Beiträge von Campino

    Dienststelle - 14:20 Uhr

    Bevor Kevin den zweiten Verhörraum verließ, kamen Semir und Ben aus dem Nebenzimmer, von dem aus sie dem Verhör zugehört hatten. Beide waren einigermaßen aufgewühlt von dem, was sie da gerade mit angehört hatten, und beide wussten nicht recht wie sie dem jungen Polizisten nun begegnen sollten. Als er ebenfalls auf den Flur trat, wusste er dass die beiden Männer zugehört hatten. "Da haben wir unser Geständnis", sagte Kevin nur kurz, völlig ohne freudige Reaktion, und Semir nickte. Thomas hatte alle Überfälle auf die Kiosk-Besitzer zugegeben, sowie die beiden Entführungen. Der Fall war quasi abgeschlossen, doch die Rolle von Jessy war immer noch nicht klar, denn nach wie vor saß sie stumm im Verhörraum. Semir hatte sie absichtlich noch nicht abführen lassen, er sah Kevin stumm an, der den Blick des erfahrenen Kommissars nicht so recht deuten konnte. "Na los... 10 Minuten. Wir schauen, dass die Chefin nicht kommt." Ben sah seinen Freund überrascht an, und Kevin nickte dankend, bevor er in dem Verhörraum verschwand, in dem Jessy saß. Es hatte Semir beeindruckt, wie der junge Polizist mit seinem Entführer gesprochen hat, wie er auf ihn eingewirkt hat. Als er den fragenden Blick seines Kollegen bemerkte, blickte er zu Ben: "Was ist denn?" "Ja, was sollte das jetzt gerade?", fragte dieser verwirrt, denn er war ebenfalls der Meinung dass es nicht besonders gut wäre, Kevin und Jessy nochmal zusammen zu bringen. "Vielleicht bekommt er wenigstens etwas aus ihr heraus.", antwortete der kleine Polizist hoffnungsvoll, und beide Freunde verschwanden wieder in dem Nebenraum.

    Jessy blickte nur kurz zu Kevin auf, als dieser in den Raum kam und sich dem Mädchen gegenüber saß. Danach fiel ihr Blick sofort wieder auf die Tischplatte. Kevin beugte sich nach vorne, stützte die Ellbogen auf den Tisch ab und legte den Kopf auf die verschränkten Hände, während seine blauen Augen auf Jessy gerichtet waren. Sie spürte seinen Blick, sie spürte seine Erwartung nach Worten, nach Antworten, nach Erklärungen. Sie erinnerte sich, als sie sich im Keller des Hauses ansahen, miteinander sprachen, einander vertrauten obwohl sie sich fremd waren. Sie erinnerte sich an seine Berührung, ihres Kopfes an seiner Schulter. Doch die Bilder verschwammen.
    Mehrere Minuten schwiegen beide, etwas was beide sehr gut konnten, bis Kevin eine Frage stellte: "Warum?" Wieder blickte Jessy kurz auf, bevor ihr Blick wieder fiel. Sie konnte dem Mann nicht in die Augen sehen, denn sie eben erschossen hätte, wenn noch eine Kugel in der Waffe gewesen wäre. Kevins Frage hatte mehrere Anhänge an das Fragewort "Warum", doch zunächst ließ er sie unausgesprochen. Als Jessy aber nicht reagierte, holte er weiter aus. "Warum hast du abgedrückt? Warum bist du abgehauen?" Kevins Stimme war erst recht leise, beinahe enttäuscht. "Warum hast du mir nicht vertraut?" Die Frage bohrte sich tief in Jessys Herz, denn er, Kevin, hatte ihr vertraut... sogar noch als sie die Waffe auf ihn richtete und abdrückte. Ihr Mund öffnete sich etwas, Tränen stiegen in ihre Augen, doch kein Ton verließ ihre Lippen. Der junge Polizist hatte das Gefühl, mit einem zerbrochenen Spielzeug zu reden, mit einer Puppe die jegliches Leben verloren hat, jedes Lächeln, dass sie ihm in der Hütte entgegen brachte im falschesten Moment. "Niemand wollte dass dein Bruder getötet wird, das weißt du selbst auch.", sagte Kevin, nun langsam etwas lauter und energischer. "Es wäre alles gut geworden, wir wären aus dem Haus spaziert, und Thomas hatte sich auch nach dem Schuss nicht widersetzt." Der Kommissar stand ruckartig von seinem Stuhl auf, die Schweigsamkeit von Jessy ließ seinen Adrenalinspiegel steigen. "Und selbst auf dem Feld hättest du mir die Waffe geben können.", sagte er etwas lauter und Jessy schaffte es einfach nicht ihm in die Augen zu schauen, während ihr Tränen über die Wangen liefen. "Du hättest deinen Bruder genauso geschützt wie ich meinen Partner geschützt habe... der seit gestern für mich wie ein großer Bruder ist.", sagte Kevin energisch, und dachte in diesem Moment überhaupt nicht daran, dass Semir im Nebenraum stand und zuhörte. Es war jedenfalls die zweite Gänsehaut, die Semir in diesem Moment befiel, und er reagierte auch nicht auf den scherzhaften Ausspruch von Ben in diesem Moment. "Groß... naja."
    Kevins Worte bohrten sich weiter in Jessys Seele, die begriff dass sie alles verloren hatte. Andreas war tot, ihren Bruder Thomas würde sie nicht mehr sehen... und Kevin hatte sie quasi doch erschossen, auch wenn er nicht tot war. Sie zuckte beinahe zusammen, als Kevins Stimme auf dem Höhepunkt seiner Erregung nochmal rief: "Verdammt nochmal, WARUM hast du mir nicht vertraut?", und dabei mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, und sich zu Jessy herunterbeugte. Mittlerweile stand er schräg neben ihr, sah sie an und war emotional völlig aufgewühlt. Er atmete etwas schneller und biss sich innerlich auf die Lippen, vor allem als Jessy immer noch keine Antwort gab, sondern einfach nur still in sich hinein weinte. Semir im Nebenraum war kurz davor das Verhör abzubrechen, aber er sah dass Kevin sich selbst im Griff hatte, denn er richtete sich wieder auf und ging einige Schritte zurück. Offenbar begriff der junge Polizist, dass auch er nichts aus Jessy herausbekommen würde. "Ich hab dir vertraut... bis zum Schluß.", sagte er leise und spielte darauf an, dass er dem Mädchen nicht zutraute, wirklich abzudrücken, als sie die Waffe auf ihn gerichtet hatte.

    Kevin seufzte auf. Wieder vergingen eine, zwei Minuten ohne dass die Stille von einem der beiden unterbrochen wurde. Der junge Cop merkte, dass seine 10 Minuten bald abgelaufen sein würden. "Ich kann dir nicht mehr helfen... dabei hätte ich es so gerne getan.", sagte er leise und drehte sich zur Tür um. Gerade als er die Hand um die Klinke legte, hörte er die leise, wie mechanisch klingende Stimme von Jessy. "Es tut mir leid...", wisperte sie nur zaghaft, ohne den Blick zu heben. Kevin drehte sich an der Tür nochmal zu Jessy um. "Was tut dir leid?", fragte er leise, und erhoffte sich eine Antwort... nur eine Antwort, egal was ihr leid tat... dass sie geflohen ist, dass sie abgedrückt hatte... irgendwas. Ohne zu Kevin aufzuschauen wisperte sie deutlich hörbar: "Dass du deine Schwester nicht beschützen konntest."
    Der Satz drang tief in Kevins Seele, seine Hand umklammerte die Türklinke und sein Mund stand ein wenig offen vor Betroffenheit. Spielte sie auf sich selbst an, oder auf Kevins leibliche Schwester? Der Polizist war nicht in der Lage, noch einmal nachzufragen, als er wie erstarrt auf das kleine weinende Bündel, das auf dem Stuhl zusammengekauert saß, blickte und dann nur langsam und merklich schwer die Beine bewegte und den Verhörraum hinter sich schließ.
    Wie in Trance, ohne die Gespräche und das Gewusel um sich herum wahr zu nehmen ging der Polizist in das Büro von Ben und Semir, die so schnell gar nicht aus dem Nebenzimmer des Verhörraums kommen konnten, um Kevin an zu sprechen. Sie sahen dem Polizisten nur noch nach, und Semir wurde von Ben angehalten, ihm zu folgen: "Lass ihn... ich glaube er muss jetzt kurz allein sein.", sagte er, denn auch er hatte Bekanntschaft mit Kevins Charakter gemacht... und solange er im Büro war, hatten die beiden Autobahnpolizisten ein Auge auf ihn. Semir nickte nur und orderte an, auch Jessy in die Zelle abzuführen.

    Kevin saß währenddessen in Semirs Drehstuhl. Er dachte an so vieles und bekam doch keinen klaren Gedanken zusammen. Er dachte abwechselnd an Jessy, Janine und an den Anblick als Andreas blutüberströmt am Boden lag... er dachte an Thomas, der ihm gegenüber saß, und sein Spiegelbild sein konnte. Am liebsten würde der Polizist alles hinwerfen, wenn ihn nur dieses Ziel was er sich gesetzt hatte nicht aufhalten würde, nachdem Janine gestorben war... dass er helfen wollte, dass so etwas nie wieder passiert, dass ein Bruder seine Schwester verliert. Jetzt war Kevin mitverantwortlich dafür, dass eine Schwester, zu der er sich so verbunden fühlte, beide Brüder verloren hatte. Er musste die Dinge aus seinem Kopf bekommen... er musste auf andere Gedanken kommen... er musste wieder arbeiten, um zu überleben.


    Die Verbrecher wären also gefasst, da erlaub ich mir mal die Frage: Was ist denn jetzt mit André? Fährt Semir auf die Kanaren?

    Aaaaabwarten ;)

    Ich weiß ja nicht, ob du das von Anfang an so planst, oder ob sich das im Laufe der Story so ergibt, auf jeden Fall hat es gut geklappt. Glückwunsch. :thumbup:

    Danke schön :-). Einzelne Szenen habe ich länger schon im Kopf, zb die Szene auf dem Feld hatte ich bereits im Kopf als ich die Story begonnen habe. Anderes kommt mir wirklich spontan, was wie und wo emotional noch reinpasst, wie man ein Gänsehautgefühl erzeugen kann. Die letzte Szene zB kam mir erst vor ein paar Tagen in den Sinn :-).

