelsorger im Auto vor der Tür stehen gehabt, doch Christina fing sich langsam wieder. Sie wurde kreidebleich, begann zu weinen, doch jetzt wurde sie leiser. Ben nahm vorsorglich den Topf mit kochendem Wasser vom Herd und schaltete diesen aus, während der erfahrene Herzberger der armen Frau alle Zeit ließ, sich zu beruhigen.
    "Ich weiß, es ist sicher schwer für sie, Frau Ritter... aber wir müssten ihnen einige wichtige Fragen stellen.", sagte Ben leise, der sich nun zu Frau Ritter und Herzberger, die beide am Tisch saßen, stellte. Er war erleichtert, denn die Reaktion von der Witwe war noch recht angenehm für die Polizisten. Viele Menschen, denen sie Todesnachrichten überbringen mussten, reagierten anders, unvorhergesehen, aggressiv... Das einfache Weinen war da noch recht annehmbar. Frau Ritter nickte zweimal, eine hübsche Frau, vielleicht Ende 30 mit rehbraunen Augen und langen, zum Zopf zusammengebundenen Haaren. Ben taste sich nach vorne mit seinen Fragen, wie ein Blinder der immer langsam einen Fuß vor den anderen setzte um zu ertasten, wann der Abgrund kommen möge...

    "Hatte ihr Mann vielleicht irgendwelche Feinde?" Die Frau schien kurz nachzudenken, als ihre feuchten Augen durch den Raum glitten. Dann schüttelte sie den Kopf. "Nicht dass ich wüsste...", sagte sie beinahe im Flüsterton. "Vielleicht aus seiner Motorradgruppe? Oder einer anderen Gruppe?", fragte Herzberger nun, ebenfalls vorsichtig und mit leisen Worten. Ein kurzes Schluchzen unterbrach die Stille, bevor die Frau antwortete: "Nein. Die haben sich da alle gemocht. Und die haben sich auch nie mit anderen Gruppen angelegt. Da bin ich mir sicher." Ben tippte einige Informationen in sein Smartphone, bevor er nach dem heutigen Tag fragte, aber wirkliche Hinweise konnte er der Frau nicht entlocken. Ihr Mann habe Urlaub, und sei deswegen öfters mit seinem Motorrad unterwegs. Den Freund, mit dem er unterwegs war kenne sie nur vom Sehen. Es waren allgemeine Infos, nichts was Ben oder Hotte aufhorchen ließ, und so behielt sich der Polizist die letzte Frage zum Schluß auf. "Kennen sie Bauer Electronics?" Die Frau blickte zu Ben auf, eine Mischung aus Verständnislosigkeit und Verwirrtheit. "Nein... was soll das sein?" Ein wenig Enttäuschung machte sich in dem Polizisten breit. "Es gab gestern einen ähnlichen Anschlag auf die Familie eines großen Elektronikkonzerns, Bauer Electronics. Wir prüfen Zusammenhänge zu diesem Anschlag.", erklärte er und hing der Frau mit den Augen an den Lippen. Nochmals überlegte sie, ihr Blick ging an den beiden Männern vorbei, als suche sie irgendwelche Erinnerungsschnippsel, die sie mit diesem Namen oder dieser Firma in Verbindung bringen könne... doch sie fand nichts. Sie verneinte abermals, und so sprachen die beiden Polizisten ihr Beileid aus, bevor sie ohne hilfreiche Informationen das Haus verließen...

    Sieht zumindest mal so aus, als wolle man das Thema "Motorsport" realistischer darstellen, als damals mit Tom.

    Da hab ich echt den Kopf geschüttelt als Motorsport-Fan, dass ein Formel-Bolide
    a) mit Tourenwagen auf einer Rennstrecke fahren
    b) auf normalen Straßen und sogar Feldwegen unterwegs war (jeder Formel-Wagen wäre da auseinandergefallen) und
    c) sich ein rennunerfahrener Polizist am Ende in die Kiste sitzt und am Hafen entlangprescht.

    Wenn man hier während des DTM-Wochenendes am Nürburgring gedreht hat, dürfte da was realistischeres bei rauskommen.

