JVA Düsseldorf - 14:00 Uhr
Das große Tor zum Eingang der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf knarrte und quietschte, als es sich hinter Kevin schloß. Zusammen mit einem Beamten ging der junge Polizist zur Anmeldung, wo er um Besuchszeit bei Jessica Stern bat. "Sie sind weder verwandt noch verschwägert.", sagte der Beamte an der Pforte und schaute den jungen Mann misstrauisch an, der nicht unbedingt auf den ersten Blick wie ein Polizist wirkte. Kevin kramte seinen Ausweis aus der Jackeninnentasche seiner schwarzen Jeansjacke und hielt ihm dem misstrauischen Mann vor die Nase. "Ich hab in dem Fall ermittelt.", sagte er mit etwas schief angelegtem Kopf und verkniff sich eine weitere freche Bemerkung. "Dann kennen sie ja das Procedere.", raunte der ältere Beamte und stellte Kevin eine Plastikbox auf den Tisch, wo er Waffe, Handy und Ausweispapiere hinterlegen sollte. Hinter der Schleuse waren keinerlei private Dinge am Körper erlaubt, denn auch unter Polizisten gab es schwarze Schafe.
Danach wurde er von dem Beamten, der ihn bereits am Tor abholte, mitgenommen, durchschritt zwei lange kahle Flure bis er in einen Raum gelangte, in dem eine Glasscheibe den Raum von einem anderen Raum abtrennte. Es sah aus wie mehrere Bankschalter, ein Tisch war rechts und links der Glasscheibe angebracht, und ein Hörer lag an jedem Platz auf der Gabel, damit man sich mit seinem Gegenüber unterhalten konnte. "Setzen sie sich, ich werde Frau Stern holen.", sagte der Beamte und Kevin ließ sich auf einem der Stühle an der Glasscheibe nieder.
Ihm war in den letzten Tagen seit der Verhandlung viel durch den Kopf gegangen. Erst hatte er sich vorgenommen, komplett mit dem Fall abzuschließen und nichts mehr davon an sich ran zu lassen, was aber, wenn man alleine zu Hause sitzt, nicht wirklich funktioniert hatte. Hatte er Fehler gemacht, hätte er etwas besser machen können? Auch bei Spaziergängen durch den Rheinpark kamen die Gedanken an die Entführung selbst sofort wieder auf. Nein, einfach das Buch zu machen, das Kapitel abschließen würde Kevin nicht können, dafür geisterte Jessy noch zu sehr in seinen Gedanken umher. Die Idee, sie zu besuchen, hatte er bereits während den Verhandlungen, doch er vermied es zunächst, sofort bei ihr aufzutauchen. Doch konnte ihr das Gefühl, nicht alleine zu sein, helfen, denn sie wurde natürlich getrennt von ihrem Bruder untergebracht. Einmal in der Woche, eine Stunde, konnten sich die beiden sehen, dass hatte der Anwalt bei Haftantritt erwirkt. Besuch konnte sie einmal am Tag eine Stunde jemanden sehen, und ihre Mutter besuchte sie so oft es ging, auch wenn diese natürlich erschüttert war, als sie langsam begriff was ihre drei Kinder die ganze Zeit über angestellt hatten. Doch sie stand zu ihren Kindern, und war sogar schon bei Thomas zu Besuch...
Es dauerte für Kevin eine gefühlte Ewigkeit, bis Jessy auf der gegenüberliegenden Seite erschien, und erst sehr überrascht zu sein schien. Ein wenig zögernd, sich unsicher umschauend setzte sie sich Kevin gegenüber, und blickte dem jungen Mann in die Augen. Sie war blasser als sonst, trug nicht ihre normale Sachen sondern die Gefängnis-Kluft, die ein wenig an dem schlanken Körper schlotterte. Kevin nahm den Hörer in die Hand, und wartete darauf, dass auch Jessy abnahm, damit er sie begrüßen konnte... doch das Mädchen machte keinerlei Anstalten den Hörer abzunehmen, sondern blickte Kevin nur ein wenig melanchonisch, traurig und nachdenklich an. Das Lächeln aus dem Gesicht des jungen Mannes verschwand und wich ebenso einem traurigen Blick, während der Hörer langsam wieder sank. Es musste für den bewachenden Beamten eine skurille Situation sein, zu beobachten wie die beiden sich gegenüber saßen und ansahen. Kevin konnte nicht ergründen, warum Jessy nicht mit ihm sprach. War sie tatsächlich enttäuscht, dass er sein Versprechen nicht gehalten hatte? War sie von sich selbst traurig, dass sie ihn erschossen hatte? Was war mit ihr passiert... dieses redefreudige Mädchen, das ungefragt so viel von sich erzählte, als er in Gefangenschaft war, war zerbrochen innerhalb von Minuten zu einem schweigsamen Menschen, wie Kevin selbst einer war.