    Dienststelle – 13:30 Uhr

    Semir und Ben sahen Kevin gleichermaßen entgeistert an. Der junge Polizist mit dem Wuschelkopf brachte nur ein ungläubiges „Ey… ne“, heraus bevor er sich kopfschüttelnd abwandte, während Semir mit der größtmöglichen Ruhe auf Kevin einredete: „Kevin! Sie hat einfach abgedrückt.“ Er sprach ruhig, langsam und betonte jedes Wort übermäßig. „Sie hätte dich getötet, wenn eine verdammte Kugel in der Knarre gewesen wäre. Und wärst du nicht gewesen, hätte sie mich getötet.“ Kevin starrte auf den Boden, während Semirs Worte durch seine Gedanken flogen. Der erfahrene Kommissar stand schräg zu ihm, und verstärkte seine Worte mit einem Griff auf Kevins Schulter. „Du bist ihr nichts schuldig, hörst du? Die drei haben, weiß Gott, wieviele Überfälle abgezogen, bei dem ein 18jähriger Junge totgeprügelt wurde.“ Ein leichtes Nicken ging durch den Körper des jungen Mannes… er hörte auf Semir, der Zugang gefunden hatte zu dem scheinbar undurchdringbaren Kevin. „Du weißt, was die Engelhardt gesagt hat. Ich glaube nicht, dass du denn Eltern sagen willst, dass einer der Mörder mit einer laschen Strafe davongekommen ist.“ Ben hörte aufmerksam zu und war einmal mehr beeindruckt von der Überzeugungskraft in Semirs Worten, die er als Jungspund, als er erst zur Autobahnpolizei gekommen war, so oft gespürt hatte. „Das hättest du bei deiner Schwester niemals akzeptiert.“, beendete Semir den Vortrag mit einem riskanten, aber sehr empfindlichen Vorstoß… und er traf Kevin voll ins Mark. „Du hast recht…“, sagte er leise, nahm die Akte aus Bens Händen zu den Vorgängen und ging in Richtung des zweiten Verhörraumes. Die beiden Autobahnpolizisten sahen ihm hinterher. „Ich glaube, du hast echt einen Fuß bei ihm in der Tür.“, sagte Ben anerkennend. „Ich weiß nicht… einmal hab ich das Gefühl, dass ich ihn verstehe… und dann plötzlich macht oder sagt er etwas… wo ich denke, dass dort ein fremder Junge vor mir steht.“, hörte Ben die leise Stimme seines langjährigen Partners. Dann gingen beide, durch stumme Kommunikation abgesprochen in den Nebenraum des zweiten Verhörzimmers… sie wollten Kevin nicht unbeobachtet lassen.

    Thomas war blass um die Nasenspitze. Er saß auf dem Stuhl, ein Bein überkreuz an die Tischkante gelehnt und die Arme verschränkt. Mit merkwürdigem Blick sah er Kevin an, der hereinkam und sich ihm gegenüber setzte. Am Oberteil des Mannes, der gegenüber saß, erkannte der Polizist Spuren von Blut…. Das Blut des eigenen Bruders. „Es tut mir leid, was passiert ist.“, begann Kevin und sah Thomas direkt an, der den Blick erwiderte. Und er war überrascht, als er Thomas‘ Worte hörte, genauso wie Semir, der im Nebenraum mithörte. So oft hörten sie Racheschwüre, wenn ein Teil der kriminellen Verwandtschaft bei Schussgefechten ums Leben kam, manchmal wurden diese in die Tat umgesetzt, manchmal blieben es Drohungen. Doch so etwas hatte Thomas, der rational denkende Teil des ehemaligen Trios, nicht im Sinn. „Das braucht es nicht. Andreas hat die Nerven verloren…“, sagte er mit nachdenklicher Stimme. „Wir wollten aufgeben… wir hätten schon aufgeben sollen, nachdem wir rausgefunden hatten, dass du ein Bulle bist.“ Auch das überraschte den jungen Polizisten, und es machte deutlich dass sie es hier nicht mit professionellen Verbrechern zu tun hatten… sondern mit völlig normalen Menschen, deren Leben einfach nicht so verlaufen war, wie es hätte verlaufen sollen. Andreas und Thomas hatten vielleicht ein gewisses Maß an krimineller Energie und ein erhebliches Maß an Gewaltbereitschaft, jedoch hatten sie gewiss nicht als Berufswunsch „Verbrecher“ in ihr Poesiealbum geschrieben. „Warum habt ihr nicht?“, fragte Kevin ohne den Blick abzuwenden. „Weil ich der Meinung war, dass mir schon noch was einfällt. Weil mir bis jetzt immer etwas eingefallen war… aber diesmal kam einfach nichts… außer das alte Haus, was aber eher nur ein Herauszögern des Problems war.“
    Auch Kevin lehnte sich ein wenig zurück, legte ein Bein quer auf das andere und blickte zwar ernst aber nicht feindselig. Seine Kollegen beobachten das Gespräch höchst interessiert, und Semir wurde das Gefühl nicht los, dass dort zwei Männer sich gegenüber saßen, die einiges gemeinsam hatten.

    „Jessy hat mir einiges erzählt. Warum ihr abgehauen seid, die Sache mit eurem Vater…“, sagte Kevin mit seiner manchmal monotonen Stimmlage. Thomas nickte wieder und fuhr sich mit der Zunge im Mund über die Innenbacken, als würde er einen Moment nachdenken. „Es ist vieles nicht so gelaufen wie es sollte. Aber versuch du dich mal um zwei „Kinder“ zu kümmern, wenn du selbst noch nicht erwachsen bist.“ Das Wort „Kinder“ betonte Thomas absichtlich, er meinte damit die damals noch sehr jungen Jessy und Andreas. „Ich war der Älteste, weißt du? Ich war für sie verantwortlich, ich musste auf sie aufpassen. Weißt du wie das ist, wenn du dir Gedanken darum machst dich um deinen kleinen Bruder und Schwester zu kümmern, obwohl du selbst grade mal 18 bist?“ Kevin lief es bei Thomas‘ Worten eiskalt den Rücken herunter… es war, als würde er mit einem Spiegelbild sprechen… mit seinem Spiegelbild, das den Absprung vom Kleinkriminellen nicht geschafft hatte. Der aber trotzdem die Verantwortung seiner Geschwister übernahm… und der jetzt bei einem dieser Geschwister in gewisser Hinsicht versagt hatte, wenn auch in einem anderen Fall als Kevin selbst. „Ich kann es mir vorstellen, ja.“, sagte er nur leise und erntete einen etwas verächtlichen Blick von Thomas, der natürlich nicht wusste dass Kevin es sich mehr als nur vorstellen konnte. Semir und Ben im Nebenzimmer wussten es natürlich auch und hielten den Atem an, ob der gespenstischen Situation. „Fass mal an…“, flüsterte Ben Semir zu und hielt ihm die Hand hin, die der ältere Kollege betastete… schweißnass.

    „Wir waren nie professionell. Wir haben gemacht, was wir konnten. Andreas konnte gut zuschlagen, Jessy konnte gut ablenken und ich wusste wo wir zuschlagen können.“, erzählte Thomas von den Kiosküberfällen… frei und ohne, dass Kevin oft nachbohren musste. Dass sie meist sehr wenig Geld mitgenommen hatten, dass sie oft nicht darüber nachdachten welche Schäden ihre Opfer davon getragen hatten. „Der Junge bei eurem letzten Überfall ist gestorben.“, sagte der Polizist und beobachtete Thomas‘ Reaktion, die nicht eindeutig ausfiel. Irgendwas zwischen Gleichgültigkeit und einem „Das-habe-ich-mir-schon-gedacht“ – Nicken. „Ihr habt’s in Kauf genommen?“ Der Mann am Tisch kräuselte die Lippen und nickte: „Ja… kann man so sagen.“ Er wusste, dass er die Kontrolle nicht mehr hatte. Er hatte sie an dem Punkt verloren, als er wusste dass sie einen Bullen gekidnappt hatten. Und nun spürte Thomas, dass er müde davon war, die Kontrolle und die Verantwortung zu haben, und es in merkwürdiger Hinsicht sehr erleichternd war, diese jetzt abzugeben. Zumindest einmal die Kontrolle, den er dachte die ganze Zeit an seine Schwester im Nebenraum.
    Das „Rauchen-verboten“ – Schild missachtend zündete Kevin sich eine Zigarette an und bot seinem Gegenüber ebenfalls einen Glimmstengel an, was dieser nicht ablehnte. Thomas spürte, dass er mit Kevin keinen hochnäsigen Bullen vor sich hatte, der als oberstes Ziel hatte alle Verbrecher so schnell wie möglich hinter Gitter zu bringen. Er erzählte, dass man mit den Entführungen schneller an Geld kommen wollte… willkürliche Opfer, kleine Beträge. Im Prinzip keine dumme Idee, dachte sich Kevin. Dumm natürlich, dass man das Risiko eingeht, einen Bullen zu kidnappen. Auch gab der Mann zu, dass das zeitweise Verschwinden von Inga Trewka auf ihr Konto ginge, genauso wie ungefähr 15 Kiosküberfälle. Damit konnte man den Fall abhaken, denn Thomas hatte alles gestanden.

    Bevor Kevin den Verhörraum verließ und Thomas abführen ließ, hatte der wiederrum eine Frage: „Sag mir: Was war das mit meiner Schwester? Hast du sie benutzt um abzuhauen, oder was hast du in ihr gesehen?“ Er wusste noch, was Jessy ihm Nachts nach der Rückkehr ins Haus erzählt hatte… diese magische Verbindung, dass er selbst Niemanden hatte und sich das Mädchen so zu ihm hingezogen fühlte. Kevin sah Thomas fest an, ohne mit der Wimper zu zucken, was auf eine Lüge hindeuten konnte. „Ich habe in deiner Schwester eine Chance gesehen, etwas wieder gut zu machen, wobei ich versagt habe.“, sagte er, ohne Fakten zu nennen. Sein Gegenüber blickte ein wenig verwirrt, wie ein Puzzle das noch völlig durcheinander da lag. „Und glaube mir: Ich weiß was es heißt Verantwortung zu haben… und ich weiß was es heißt, bei dieser Aufgabe zu versagen.“ Das Puzzle fügte sich zu einem Bild zusammen, und während die beiden Polizisten im Nebenraum schluckten, nickte Thomas, als habe er verstanden, was Kevin ihm sagen will. „Was passiert jetzt mit Jessy?“ Der junge Polizist seufzte, und schaute auf die verspiegelte Wand. Er wusste, dass Ben und Semir ihm zuhörten, und biss sich auf die Lippen. „Sie spricht nicht… sie wirkt wie traumatisiert, und hat in ihrem Ausnahmezustand versucht meinen Partner und mich umzubringen. Ich werde ihr nicht mehr helfen können.“ Innerlich atmete Semir auf, seine Worte hatten wieder etwas bewirkt. „Aber du kannst…“, setzte der junge Polizist leise hinzu, und sah Thomas durchdringend an. „Sie wirkt wie traumatisiert… okay?“, wiederholte er nochmals eindringlich und der großgewachsene Mann nickte. Kevin stand auf, innerlich müde und kaputt von dieser Begegnung, aber auch erleichtert, als er Bonrath und Herzberger zurief, sie könnten Thomas erst einmal in die Zelle bringen.