    Pool – 11:00 Uhr

    Semir, Andrea und die Kinder waren am Morgen mit herrlicher Urlaubslaune aufgestanden, und ins Restaurant zum Frühstück gegangen. Semir hielt immer mal wieder Ausschau nach André, doch er konnte den großgewachsenen Animateur nirgends entdecken. Am Frühstückstisch wurde viel mit den Kindern gelacht, Ayda war stolz darauf, alleine mit Lilly zum Büffet zu gehen und Frühstück zu holen, und die Kinder waren begeistert, dass sie sich nehmen konnte, so viel und so oft sie wollten. Die Familie wollte sich beim Frühstück so satt essen, dass man mittags nur noch ein Imbiss oder etwas Obst aß, dafür aber dann beim Abendessen wieder ordentlich zulangen konnte.
    Nach dem Frühstück wollten die Kinder unbedingt in den Hotelpool, statt ein wenig den Ort weiter zu erkunden und richtig ins Meer zu gehen. Andrea und Semir gaben den Wünschen ihrer Kinder lächelnd nach, und relaxten zusammen am Pool.

    Eine Zeitlang tollte Semir mit seinem beiden Töchtern im Wasser herum. Ayda hatte eine neue Taucherbrille bekommen und konnte schon recht anständig schwimmen. Semir hob sie über die Schulter, als sie es zum ersten Mal schaffte unter seinen Beinen durch zu tauchen. Lilly hatte ihre Schwimmflügelchen an und planschte an sicheren Stellen mit ihrem Papa. Andrea beobachtete das Ganze mit großem Vergnügen von der Liege aus, wenn sie über den Rand ihres Buches blickte. Nach einer halben Stunde setzte sich Semir japsend zu ihr und gab ihr einen nassen, mit chlorgeruch umsäumten Kuss auf die Wange. Die Liegen standen dicht am Pool, so dass sie immer ein Auge auf ihre Töchter hatten, doch Ayda konnte man ihre kleine Schwester durchaus schon anvertrauen.

    Andrea spürte immer noch, wie Semir sein Problem vor sich her schob. Sie kannte es, doch das wusste ihr Mann nicht… doch irgendwann müsste sie es ihm beichten, dann konnte sie ihm besser helfen, dann würde der Polizist auch mit ihr offen darüber reden, was ihm sicherlich helfen würde. Sie legte ihr Buch zur Seite und blickte ihren Mann durch die verspiegelte Sonnenbrille an. „Semir, weißt du was ich an dir schätze.“ „Oh, da fallen mir viele Dinge ein.“, sagte er scherzhaft und lachte auf. Andreas Finger glitten über die noch feuchte Haut seiner Oberarme. „Ich mag es, dass du geradeaus und ehrlich bist zu deinen Freunden... und zu mir.“, meinte sie leise und traf damit genau den wunden Punkt bei Semir. Er verschwieg seiner Frau einen zentralen Grund dieses Urlaubs, dieses dunkle Geheimnis was ihm Seitenfach seines Koffers versteckt war. Und er war nicht ehrlich zu seinem Freund André. „Findest du?“, fragte er unsicher und erhielt von seiner Frau ein bestärkendes Nicken, das ohne Nachdenken erfolgte. In Semirs Bauch breitete sich Unbehagen aus. „Aber ich bin auch ehrlich zu dir.“, sagte sie leise weiter, als würde sie ihm die schönsten Liebesgeständnisse ins Ohr flüstern. „Ich weiß weshalb wir hier sind.“ Semirs Augen weiteten sich, ihm lief es plötzlich kalt und heiß den Rücken runter, und obwohl das Wasser auf seiner Haut noch kühlend wirkte, fühlte er sich plötzlich wie in einer Sauna. „Was… was meinst du damit?“, stotterte er unsicher. Beruhigend und sehr vertraut legte Andrea eine Hand auf seine behaarten Oberschenkel und streichelte ihn zärtlich. „Ben hat es mir gesagt. Sei ihm nicht böse… er wusste selbst nicht weiter.“ Andrea war ehrlich zu ihrem Mann, auch wenn sie Ben damit verriet. Doch sie war sich sicher, dass Semir seinem besten Freund nicht böse war, wenn sie ihm dabei half. „Es ist doch auch okay. Ich wusste es, bevor wir hierherkamen und ich bin mitgekommen. Ich mache mit den Kindern Urlaub, und du löst euer Problem. Okay?“, sagte sie mit aufmunternder Miene und wunderte sich über sich selbst. Der Schock, als sie hörte das André ein kaltblütiger Mörder sei, kam überhaupt nicht mehr in ihr auf und Semir bewunderte seine starke Frau dafür. „Was… was weißt du genau?“, fragte er, und die Unsicherheit konnte er nicht ganz ablegen. „Alles Semir. Von den Fotos, und davon was André Kevin erzählt hat.“ Semir atmete hörbar aus und strich sich mit einer Hand über die, fast schon wieder getrockneten kurz geschorenen Haare. „Semir… ich glaube Kevin, was er gesagt hat. Aber trotzdem müsst ihr eine Lösung finden. Du kannst die Sache nicht dein Leben lang vor dir herschieben.“, redete die Sekretärin der Dienststelle auf den kleinen Polizisten ein. „Du sagst es so einfach…“, entgegnete der. „André hat sich hier ein neues Leben aufgebaut, mit dem er glücklich ist. Er hat mehrmals betont, dass er seine Vergangenheit endlich hinter sich lassen will. Ich…“, er stockte kurz und sah auf die Terracotta-Fliesen zu seinen Füßen… „ich kann ihm das doch nicht alles zerstören.“