Nach einer Viertelstunde wurde Jessy von dem Beamten wieder aufgefordert, aufzustehen und mitzukommen. Ohne eine Regung, ohne ein Zeichen des Abschiedes ließ sie Kevin, im wahrsten Sinne des Wortes, sitzen. Der brauchte noch einige Momente um zu verdauen, was da gerade passiert war...
Kevin's Wohung - 15:30 Uhr
Die Regale waren leer, die Küchenutensillien gehörten eh nicht ihm. Die schriftliche Kündigung des Mietvertrages lag auf dem Tisch, und musste von dem jungen Polizisten nur noch eingetütet werden. Er hatte die Nase voll von diesem Loch, er musste hier raus. Die Erinnerungen der letzten Monate abschütteln. Es fiel ihm nicht schwer, auch wenn er noch nicht genau wusste, wo er hin sollte. Erstmal würde er zu Kalle ziehen, ein Transvestit, die ihn und seine Schwester eine Zeitlang aufgezogen hatte, weil sie im Klub von Kevins Vater gearbeitet hatte. Sie hatte ihm öfters angeboten, doch wieder "daheim" zu wohnen, doch er hatte es oft, auch wegen seiner Drogensucht, wovon Kalle nichts mitbekommen sollte, abgelehnt. Jetzt fühlte er sich einigermaßen im Rahmen, dass er wieder bei ihr wohnen wolle, bis er etwas Neues gefunden hatte.
Seine Akkustikgitarre stellte er neben zwei Koffer, als es an der Tür klingelte. Es war Ben, der unten an der Pforte stand, die der junge Polizist seinem Kollegen öffnete. Als Semirs Partner die gepackten Koffer sah, und selbst seine Gitarre in der Hand hatte, wich er erst zurück. "Oh, störe ich?", fragte er überrascht. "Ne... komm rein.", meinte Kevin und hielt die Tür offen. "Du ziehst aus?" Bens Stimme klang unsicher, als würde er befürchten dass Kevin Köln komplett den Rücken kehrte. Seine Befürchtung riss nicht ab, als Kevin nickte. "Und... wohin?" "Keine Bange... nicht aus Köln heraus." Ben atmete auf und lächelte. "Ich wollte eigentlich fragen, ob du bisschen kimpern willst.", meinte er mit Blick auf seine Gitarre in der Hand. Kevin hatte nichts vor, ausser den Brief noch wegbringen, und so nickte er. "Ein paar Bier wollte ich zwar dem Vermieter noch lassen... aber was solls.", sagte er und ging zum Kühlschrank, während Ben sich auf dem Sofa niederließ und den Deckel seines Gitarrenkoffers öffnete.
Als sein Freund mit zwei Bier in der Hand zurückkam, meinte er: "Jessy spricht immer noch nicht." Ben schaute überrascht auf... überrascht einerseits, das Kevin bei Jessy war, überrascht andererseits, dass der schweigsame Polizist überhaupt von sich aus erzählte. Offenbar hatte er endgültig Vertrauen zu Ben und Semir gefasst. "Du warst bei ihr im Knast?" "Ja... aber nichts zu machen. Sie wirkt wie ein zerbrochenes Spielzeug.", nickte Kevin, gab Ben eine Flasche Bier und stieß mit ihm an. Dann packte auch er seine Gitarre aus, während Ben seine stimmte, und auch etwas zu erzählen hatte. "Semir fährt in ein paar Wochen zu André.", sagte er leise und liess nun Kevin überrascht aufblicken. "Ohne dich?" Bens Nicken war beinahe traurig, während sich Kevin wieder dem Stimmen der Gitarre zuwandte. Nach einigen Momenten Stille sagte er: "Semir ist alt genug... er wird wissen was er tut, und ich bin mir sicher, dass er das Richtige tut." "Ja... ich weiß. Trotzdem, ich weiß wie er zu André steht... und ob er wirklich das Richtige dann tut... André zu verhaften." "Vertrau ihm einfach..." Es klang wie Hohn in Kevins Innerem, der selbst niemandem vertraute. "So wie er dir vertrauen würde." Ben blickte seinen Kollegen an und nickte... und wusste selbst, wie schwer es wohl Kevin fiel, selbst nicht dabei zu sein, denn auch André und Kevin hatten ein sehr enges Verhältnis, war es doch André, der massgeblich dafür verantwortlich war, dass der junge Kerl damals von der Straße und von den Drogen gekommen war.
Als sich beide einige Momente anschwiegen und die Gitarren fertig stimmten, schauten sie sich gegenseitig an. "Was spielen wir?", fragte Kevin. Ben zuckte kurz mit den Schultern... "Irgendwas Fröhliches?", sagte er herrlich unpassend. Kevin grinste und stimmte die ersten Töne der Lead-Gitarre von "Don't cry" von Guns and Roses an... ein absolut trauriges Stück. Nach ein paar Tönen gesellte sich Bens Gitarre dazu...
ENDE