    Dienststelle - 12:30 Uhr

    Erschöpft, und ein wenig betrübt kehrten die drei Polizisten gemeinsam zur Dienststelle zurück. Unterwegs fuhren sie nochmal an die Plattenbausiedlung, doch dort war bereits die Spurensicherung zugange, die ihre Routinearbeit verrichtete. Bereits als die Drei ankamen und aus der Ferne die weißen Anzüge von Hartmuts Truppe erkannten war ihnen klar, dass Andreas es nicht geschafft hatte. Ein paar Beamte leiteten noch Infos an Semir und Ben weiter, dass Thomas bereits auf dem Weg zur Dienststelle war, dass er bis zum Schluß bei seinem Bruder blieb, dass Andreas erstickt sei und aufgrund des sehr hohen Blutverlustes wohl eh keine Chance gehabt hätte. Semir fühlte sich unwohl, und doch war er sich sicher, das Richtige getan zu haben. Sowas passierte immer mal in seinem Beruf, und man musste sich in Sekundenschnelle entscheiden. Von einem Seelsorger wurde dann auch die Mutter unterrichtet, die ausser einem Schuss nichts mitbekommen hatte.

    Als die drei Kommissare in das Großraumbüro der PAST eintraten, wartete bereits die Chefin ungeduldig in ihrem Büro. Semir ging noch etwas schief, doch die Schmerzen im Rücken klangen ab.... wahrscheinlich würde er den ein oder anderen Bluterguss haben, aber das war er mittlerweile gewöhnt. Er warf ein Lächeln zu seiner Frau Andrea, die mit gespielt bedrohlicher Miene per Nicken auf das Büro der Chefin deutete. Es bedeutet in etwa: "Sie wartet auf euch und ist sauer." Zumindest Kevin und Semir sahen recht abgewetzt aus, die Kleidung des älteren Polizisten war vom Acker schmutzig und staubig, genauso wie Semirs Gesicht, Kevins Jeansknie waren verdreckt, ausserdem zogen sich einige Schrammen durch sein Gesicht von dem Autounfall. Trotzdem marschierten sie alle drei ins Büro der Chefin, die sofort aufblickte, als sie sich vor ihr aufstellten. "Wie ist es gelaufen, meine Herren?", fragte sie streng. "Das Mädchen und den älteren Bruder haben wir festgenommen.", zählte ihr bester Mitarbeiter auf, doch seine Stimme blieb ernst: "Andreas Stern hat es leider nicht geschafft." Anna Engelhardt sah Semir ein wenig ausdruckslos an. "Semir, das weiß ich bereits. Die beiden warten im Verhörraum. Ich will wissen WIE es gelaufen ist.", wobei sie das WIE besonders betonte, und dabei auf Kevin blickte. Klar, sie wollte wissen, ob sich der junge Kommissar so verhalten hat, wie ein Polizist... oder wie jemand, der persönlich befangen war im Bezug auf eine Tatverdächtige. "Es ist alles völlig korrekt gelaufen, Chefin.", antwortete Ben mit voller Überzeugung und blickte zu Semir, der sofort nickte. "Ja... alles völlig korrekt.", wiederholte dieser, ebenfalls mit voller Überzeugung. Der jüngste unter ihnen blieb stumm, wie ein Angeklagter über dessen Schicksal gerade entschieden wurde. Kein Wort darüber, dass er zu Jessy in den Wagen gestiegen war, kein Wort darüber dass er leichtsinnig dem Mädchen vertraute und sich der Waffe in den Weg gestellt hatte, indirekt Ben daran hinderte sie kampfunfähig zu machen.
    Anna Engelhardt schaute Semir ein wenig scharf an, grundsätzlich zweifelte sie nicht an ihrem besten Mann, doch sie hatte ein untrügerisches Gefühl dass der erfahrene Polizist nicht ganz die Wahrheit sagte. "Be, sie verhören das Mädchen.", sagte sie zu Ben, denn sie wollte nicht unbedingt dass Kevin mit ihr sprach... so musste er selbst und Semir mit Thomas reden, der im zweiten Verhörraum wartete.


    Verhörraum 1 - 13:00 Uhr

    In dem Raum war es dunkel, eine verspiegelte Scheibe hing an einer Wand, die von hier aussah wie ein Spiegel, von der anderen Seite aber eine völlig normale Scheibe war. Ein Richtmikrofon stand auf dem Tisch und zeigte auf Jessy, die in sich zusammengekauert auf dem Stuhl saß. Die Beine hatte sie an den Leib gezogen, die Füße auf die Sitzfläche gestellt, und die Arme um die Beine geschlungen, als hätte sie sich vor allem anderen dieser Welt verschlossen. Ihre Augen waren tief gerötet und schimmerten feucht, und unzählige Tränenspuren bahnten sich über ihr Gesicht.
    Sie sah den Polizisten, der sich ihr gegenüber setzte überhaupt nicht an, sie schien wie weggetreten in eine andere Welt. "Frau Stern... wollen sie nicht mal erzählen, wie das jetzt alles abgelaufen ist, mit den Entführungen?", fragte Ben als Erstes und sah das ihm merkwürdig erscheinende Mädchen aus ein etwas geneigten Kopfhaltung an. Unangenehme Stille breitete sich aus, eine Minute, zwei Minuten. Jessy wippte ein wenig hin und her, hin und wieder ein Schniefen, doch keinerlei Antwort. Der junge Kommissar fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte auf. "Was habt ihr denn vorher noch so angestellt?", fragte er und überging die Förmlichkeit des Siezens. Wieder erntete er nur ein stummes Wippen und er lehnte sich resignierend zurück. Ihr Blick fuhr immer wieder durch den Raum, über Ben, über die kahlen Wände, den Tisch und die verspiegelte Scheibe im Bens Rücken. Dort blieb ihr Blick hängen, und als würde sie spüren wer sie auf der anderen Seite des Spiegels beobachtete schaute sie sekundenlang ihr eigenes Spiegelbild an, während Kevin ihr direkt in die Augen sah... die gleichen Augen, in die er geblickt hatte als Jessy die Waffe auf ihn richtete, sie gegen seine Brust und sein schlagend Herz drückte, bevor sie einfach den Abzug betätigte. Semir hatte ihn zur Seite genommen und gesagt, dass Thomas sicher noch ein paar Minuten warten kann, und so standen sie jetzt beide in dem dunklen Nebenzimmer, und beobachteten Bens vergebliche Versuche, Jessy zum Reden zu bringen.
    Der wiederrum wollte das Mädchen nun aus dieser Trance bringen, als er fragte: "Was war Kevin für dich? Ein Bruder oder hat er dir einfach gefallen?" Er bemerkte gleich ihr leichtes Zucken im Mundwinkel, er bemerkte wie sich die Fingernägel ein wenig in ihre Jeans krallten. "Oder wolltest du nur jemanden haben, der ein gutes Wort für dich einlegt, falls etwas schief gegangen wäre?", provozierte Ben mit seinem jugendlich flippigen Lächeln, als würde er gerade mit einem jungen Mädchen flirten. Ben war der Typ, der durch seine Lockerheit schnell jemanden für sich gewinnen konnte, anders als sein Partner Kevin, der ein Mädchen eher durch seine Schweigsamkeit in seinen Bann zog. Das Zusammenkrallen wurde stärker, ihre Lippen zitterten, doch noch immer brachte sie kein Wort der Information heraus.

    "Bitte Semir, lass mich rein.", sagte Kevin irgendwann leise, währen sie die Szenarie um Ben und Jessy weiter beobachteten. "Nein Kevin... du redest nicht mit ihr. Sei froh, dass du zuschauen kannst." Der junge Polizist presste die Lippen zusammen und sah Jessy weiter an. Er spürte immer noch etwas in seinem Inneren, auch wenn vieles davon zerbrochen wurde, als Jessy den Abzug der Waffe drückte.
    Ben las von einem schnell ausgedruckten Blatt vor: "Diebstahl, schwere Körperverletzung, Todschlag, Menschenraub, räuberische Erpressung und Mordversuch...", er sah an dem Blatt vorbei zu Jessy... "oder willst du mir sagen, dass du wusstest dass keine Kugeln mehr in der Waffe waren." Jessys Augen schwirrten durch das Zimmer, blieben immer wieder auf ihrem Spiegelbild hängen, hinter dem Kevin leise betete, dass sie "ja" sagen möge... auch wenn es nicht stimmt. Doch wieder blieb das blasse Mädchen stumm und zog die Arme noch fester um ihre Beine.
    Ohne Geständnis könnte man die beiden nur für die Entführung von Kevin, den Überfall auf das Kiosk und Jessy für den versuchten Mord anklagen, solange Inga Trewka keine Aussage machte. Ben seufzte auf, stand vom Stuhl auf und verließ das Verhörzimmer. "Na gut...", murmelte er noch kurz. Er sah, dass Kevin und Semir aus dem Nebenzimmer kamen und berieten sich kurz im Flur. "Ihr habt ja gesehen, nehme ich an...", meinte er ein wenig resignierend und Semir nickte. "Ja, sie scheint entweder wirklich einfach nichts sagen zu wollen, oder sie ist traumatisiert. Sie stand ja schon auf dem Feld völlig neben sich.", antwortete der ältere Polizist, während Kevin nachdenklich meinte: "Wenn sie völlig klar gewesen wäre, hätte sie nicht geschossen." Dann überlegte er kurz und meinte leise: "Ich will ihr das nicht auch noch anhängen..."

    Vielen Dank für euer Lob :love: Ich hatte gerade die letzten beiden Kapitel schon seit Storybeginn im Kopf, und habe mich wahnsinnig darauf gefreut, sie zu schreiben... was mir auch unheimlich Spaß gemacht hat, das will ich nur mal so nebenbei sagen.

    An manchen Kapiteln sitze ich selbst stundenlang mit Unterbrechungen, lösche ich einen Abschnitt, schreibe ihn um, neu, andere Handlung usw... gerade bei diesen letzten beiden Kapiteln habe ich vielleicht jeweils eine halbe Stunde gebraucht, weil ich nie was ändern musste und die Worte aus den Bildern im Kopf einfach geflossen sind.