    Andrea sah ihren Mann nachdenklich an und konnte jedes Wort nachvollziehen. Das war wirklich ein schreckliches Dilemma. „Und… wenn du ihn darauf ansprichst um nur seine Sicht zu hören? Dann fällt dir eine Entscheidung, was du tust, vielleicht leichter. Und vielleicht ist das alles, was dich belastet… seine Erklärung.“ Semir blickte auf seine beiden spielenden Kinder und seine Gedanken waren plötzlich weit abgerückt. Sie waren bei André, in dieser staubtrockenen Umgebung wo der Mann mit verbundenen Augen vor ihm kniete, André seine Waffe auf ihn richtete und im nächsten Moment abdrückte. „Eins kann ich dir versprechen… wenn du hier wegfliegst, und nicht mit ihm darüber geredet hast, wird es dich weiterverfolgen.“ Der erfahrene Polizist konnte gar nicht anders, als seiner Frau mit einem Nicken recht zu geben.

    Als Andrea kurz aufblickte verstummte sie und rief überdeutlich laut: „Guten Morgen, André.“ Semir blickte ein wenig aufgeschreckt herum und sah den großgewachsenen Mann in Flip-Flops, Hotel-Shirt und Bermuda-Shorts auf sie zu schlappen. „Guten Morgen. Na, habt ihr gut gefrühstückt?“, fragte er sie einerseits als Freund, andererseits schon beinahe als Hotel-Angestellter, um freundlich zu wirken. Doch sein Grinsen verriet ersteres. „Oh ja. Das frische Obst, der Sekt… sehr gut.“, schwärmte die Frau und lächelte, während Semir nur etwas scheu blickte und nickte. „Darf ich mir das Familienoberhaupt mal für 2-3 Stunden ausleihen?“, fragte der ehemalige Polizist mit Blick auf Semir, dessen unsicherer Gesichtsausdruck nun einem überraschten wich. „Natürlich.“, meinte Andrea und würde mit den Kindern am Mittag die ein oder andere Attraktion im Kinderclub besuchen. Dort stand heute Bogenschießen und Minigolf auf dem Programm.
    „Was hast du vor?“, fragte Semir nun neugierig seinen Freund, der lächelte. „Es wird dir gefallen. Es ist eine Überraschung.“, meinte er zwinkernd. „Wir treffen uns in 10 Minuten am Hoteleingang. Zieh dir ne kurze Jeans oder so an, und feste Schuhe. Und ein kleiner Rucksack mit ein oder zwei Flaschen Wasser, okay?“ Das klang nach Spaß, dachte Semir im ersten Augenblick… und vielleicht nach der richtigen Gelegenheit, André auf die Fotos anzusprechen. Er nickte jedenfalls mit Vorfreude, und versprach gleich am Eingang zu sein…