    Wollte das nur mal mitteilen, dass mir solche Kapitel am meisten Spaß machen ;)

    Offenes Feld - 11:00 Uhr

    Kevin war unfähig sich zu bewegen, sein Herzschlag setzte aus, als er spürte und hörte dass Jessy den Abzug der Waffe betätigte, die sie fest an sein Herz gedrückt hielt. Sein vertrauensvoller, einfühlsamer Blick verschwand und machte einem geschockten ungläubigen Platz, mit dem er das junge Mädchen ansah, die nun völlig zusammenbrach. Sie begann unkontrolliert zu weinen, zu schluchzen und fiel heftig zitternd auf die Knie. Die Waffe, die sie gerade noch gegen die Brust des Mannes gedrückt hielt und dabei abgedrückt hatte, fiel neben ihr in den Sand... mit einem leeren Magazin, weshalb der letzte Schuss nur ein leises Klicken von sich gab, und doch etwas in Kevins Innerem getötet hatte. Der junge Polizist ging wie in Trance einen Schritt zurück, ohne auf Semirs Füße, der immer noch hinter ihm saß zu treten, völlig unfähig Jessy, das als zusammengekauertes zitterndes Bündel am Boden kniete, in die Arme zu nehmen. Er hätte es getan, wenn sie die Waffe gesenkt hätte, wenn sie aufgegeben hätte und er selbst die Flucht, und die Schüsse auf Semir als mentalen Ausfall verzeichnen hätte können. Ein mentaler Ausfall war es auch jetzt gewesen, doch sie hatte tatsächlich abgedrückt. Sie hätte den jungen Polizisten erschossen, wenn sie nur noch eine Kugel im Magazin gehabt hätte, das wurde ihm plötzlich klar, als er mit stummen kalten Blick auf Jessy herab sah.
    Ben kam näher, er hatte die Waffe weggesteckt, weil er sah dass keinerlei Gefahr mehr von Jessy ausgehen konnte. Auch hielten oben am Weg zwei Polizeiautos mit Beamten, die nun zu Fuß die Böschung herunterkamen. Semirs Partner war kalkweiß im Gesicht, er sah Kevin beinahe vorwurfsvoll an ob dessen unendlichen Leichtsinn, Jessy zu vertrauen. Der Polizist mit dem Wuschelkopf beugte sich zu dem zitternden und heftig schluchzenden Mädchen herunter und zog sie langsam auf die Beine. Er ging dementsprechend kein Risiko mehr ein, legte Jessy Handschellen an, die ihrerseits auch keinen Widerstand mehr leistete. Ein kurzer Blick von ihr landete noch bei Kevin, dessen blaue Augen sie stumm und beinahe emotionslos verfolgten, bis sie uniformierte Beamte übernahmen und langsam zum Streifenwagen brachten. Sie fühlte sich innerlich zerbrochen, um sie herum war alles eingestürzt und sie konnte es beinahe selbst nicht glauben, was sie getan hatte. Alles war verloren, alles war vorbei...

    Semir stemmte sich langsam auf die Beine, ein Schmerz zuckte ihm durch den Rücken, wo er aufgeschlagen war und langsam kam er neben Kevin und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter, eine stumme Geste aus Dankbarkeit und Trost. Er konnte sich nur im Ansatz vorstellen, wie sich der junge Mann fühlen musste, der so schwer Vertrauen zu jemandem aufbauen konnte. Bei Jessy hatte es offenbar ohne Probleme funktioniert, und das Mädchen hat dieses Vertrauen gebrochen. Semirs Freund beugte sich vor Kevin nach unten und hob die Waffe von Jessy auf, ließ mit einer geübten Bewegung das Magazin aus dem Griff gleiten, und schaute sich das leere Magazin an. Langsam wich der blasse Teint bei ihm wieder der Lebensfarbe als er zu seinem jungen Kollegen sagte: "Bitte sag mir, dass du die Schüsse gezählt hast... dass du gewusst hast, dass keine Kugel mehr in der Knarre war." Es war, als betete Ben darum, dass Kevin nicht blind vor Vertrauen leichtsinnig sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, doch Kevins Reaktion war eigentlich Antwort genug. Er hätte genauso gut cool und lässig mit "Na klar." antworten können, doch seine unberührbare Fassade war ihm auch abhanden gekommen. Langsam, tief ausatmend ging der junge Mann in die Hocke und setzte sich auf den sandigen Untergrund, die Beine angewinkelt und die Ellbogen auf die Knie abgestützt. Die Finger verkontete er ineinander, als wolle er sich an der eigenen Hand festhalten. Mit verlorenem Blick sah er auf den Streifenwagen, in dem Jessy saß, der langsam in der Ferne verschwand. Es sah skurill, beinahe krotesk aus, als sich erst Semir langsam neben ihm auf das unbearbeitete Feld saß, danach auch Ben sich niederließ. Der erfahrene Kommissar blickte Kevin von der Seite an, der gleiche auffordernde Blick wie gester abend in der Kneipe. Diesmal musste er auf die Stimme seines Kollegen nicht lange warten. "Ich hab in Jessy so etwas wie Janines Ersatz gesehen. Als zweite Chance, etwas gut zu machen.", sagte er mit seiner monotonen Stimme, ohne einen der beiden an zu sehen. Er senkte den Blick und sah zwischen seinen Beinen und verschränkten Händen in den Sand. "Ich wollte sie rausholen, so wie ich es damals versucht habe zu verhindern, dass Janine mit hineinrutscht. Und ich wollte sie schützen, was ich bei Janine nicht geschafft habe." Ben und Semir hörten Kevins Stimme zu, der junge Kommissar blickte in die gleiche Richtung wie Kevin, sein Partner dagegen sah ihn dagegen weiter an. Er spürte, dass Kevin neues Vertrauen zu den beiden Polizisten gefasst hatte, was ihn dazu ermutigte, zu reden. "Ich hätte nie gedacht, dass sie wirklich abdrückt.", setzte er noch leise hinzu, gefolgt von einem hörbaren Ausatmen.

    Gesten sagten manchmal mehr als Worte, und das spürte Kevin, als er Semirs staubige Hand auf seinem Unterarm spürte, die etwas zupackte und ein wenig rüttelte. "Jessy war aber nie deine Schwester.", sagte er verständnisvoll mit all seiner Erfahrung in der Stimme. "Deswegen hätte sie sich nie von dir schützen lassen... und deswegen hat sie auch abgedrückt, weil ihre Liebe zu ihren Brüdern viel stärker ist." Semirs Worten folgte ein leichtes Nicken bei Kevin, der zuhörte und jedes Wort von Semir in sich einsog. Ben war einmal mehr beeindruckt von Semirs Ruhe und... ja, beinahe Weisheit. "Glaub mir, wenn ihr Bruder an deiner Stelle gewesen wäre... sie hätte nicht abgedrückt. Und wenn Janine an ihrer Stelle gewesen wäre..." Der erfahrene Kommissar lächelte sanft, als Kevins Blick sich zu ihm wandte, und der junge Mann verstand was Semir ihm sagen wollte. Blut war dicker als Wasser, und er hatte nicht den Einfluss auf Jessy, den er sich gedacht hatte. Und er hatte nicht Jessys Vertrauen in dem Maße, in dem er selbst dem jungen Mädchen vertraute.
    Als sich Kevins Mundwinkel leicht hebten, legte er eine Hand auf die von Semir, die immer noch auf seinem Unterarm ruhte. "Danke...", sagte er nur leise und wusste, dass er ab heute einen großen Bruder gewonnen hatte. Auch Semir lächelte, kippte den Kopf kurz zur Seite und meinte: "Schon ok. Jetzt hilf dem alten Mann auf seine Beine." Das ließ Ben sofort grinsen, der sich zuerst erhob und seinem langjährigen Freund und Partner die Hand hinhielt, die dieser ergriff und sich stöhnend hochziehen ließ. Kevins Lächeln wurde auch ein wenig breiter, doch seinen Schock hatte er noch nicht ganz verdaut. Trotzdem fühlte er sich ein bisschen wohler als gerade noch vor einigen Minuten, doch der ein oder andere schwere Gang zu einem Verhör würde ihm noch bevorstehen... das wusste der junge Kommissar, als sie zu dritt die Böschung nach oben kraxelten, und in Semirs Streifenwagen einstiegen um zurück zu fahren.

    Landstraße – 10:45 Uhr

    Immer wieder wischte sich Jessy die Tränen aus den Augen. Sie dachte nicht mehr klar, sie hatte keinen Plan, keine Vorstellung… sie handelte rein instinktiv. Weg von diesem grausamen Ort, doch wohin. Der Geländewagen wurde auf der kurvigen Landstraße immer schneller und Kevin, der neben ihr saß nahm sie kaum noch wahr. Der wiederrum hielt sich am Haltegriff über dem Beifahrerfenster fest, versuchte vereinzelt Jessy ruhig zu zureden. „Jessy, halt bitte an. Das hat keiner gewollt.“, sagte er ohne erkennbare Aufregung, doch er hatte im Rückspiegel festgestellt, dass Semir und Ben dicht hinter ihnen waren, und der junge Polizist spürte, dass die Eskalation nicht mehr weit war. „Bitte Jessy. Es ist schon zu viel passiert.“ Das junge Mädchen schien wie in Trance zu sein, schien wie im Fiebertraum. Die einzige Bewegung, die sie machte war, dass sie sich mit den Ärmeln ihres Oberteils immer wieder die Tränen aus den Augen wischte, wenn die Sicht zu verschwommen war.
    Irgendwann gab Kevin es auf. Er wusste, dass er sie nicht überreden könnte, anzuhalten… und auf der kurvigen Landstraße, die an Felder, Wiesen und Bäumen vorbeiführte war es zu gefährlich sie gewalttätig zum Bremsen zu zwingen… damit würde er warten, bis sie auf der Autobahn waren.

    Semir dagegen wollte nicht warten. Er befürchtete, dass das Mädchen im Geländewagen vor ihm irgendwann in den Gegenverkehr fuhr, gegen einen Baum lenkte, oder Kevin über den Haufen schoss. Nachdem das Dachfenster offen war zog sich der kleine Polizist mit dem Armen heraus, stellte einen Fuß wie gewohnt auf Bens Schulter, bevor er die Beine auf die Windschutzscheibe herüberwarf. Langsam ließ er sich nach vorne gleiten, eine Hand hielt sich am Scheibenwischer fest. „Näher, Ben.“, rief er laut, als sie endlich auf einem längeren geraden Stück Landstraße waren, und Ben fuhr den BMW auf Millimeter Abstand an die Rückseite des Geländewagens. Mit voller Konzentration steuerte der junge Polizist den Dienstwagen und beobachtete, wie immer mit Gänsehaut, wie sein Partner sich nach vorne beugte, die rechte Hand ausgestreckt um die obere Kante der Ladeklappe zu ergreifen. Gerade als Semir zupacken wollte, verschwand der Geländewagen vor ihm und tauchte ein Traktor auf. Jessy hatte im letzten Moment auf die Gegenfahrbahn gewechselt, um den langsamen Traktor zu überholen, Semir dagegen hatte sich bereits mit den Füßen von der Motorhaube weggedrückt. Ben drückte im Reflex mit voller Wucht auf die Bremse, und sein Freund hatte keine Wahl. Er fasste, was er zu fassen bekam, spürte den Verlust des Untergrunds und spannte die Armmuskeln an. Er hatte es geschafft, sich noch gerade so an der seitlichen Dachkante festzuhalten, die Füße anzuziehen, damit er damit nicht über den Boden schleifte. Die Kräfte zerrten an seinem Körper, als Jessy auf der rechten Spur wieder einscherte, den eine Wagenkolonne folgte auf der Gegenfahrbahn und zwang Ben wieder hinter dem Traktor einzuscheren. „Verdammte Scheisse.“, rief dieser und schlug wütend auf das Lenkrad, den er hatte keine Chance zu überholen. Wild hupte der Polizist hinter dem Traktor, doch dieser kam der Aufforderung nicht nach.

    Semir versuchte unter Kraftanstrengung sich auf das Dach zu ziehen, was aufgrund einiger Kurven nicht gelang. Im Innenraum hörte Kevin das dumpfe Geräusch, und sah instinktiv in den Rückspiegel. Dann erschrak er, als er erkannte dass Jessy ihre Waffe, die er ihr amateurhafter Weise im Haus nicht abgenommen hatte, aus dem Hosenbund zog und nach schräg hinten auf Semir zielte, denn auch das Mädchen hatte den blinden Passagier bemerkt. Gerade als die Waffe ohrenbetäubend aufbellte, zog der erfahrene Polizist sich mit einem Ruck auf das Dach, spürte an den Schienbeinen noch das Splittern der hinteren Seitenscheibe. Kevin griff Jessys Handgelenk mit der Waffe und zwang diese von Semir weg. Jessy zog im Kampf den Abzug mehrmals durch, die Schüsse schlugen in den Fußraum, in die Armaturen und zersplitterten die Frontscheibe. Nun musste der junge Polizist doch eingreifen, denn er befürchtete dass Jessy Semir treffen würde.
    Durch den Kampf allerdings begann der Geländewagen zu schlingern und geriet mit den rechten Reifen auf den abschüssigen Grünstreifen. Semir auf dem Dach sah das Unglück beinahe kommen, als der schwere Wagen nochmals ausbrach, Jessy mit einer Hand das Lenkrad nur festhielt und gegenlenkte, und der Wagen dann nach rechts von der Landstraße abkam und die abschüssige Böschung herunterkippte. Der ältere Polizist sprang und hatte wahnsinniges Glück nicht von dem Geländewagen, der sich mehrmals überschlug getroffen zu werden. Trotzdem stürzte auch er tief und prallte hart mit dem Rücken auf dem Feld auf, auf dem letztendlich auch das Fahrzeug auf der Beifahrerseite liegend zum Stillstand kam.

    Jessy atmete heftig, ihre Augen waren erschrocken aufgerissen. Sie lehnte mit dem Rücken am Dach, unter ihr lag Kevin, der sich ebenfalls benommen wirkte. Mit einem Fuß drückte sie die beschädigte Frontscheibe nach draußen und kroch hinaus, die Waffe immer noch fest umklammert. „Jessy…“, stöhnte Kevin, als er sah dass sie den Wagen verließ. ‚Verdammt nochmal, Semir ist da draußen.‘ schoss es ihm durch den Kopf.
    Jessy richtete sich taumelnd auf, ihre Haare waren an der Schläfe blutverschmiert. Mit stockenden Schritten ging sie auf den Mann zu, der ebenfalls stöhnend auf dem Rücken im Feld lag. Semir schnappte nach Luft, der Aufprall auf den Rücken nahm ihm beinahe den Atem, und als sein Blick langsam klar wurde, sah er Jessy vor seinen Füßen stehen, die Waffe auf ihn richtend. Wo war Kevin? Er sah kurz zu dem Wagen, aus dem Rauch aufstieg und erschrak, doch erst mal merkte er, in welcher Gefahr er selbst schwebte. „Jessy… machen sie es nicht noch schlim…“, begann Semir, doch sein Satz wurde von einem Schuss unterbrochen, der dicht neben ihm im Sand einschlug. Er konnte nicht mal sagen, ob Jessy einfach schlecht gezielt hatte oder ihm nur drohte. Er schaute in ein Gesicht, das gezeichnet war von Tränen, das keinen Ausdruck in sich hatte, außer Wut und Zorn. Der nächste Schuss schlug dicht neben Semirs Kopf ein, und der Polizist wagte es nicht, sich zu bewegen. Seine Waffe, die im Holster ungesichert war, verlor er beim Absprung irgendwo in der Böschung. Wieder spürt er Sand und Steine an seinem Hals, als die dritte Kugel dicht bei ihm einschlug.

    Kevin sammelte alle Kraft und kletterte ebenfalls durch die beschädigte Frontscheibe. Er hatte die Schüsse gehört, und war nun wieder vollkommen beisammen, nur die Beine schmerzten und ein wenig schwindelig war ihm auch, als er sich aufrecht stemmte und mit torkelnden schnellen Schritten andersherum um das Auto lief. Er gelangte direkt neben Semir in Jessys Blickfeld und war erst einmal total erleichtert, dass sie seinen Freund nicht schon erschossen hatte. „Jessy… hör auf damit.“, sagte er und versuchte ruhig zu bleiben, was ihm nicht gelang. Auch er hatte Kratzer im Gesicht von dem Überschlug. Die Hand, in der die Waffe des Mädchens lag zitterte, als der junge Polizist sich zwischen Jessy und Semir stellte. „Leg die Waffe weg, Jessy.“, sagte Kevin mit ruhiger Stimme. „Du hast mir versprochen, mir meine Brüder nicht zu nehmen.“, schrie das Mädchen mit tränenerstickter Stimme, und senkte die Waffe nicht. „Jessy, das hat niemand gewollt.“, sagte er eindringlich und ging langsam einen Schritt auf das Mädchen zu. Es war eigenartig, doch in seinem Innersten vertraute er dem Mädchen. Er wusste, dass sie nicht auf ihn schießen würde, er wusste es einfach.
    Als oberhalb der Böschung Ben erschien, mit seiner Waffe in der Hand, gab Kevin ihm ein Zeichen, er solle nicht schießen. Ben beobachtete die Situation, er hielt Kevin erst nicht für ganz dicht und es fiel ihm nur schwer, die Waffe zu senken.
    „Gib mir … jetzt die Waffe.“, sagte er nochmal mit vertrauensvoller Stimme zu dem Mädchen, zu dem er sich auf magische Art und Weise verbunden fühlte. Ihre Augen waren voll von Tränen, die Hand zitterte, als stände sie unter Drogen… oder unter Entzug. „Was hast du mit dem Mörder deiner Schwester gemacht? Sag’s mir!!“, schrie sie ihn an, als wolle sie von ihm eine Rechtfertigung dafür, Semir erschießen zu dürfen. Kevin, der leicht die Hände erhoben hatte und noch einen Schritt nach vorne ging, dass Jessy’s Waffe, wie damals in der Hütte, seine Brust und sein schlagendes Herz berührte, sagte: „Ich hab ihn nicht umgebracht.“ Seine Stimme war ernst. „Ich hab ihn nicht umgebracht, um jemand anderen am Leben zu erhalten.“ So war es… um Ben zu retten hatte Kevin den Mörder seiner Schwester verschonen müssen. Nun müsste Jessy Semir verschonen, um Kevin zu retten, denn der würde keinen Schritt zur Seite gehen.

    Das Zittern von Jessys Waffe vermischte sich mit dem Herzschlag von Kevin. Mit stechendem Blick sah der Polizist in die tiefen Tränenseen, die in Jessys Augen standen. Sie weinte, sie schluchzte und sie spürte, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Ihr Bruder war tot, der schlimmste Fall war eingetreten, und nun stellte der Mann, von dem sie so fasziniert war, sie vor diese Entscheidung. Semir hatte nur den Oberkörper etwas aufgerichtet, saß ansonsten stocksteif, denn sie vertraute Jessy keinesfalls. Ben schien zumindest Kevin zu vertrauen, er kam zwar langsam näher, hatte die Waffe aber immer noch gesenkt, jedoch bereit.
    Der junge Polizist, der die tödliche Mündung auf seinem schlagenden Herzen spürte hatte weniger Angst als damals in der Hütte. Er vertraute Jessy, er wusste, sie würde nicht schießen, und er meinte in ihren Augen zu erkennen, dass sie es selbst auch wusste. Langsam, wie in Zeitlupe senkten sich seine Arme und führten seine Hände zur Waffe. Als eine weitere Träne sich von den Augenlidern löste, und über Jessys Wangen herablief, betätigte sie den Abzug…

    So langsam bekommt man mit Ben richtig Mitleid. So Realitätsnah wie du das beschreibst, das zieht mir selbst den Brustkorb zusammen.

    Toll auch wie Semir zu seinem Partner steht und alles versucht ihm zu helfen. Das ist wahre Freundschaft.

    Plattenbausiedlung - 10:15 Uhr

    Kevin hörte sein Herz schlagen, er spürte an seiner Brust auch deutlich das von Jessy, als sie sich fest umklammert hielten. Die Gedanken, die ihm durch den Kopf zuckten wurden von seiner Vernunft verdrängt, was ihn wunderte. Denn in solche Situationen hatte normalerweise der Bauch bei ihm das letzte Wort, und traf die, meist weniger intelligenten Entscheidungen. Er sah Jessy nochmal an, lächelte, empfing ihr Lächeln und es schien sie zu erleichtern, warum auch immer. Seit sie Kevin getroffen hatte, fühlte sie sich in ihrem alten Leben nicht mehr wohl, und sie hoffte sehr, dass sie, wie Kevin sagte, mit einem blauen Auge davon kommen würde. Dann würde sie ihre Brüder so oft es geht im Gefängnis besuchen kommen, bis auch sie herauskämen. In dieser Art war Jessy einfach naiv zu glauben, dass wirklich alles gut würde, aber endlich konnte sie ihre Verkleidung des brutalen Überfall-Mädchens, das sie nicht war, ablegen.
    Kevin zog aus der Innentasche der Jacke ein tragbares Funkgerät und sagte nur kurz: "Wir kommen raus." Für Ben und Semir das Signal, mit dem Auto vorzufahren, zur Absicherung wie die Brüder reagieren würden. Er hörte das Geräusch des Wagens, als er die Haustür aufdrückte und mit Jessy an der Hand herauskam, den Blick fest auf den grünen Geländewagen gerichtet, der in einigen Metern Entfernung stand. Der junge Polizist war sich sicher, dass die beiden nicht ihn schießen würden, wenn er dicht bei dem Mädchen stand.

    Unterdessen breiteten sich die Augen von Thomas und Andreas aus, als sie das Schauspieler ungläubig beobachteten. Als die Tür aufging und sie den Mann erkannten, der bei Jessy stand, und sie erst nicht erkannten, ob sie Händchen hielten, oder dass er ihre Schwester tatsächlich verhaftet hatte. Erst als der silberne BMW von Semir um die Ecke kam, die Türen sich öffneten und die beiden Männer ausstiegen, links und rechts aber hinter der Tür stehenblieben und die Hände dahinter verbargen, wurde ihnen klar, dass hier etwas nicht stimmte. "Sie hat uns verarscht...", murmelte Andreas ungläubig. Thomas war nicht minder geschockt, doch er schüttelte den Kopf. "Nein... das hat sie nicht.", sagte er leise, und seine Bestätigung fand er in Jessys Gesicht. Sie lächelte, sie hatte genug von dem Leben... eine Vermutung, die der intelligente Thomas gestern schon hatte. Keine Verbrechen mehr, es war nie das Leben das seine kleine Schwester wollte. Jetzt mussten sich nur die Brüder entscheiden, ob sie diesen Weg mitgehen wollten, oder fliehen. "Sie will nicht mehr. Das was ich dir heute morgen gesagt habe, als sie noch kurz schlief." Andreas, der in den letzten Tagen sehr gereift wirkte, nickte und sagte doch weinerlich: "Ich will aber nicht ins Gefängnis." "Das können wir Jessy nicht antun. Wir können nicht ohne sie fliehen. Und solange wir zusammen sind, kann uns nichts passieren, Brüderchen." Der ältere Bruder sah, wie Andreas' Hände zitterten. "Bleib ganz ruhig, okay? Lass die Knarre, wo sie ist.", sagte er und es war eine Art Aufforderung, denn Thomas öffnete daraufhin die Tür. Beide hatten die Waffe im hinteren Hosenbund und stiegen neben den Geländewagen aus. Andreas Gesichtsausdruck war von Nervosität und Unsicherheit gezeichnet, Thomas bemühte sich durch seine Gestik beruhigend auf ihn einzuwirken, als sie sich einige Schritte vor den Wagen stellten. Nervös blickte sich der jüngere Bruder um, als Semir und Ben langsam zu Fuß näher kamen.

    Kevin atmete mit Jessy auf... es schien tatsächlich zu funktionieren. Ebenso erleichtert waren seine beiden Kollegen, die sich stumm mit Blicken verständigten. Semir ließ seine Hand zur Sicherheit an dem Griff seiner Waffe, den Holster geöffnet.
    Lautes Sirenengeheul war auf einmal zu hören, Reifengequietsche, als die von Semir angeforderte Verstärkung eintraf. Zwei Polizeiwagen hielten dicht bei der Szenarie, Beamte stiegen mit gezückten Waffen aus und nahmen sofort die beiden Brüder ins Visier. Ein ungutes Gefühl stieg plötzlich in Kevin auf, er konnte nicht erklären warum, doch es hatte seinen Grund. Der ohnehin hypernervöse Andreas verlor beim Anblick der Beamten die Nerven, seine Hand griff an den hinteren Hosenbund. Er handelte instinktiv, wollte sich schützen. Sein Bruder registrierte die Handbewegung im Augenwinkel, und fuhr herum. "Andreas, NEIN!" Doch Semir reagierte zuerst auf die drohende Gefahr, zog seine bereits entsicherte Waffe und schoss. Es war reine Reaktion, eine Situation die der erfahrene Polizist schon so oft erlebt hatte, eine drohende Gefahr, eine tickende Zeitbombe. Er zog die Waffe und schoß ohne großartig zu zielen und sah aus der Entfernung wie Andreas sofort zusammenbrach. Jessy hielt sich vor Schreck die Hände vors Gesicht, ihre Beine waren wie gelähmt und sie war unfähig auch nur einen Schritt zu gehen. Sein Bruder Thomas dachte in diesem Moment nicht daran, selbst die Waffe zu ziehen, er beugte sich sofort über seinen kleinen Bruder, der sich stöhnend auf den Rücken wälzte und eine Hand an den Hals drückte. Die Bescherung sah der große Bruder sofort, als unaufhörlich Blut zwischen Andreas' Finger hindurch quoll, und er schnell und heftig atmete. "Scheisse... scheisse.", schrie Thomas, zog sich die Jacke aus und presste sie auf die Stelle der Hände. Als er sie wegnahm kam ein großer Schwall, denn die Kugel hatte offenbar die Halschlagader getroffen. "Einen Krankenwagen!! SCHNELL!", schrie er in Richtung der Beamten, die immer noch auf den, in ihren Augen potentiell gefährlichen Thomas zielten. Ben war bereits zum Dienstwagen geeilt und einen RTW über Funk angefordert, während Semir schnell zu Thomas ging. Er war zwar aufgewühlt, nie ging es spurlos an jemandem vorbei, wenn auf einen Menschen geschossen werden musste. Doch er hatte bereits soviel Erfahrung, war so oft in dieser Situation, dass er wusste, instinktiv richtig gehandelt zu haben, weil sonst vielleicht ein Kollege tot am Boden liegen würde.
    Trotzdem spürte er einen Klos im Hals, als er den röchelnden, zuckenden Andreas am Boden sah und dessen Bruder, der mit seiner Jacke verzweifelt versuchte, das Blut zu stoppen, was ihm nicht gelang. Wütend schleuderte er Semir seine eigene Waffe vor die Füße und schrie: "Jetzt ruf endlich Hilfe." Mit einer Handbewegung bedeutete Semir die Beamten ebenfalls an, die Waffen zu senken.

    Kevin ging langsam auf die Szenarie zu, erschrocken und immer noch Jessy an der Hand. Sie bemühte sich zitternd einen Fuß vor den anderen zu setzen ohne zu stolpern. Tausend Gefühle schossen ihr durch den Kopf, Bilder von ihrem Bruder als Kind, wie sie zusammen gespielt haben, als er sie vor ihrem Vater beschützt hatte. Ihr Verstand setzte aus, sie sah Semir kurz hasserfüllt an.
    Kevin warf einen Blick um Thomas herum, sah das viele Blut und wollte Jessy eigentlich zur Seite nehmen, damit sie es sich nicht anschauen braucht. Er hatte nur einen kurzen Moment nicht aufgepasst, als er sah dass Jessy zum Geländewagen lief und den Motor anließ. Sie hatte einen mentalen Ausfall und wusste anscheinend nicht mit der Situation umzugehen, und tat das, was sie immer tat... weglaufen. "Verdammt.", brachte Kevin gerade noch heraus und lief hinterher, stieg gerade noch, bevor sie anfuhr auf der Beifahrerseite ein. "Jessy, hör auf mit dem Mist.", rief er als das Mädchen mit Vollgas vom Parkplatz fuhr. Der junge Polizist blieb erst ruhig... sie wird sich beruhigen, und dann anhalten, sagte er sich.

    Semir und Ben hatten diese Ruhe nicht. "Kümmert euch um den Verletzten.", rief Semir zwei Beamten zu, sah dann beruhigt dass bereits der RTW auf den Platz fuhr, da das Krankenhaus gerade um die Ecke war. Thomas sah verzweifelt auf, als er sah dass Jessy mit dem Geländewagen flüchtete schrie laut nach ihr, als könne er sie damit aufhalten. In dem Moment verlor Andreas das Bewusstsein unter ihm.
    Ben setzte sich ans Steuer, weil er zuerst am Wagen war und verbannte seinen Partner auf den Beifahrersitz. Sofort trat er das Gaspedal durch und nahm die Verfolgung auf. "Warum hast du denn sofort geschossen?", fragte er seinen erfahrenen Partner, der konzentriert aus der Frontscheibe sah. "Hätte ich warten sollen, bis er einen Kollegen erschiesst. Du hast doch gesehen, dass der nicht mehr wusste, was er tat." Beide Autos bogen auf die Hauptverkehrstraße ein, die zum Ausgang der Stadt auf die Landstraßen führt. Ben behielt den Geländewagen im Auge. "Wir müssen sie stoppen. Das Mädchen ist jetzt unberechenbar. Ich trau der zu, dass sie Kevin einfach über den Haufen schiesst.", sagte der junge Polizist aufgeregt, als sie die Stadtgrenzen hinter sich ließen und auf die Landstraße gelangten. "Du hast recht... sobald es ein Stück geradeaus geht, fährst du so dicht ran wie möglich.", sagte Semir und öffnete das Schiebedach des BMWs...

    Semir’s Dienstwagen – 09:30 Uhr

    Das Blaulicht blitzte durch das Innere des BMW, während die drei Polizisten in Richtung der Plattenbausiedlung rasten. Sie hatten keinerlei Zeit zu verlieren, möglich dass die drei Geschwister schon auf dem Weg ins Ausland waren. Die Flughäfen in der Umgebung waren angehalten, per Personenbeschreibung und Namen, die Kevin mittlerweile ja kannte, die drei nicht in ein Flugzeug steigen zu lassen. Ebenso wussten die Grenzstationen auf der Autobahn genauestens Bescheid. „Die sind ja auch nicht doof. Dann fahren die mit ihrem Geländewagen eben durch irgendein Wald- und Wiesenstück nach Holland.“, meinte Ben schnippisch auf der Autobahnfahrt. Er saß, wie üblich, auf dem Beifahrersitz, während Kevin hinter ihm saß und stumm aus dem Fenster sah. So cool und ruhig, wie er sich vor der Chefin gab, war er nicht. Er hatte mit sich gekämpft, hatte überlegt das ein oder andere Detail weg zu lassen… doch irgendwie fühlte er sich jetzt auch erleichtert, die Wahrheit gesagt zu haben, doch die nächsten Stunden drückten ihm aufs Gemüt. Wie würde Jessy reagieren, wenn er sie verhaftet. Er hatte Angst, dass es zur Eskalation kommen würde…
    „Ich hätte nicht gedacht, dass du alles vor der Chefin erzählst.“, sagte Semir nachdenklich, während er sich mit der Lichthupe einen Weg auf der Überholspur bahnte. „Ich auch nicht…“, hörte er die monotone Stimme seines Kollegen aus dem hinteren Teil des Autos. „Aber als Jessy heute Morgen wieder weg war, da gab es keine Alternative.“ Mit einem kurzen Seitenblick sahen Ben und Semir sich an, während Kevin weiterhin aus dem Seitenfenster sah. „Und was hättest du gemacht, wenn sie noch da gewesen wäre?“ Kevin spitzte die Lippen… das Angebot wäre groß gewesen, von „zur Vernunft reden“ bis zur gemeinsamen Flucht, über die er ernsthaft nachgedacht hatte. „Ich weiß es nicht.“, murmelte er und seufzte.


    Plattenbausiedlung – 09:50 Uhr

    Semir schaltete rechtzeitig das Blaulicht aus, als er auf den Vorplatz der Siedlung einfuhr. „Halt an!“, wurde er plötzlich von Kevin ermahnt, und trat auf die Bremse. „Da hinten, der grüne Geländewagen. Das sind sie.“ Alle drei Polizisten konnten den Geländewagen genau erkennen, der schon älter war und sicherlich bereits bessere Tage gesehen hatte. Der Wagen hatte eine Ladefläche und ein kleines Fenster an der Rückwand, durch die man sehen konnte, dass jemand im Wagen saß, den ein runder Schatten bewegte sich einmal ab und auf. „Verdammt…“, murmelte Semir, legte rasch den Rückwärtsgang ein und verschwand hinter einer der Plattenbauten. „Denkst du, sie haben uns gesehen?“, fragte Ben seinen Freund, doch der zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ „Jessy ist bestimmt bei ihrer Mutter, und sie warten dort.“, sagte Kevin nun etwas nachdenklich, und strich sich einmal durch die abstehenden Haare. „Okay, ich ruf Verstärkung.“, sagte Semir und griff bereits zum Funkgerät. „Nein, warte.“ Der erfahrene Polizist schaute nach hinten, von wo der Einwand gekommen war. „Es darf nicht zur Schießerei kommen. Ich gehe ins Haus und hole Jessy mit nach unten. Sie wird mir vertrauen.“ „Bist du wahnsinnig?“ Ben zeigte Kevin einen Scheibenwischer. „Wenn die dich sehen, schießen sie dir ins Kreuz… und was willst du dann überhaupt machen? Jessy als Gefangene präsentieren?“ Semir blieb stumm, er dachte nach und meinte, Kevins Gedanken zu erraten zu können. Als der dann letztendlich sprach, sah sich der Deutschtürke bestätigt. „Ich glaube, dass sie dann aufgeben. Sie werden nicht ohne ihre Schwester fliehen… sonst wären sie gestern schon abgehauen.“ Er fühlte sich erleichtert, als sein älterer Kollege am Steuer nickte. „Wir fahren um die beiden Gebäude, dort dürften sie uns nicht sehen. Und du steigst ins Flurfenster auf der anderen Seite ein, okay?“ Kevin nickte über Semirs Vorschlag, der sofort das Fahrzeug wieder in Bewegung setzte.

    Mit wachsamen Blick schauten sie genau, ob sie noch einmal ins Blickfeld des grünen Geländewagens kamen, doch Semir wählte den Weg hinter den Bauten so geschickt, dass sie ungesehen an die Rückseite des betreffenden Hauses kamen. Kevin zeigte auf das Fenster des Flures, der komplett einmal durch das Erdgeschoss ging, aber recht hoch lag. Der junge Polizist stieg aus dem Dachfenster des BMWs, stellte sich auf den Wagen und zog sich mit seinen kräftigen Armen an der spärlichen Fensterbank nach oben. Dort kauerte er mit beiden Füßen hintereinander, hielt sich mit einer Hand an der Regenrinne fest, während er mit der anderen Hand ein Taschenmesser aus der Jackentasche zog. Es schien keine Sonne, der Wind war frisch und der Himmel zog sich gerade zu, doch das war dem jungen Polizisten gerade völlig egal. Mit dem Taschenmesser hebelte er das alte Holzfenster mühelos auf. „Das macht der auch nicht zum ersten Mal.“, murmelte Ben im Auto, den die beiden sahen ihrem Kollegen zu. „Wenn er drin ist, rufen wir trotzdem Verstärkung.“, sagte Semir leise, als er sah wie Kevin das Fenster aufdrückte und seinen Körper hineingleiten ließ. „Du vertraust ihm nicht?“, meinte der jüngere Kollege ein wenig entrüstet, denn er hatte eben den Eindruck, dass Semir Kevins Idee blind unterstützte. „Kevin schon – aber den Brüdern nicht…“, machte Semir klar, dass er seinem jungen Kollegen nicht misstraute. Ein anderes Vorgehen wäre gewesen, wenn sie die Brüder aus dem Auto gezogen hätten, doch das hätte leicht in eine Schießerei führen können. Insofern war Kevins Idee nicht die schlechteste, doch Semir wusste: Wenn das schiefgehen würde, dürften sie sich alle auf einen heißen Empfang bei der Chefin freuen dürfen. „Lass uns den Geländewagen im Auge behalten.“, sagte Semir und stieg mit Ben zusammen aus dem Auto. Geduckt kauerten sie hinter einer halbhohen Mauer, von wo sie den Wagen seitlich gut sehen konnten, und tatsächlich saßen die beiden Männer darin, und warteten.

    Kevin sprintete währenddessen die Treppen in dem versifften Flur nach oben, bis er schwer atmend vor der Wohnungstür stand, wo er gestern schon einmal stand. Er konnte nicht sagen, ob er diesmal aufgeregter war als vorher, denn seine Hand zitterte genauso stark als er auf den Lichtschalter drückte, der als Klingel eine andere Funktion hatte. Er hörte wieder den mechanischen Ton, schloss nochmal kurz die Augen, und versuchte sich Jessy vorzustellen, wie sie auf seinem Sofa lag… es dauerte nicht lange, und die Tür ging auf. „Oh… was… was machen sie denn hier?“, stotterte Frau Stern, als sie den jungen Polizisten sah. „Ich wollte zu Jessy.“, sagte der mit monotoner und unaufgeregter Stimme. Die Frau wollte zuerst widersprechen, doch anscheinend hörte das junge Mädchen im Wohnzimmer die vertraute Stimme, und wie in Zeitlupe tauchte sie hinter ihrer Mutter im Flur auf. „Kevin… was machst du denn hier?“ fragte sie halb ungläubig, und halb resignierend… als hätte sie es geahnt. „Ich wollte dich abholen kommen.“, sagte er lächelnd, Jessy nickte und beide bekamen eine Gänsehaut als sie bemerkten, wie blind sie sich miteinander verstanden. Aus einem Bauchgefühl hatte der junge Polizist gehandelt, und wollte nicht sagen, dass Jessy verhaftet wäre. Er vermutete auch, dass die Mutter nicht wusste, dass ihre Söhne draußen auf das Mädchen wartete, und dass sie sie wohl lange Zeit nicht mehr sehen würde. „Dann lass uns gehen…“, meinte Jessy leise und drehte sich nochmal zu ihrer Mutter um. „Ich liebe dich, Mama… bis zum nächsten Mal.“, sagte sie mit Tränen in den Augen wohlwissend wie lange sie sich nun nicht wiedersehen würden, ihre Mutter erwiderte die Umarmung innig und wollte ihre Tochter nicht mehr loslassen. Auch ihre Augen waren wässrig, doch in ihren Gedanken war das nächste Treffen nächsten Monat schon vorgemerkt…

    „Du bist mit deinen Kollegen da?“, fragte Jessy dann auf dem Weg nach unten und Kevin nickte. „Es tut mir leid.“, sagte er leise und war überrascht über Jessys Reaktion. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich habe mich dafür entschieden, meine Brüder nicht im Stich zu lassen.“, sagte sie während sie sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen wischte und beide die Stufen nach unten gingen. Vor der Eingangstür hielt Kevin das Mädchen am Arm fest. „Denkst du, deine Brüder ergeben sich, wenn wir dich bereits haben?“, fragte er geradeheraus. Die unheimliche Verbindung zwischen den beiden war der Grund, warum er sie völlig offen fragte. Sie standen vor der letzten Metalltür nach draußen, und sie sahen sich einander in die Augen. „Ich… ich denke schon.“, sagte sie leise, und sie fühlte sich von Kevins blauen Augen wie gefesselt. Für kurze Zeit sahen sie sich an, und Jessy meinte leise: „Ich würde mir von ganzen Herzen wünschen, dass wir uns viel früher begegnet wären.“ Der junge Polizist spürte, wie sein Herz zerspringen wollte, als er sich zu Jessy runterbeugte, und die beiden sich auf zärtlich, fast scheu, auf den Mund küssten. Millionen Gedanken gingen ihm in diesem Moment durch den Kopf… einer davon war, durch eine der Wohnung unbemerkt ihrer Brüder und seinen Kollegen den Weg nach draußen zu finden, und einfach weg zu laufen…

    Interessante Sichtweise, eine Story aus der Ich-Perspektive zu schreiben. Könnte nur auf Dauer schwierig werden, weil man ja Gefühle und Gedanken anderer Personen nicht beschreiben kann, ausser du springst zwischen verschiedenen Protagonisten hinterher.

    Spannender Beginn auf jeden Fall, auch wenn die Schreibweise und teilweise Wortwahl noch etwas holperig sind. Weiter so!

    Dienststelle – 08:30 Uhr

    Es herrschte gespannte Stille im Büro. Ben wippte auf seinem Stuhl hin und her, lehnte sich mal zurück, trank bereits die zweite Tasse Kaffee und sah immer mal wieder zum Fenster hinaus. Er war nicht davon überzeugt, dass Kevin wirklich kommen würde. Doch Semirs ruhige und selbstsichere Aussage „Er wird kommen“ war irgendwie überzeugend. Der erfahrene Polizist hatte seinem jungen Kollegen von der Begegnung mit Kevin in der Kneipe erzählt, und war mit einem guten Gefühl nach Hause gefahren. „Ich glaube, er hat nachgedacht. Vielleicht hab ich einen wunden Punkt getroffen.“, meinte Semir, als die beiden im Büro ankamen. Doch nun warteten sie, und ihre Ungeduld wuchs mit jeder Minute, in der Kevin nicht erschien. Semir klickte sich durch einige Hotel-Seiten auf Gran Canaria, als das Telefon auf seinem Tisch klingelte. „Hartmut, was gibt’s?“, meldete er sich, weil er auf dem Display die Nummer der KTU erkannte. Hartmut, das Genie der Kriminal-Technischen Untersuchung und guter Freund der Polizisten hatte einige Spuren in der Hütte noch untersucht. „Uns ist da etwas aufgefallen, von den Dingen, die wir noch in der Hütte gefunden haben. Wir haben Zigarettenstummel einer russischen Marke gefunden.“ „Ja, und? Sind die was Besonderes?“, fragte Semir, den mit russischen Zigarettenmarken kannte er sich nicht besonders aus.“ Kann man wohl sagen.“, schnarrte es durch den Hörer. „Ein einziges Kiosk in Köln verkauft diese Marke. Und dieses Kiosk ist vor einigen Tagen überfallen worden.“ Ein triumphierendes Grinsen war durch den Hörer zu hören, meinte der erfahrene Polizist, wie immer wenn Hartmut etwas Entscheidendes zum Fall beitragen konnte. „Ach sag bloß. Weißt du auch, was bei dem Überfall rausgefunden wurde?“ „Nein, dazu hatte ich keine Zeit. Aber ich war so freundlich, die Akte für euch anzufordern, die dürfte im Laufe des Morgens kommen.“ „Danke Hartmut… hast was gut bei uns.“, meinte der Polizist lächelnd, und hörte noch, bevor er auflegte: „Du weißt ja – Schoko-Crossaint und Kakao.“ Das war üblicherweise Hartmuts Frühstück, Mittagessen… und manchmal glaubte Ben, der rothaarige Mann gab sich das auch noch zum Abendessen.

    Semir hatte den Lautsprecher angeschaltet, als es interessant wurde, und Ben hatte mitgehört. „Wenn die für die Serie der Kiosk-Überfälle verantwortlich sind, dann wird es aber schwer das Mädchen zu schützen.“, meinte Ben nachdenklich. „Das kann man wohl sagen… vor allem deswegen?“, sagte Semir mit düsterer Stimme und druckte einen der heutigen Lageberichte aus, und gab ihn Ben zum Lesen. Darin stand ein Nachtrag des letzten Überfalls, bei dem ein 18 Jahre alter Junge, der sich im Kiosk aufhielt, an seinen Verletzungen heute Nacht gestorben war. „Oh Scheisse…“, sagte der junge Polizist, und fuhr sich mit der Hand über die Lippen. „Was ist scheiße?“, hörte er plötzlich eine Stimme von der Tür, und blickte schnell auf. Er kannte die Stimme, und er war erleichtert und gespannt zugleich. Kevin stand in der Tür und auch Semir drehte sich zu ihm um. „Ah, schön dass du da bist.“, sagte er und lächelte vertrauenserweckend. Innerlich war er stolz darauf, dass sein Gespräch in der Kneipe doch eine Wirkung hatte… FALLS Kevin jetzt endlich mit Infos rüberkam und die Wahrheit sagte. Semir fand, dass er äußerlich einen ganz anderen Eindruck machte, als gestern Abend. Die hellblauen Augen waren wach, er lächelte und schien in irgendeiner Art und Weise lockerer zu sein. Doch auf die Fassade konnte bei Kevin schnell täuschen. „Setz dich. Willst du nen Kaffee?“, fragte der erfahrene Kommissar, doch bevor Kevin antworten konnte, stand Anna Engelhardt hinter ihm. Sie hatte gesehen, wie Kevin ins Großraumbüro gekommen ist, Hotte und Dieter begrüßt hatte und geradewegs zu Ben und Semir gegangen war. „Nein, Semir.“, sagte sie im strengen Ton. „Wir werden die Unterhaltung bei mir im Büro führen.“ Dann trag sie zur Seite und ließ Kevin den Vortritt. Ben und Semir sahen wie begossene Pudel aus, die Unterhaltung direkt mit der Chefin hätten sie Kevin gerne erspart, und gerade Semir hätte sich die Zunge abbeißen können. Er befürchtete, dass der junge Polizist vor der Chefin wieder dichtmachen könnte. „Sie dürfen gerne beide mitkommen.“, forderte Anna Engelhardt ihre beiden besten Beamten auf, ihr zu folgen.

    Im Büro der Chefin, welches das bestausgestattete der Dienststelle war, nahm Kevin auf dem Stuhl am Tisch Platz, während Ben und Semir sich im Hintergrund auf die Ledercouch saßen. Die Chefin setzte sich in ihren Bürosessel, und sah Kevin mit prüfendem Blick an. Es vergingen ein paar Sekunden, bevor sie mit ruhigen Worten zu reden begann. „Ich nehme an, sie wissen worum es geht.“, sagte sie, und es klang wie eine Aufforderung, jetzt endlich Tacheles zu reden. Kevin nickte, und Semir konnte nicht stillsitzen. ‚Bitte bitte, mach den Mund auf… sei kein Idiot, Kevin‘, waren seine Gedanken in diesem Moment. „Also?“, sagte Frau Engelhardt und lehnte sich erwartungsvoll zurück. Der junge Polizist fühlte sich ein wenig wie bei seiner ersten Beichte, atmete kurz aus und begann dann zu erzählen.
    Er erzählte von dem Kampf im Rheinpark, wo er von den drei überwältigt wurde. Er gab auch sofort zu, dort bereits Jessy erkannt zu haben, was er vor Semir und Ben noch verschwieg. Semir atmete auf, und auch Ben sah auf einmal entspannter drein. Endlich sagte er die Wahrheit. Sie hörten gespannt zu, wie Kevin in die Hütte gebracht wurde, dort gefesselt wurde, und was Jessy ihm alles erzählte. Sie waren Geschwister, sie waren von zu Hause abgehauen. Der Vater, der seine eigene Tochter missbrauchte, dass Jessy ihm die Augenbinde abgenommen hatte, mit ihm geredet hatte, leicht labil war, vieles von sich preisgegeben hatte. „Ich hatte das Gefühl, sie suchte einfach jemanden zum Reden.“, sagte er zwischendurch. Die Chefin strich sich mit den Fingern über die Lippen, doch sie signalisierte mit leichtem Nicken, dass der junge Mann weitererzählen sollte. Semir und Ben wunderten sich, wie offen Kevin darüber redete, was er fühlte als er mit Jessy sprach, das Gefühl sich mit ihr durch die Vergangenheit verbunden zu fühlen, als sie im Keller des Hauses miteinander sprachen. Kevin erzählte, von Jessys Träumen und den Beteiligten kam es vor, als würde er eine Geschichte erzählen, es klang teilweise unglaubwürdig und doch so realistisch. Anna Engelhardt unterbrach Kevin kein einziges Mal, auch nicht als er beschrieb, wie Jessy ihn befreit hatte und er fliehen konnte.
    Nach einer kurzen Pause fügte er dann an, dass sie gestern Abend bei ihm in der Wohnung war, und bei ihm übernachtet hatte. Semirs Hand fuhr zur Stirn und er schüttelte den Kopf über Kevins Verhalten. Auch die Augen der Chefin weiteten sich diesmal ein wenig, als er sagte, dass sie heute Morgen verschwunden war, und dass sie sicherlich zu ihren Brüdern zurückkehren würde. Als Kevins Stimme verstummte, lag bleischweres Schweigen im Raum. Ben und Semir sahen sich kurz an, dann wieder zu Kevin, der wiederrum sah auf die Schreibtischplatte der Chefin, die selbst Kevin beobachtete. Innerlich war sie aufgewühlt, einerseits weil sie sich in Kevin hineinversetzen konnte, andererseits konnte sie nicht glauben gegen wie viele Vorschriften der Polizist verstoßen hatte. „Wenn die drei fliehen können, wird sie das ihren Job kosten, Herr Peters. Wir reden hier von Menschenraub, räuberischer Erpressung und…“ „und Totschlag, wenn nicht sogar Mord.“, vollendete Semir und erntete einen ungläubigen Blick von Kevin. Der erfahrene Polizist beugte sich nach vorne und gab seinem jungen Kollegen das Blatt mit dem ausgedruckten Lagebericht. „In der Hütte waren Zigarettenstummel, die nur in diesem Kiosk zu kaufen gibt.“, sagte er als Erklärung, und die Lockerheit fiel aus Kevins Gesicht, die Fassade brach langsam ein. Mit zwei Fingern rieb er sich erst über die Stirn und in die Augen. „Ich hatte gehofft, dass wir Jessy aus der Schusslinie nehmen können…“, sagte er leise und sah Anna Engelhardt an. Ihr strenger Blick schien sie zu durchbohren wie ein Pfeil, der auf ihn abgefeuert wurde: „Wollen sie das auch den Eltern dieses Jungen so erklären?“, zischte sie gereizt, denn sie sah die Sache objektiver als der befangene Polizist, doch sie traf dort, wo sie treffen wollte. Dem Mann wurde klar, dass er Jessy nicht helfen konnte.

    Anna Engelhardt lehnte sich wieder zurück. „Glauben sie, dass wir die drei in dem Haus noch antreffen?“ „Ich weiß es nicht… es ist recht weit bis dorthin. Aber…“ Kevin begann nachzudenken. „Lassen sie mich dabei sein?“, fragte er dann plötzlich und die Chefin wollte bereits widersprechen. „Er kann uns helfen.“, sagte Ben schnell und auch Semir nickte: „Wir passen auf ihn auf.“ Eigentlich hörte der junge Polizist solche Dinge nicht gern, aber diesmal schwieg er verständlicherweise. Frau Engelhardt verengte die Augen ein wenig, als sie auffordernd sagte: „Also?“ „Ich glaube, Jessy wird nicht fliehen ohne nochmal zu ihrer Mutter zu fahren. Sie hatte mit ihr noch öfters Kontakt, ging noch einige Male dorthin, wenn ihr Vater nicht da war. Aber ich glaube, wenn sie wirklich das Land verlassen wollen, wird ihr das egal sein. Dorthin ist es nicht weit, da könnten wir sie vielleicht abpassen.“ „Ein Versuch ist es wert… die Grenzen in der Umgebung wissen alle von der Fahndung.“, warf Semir ein. Für lange Überlegungen blieb nicht viel Zeit, das wusste die Chefin, doch sie hatte ein ungutes Gefühl, den jungen Kevin, der mental mit Jessy noch lange nicht abgeschlossen hatte, in diesen Einsatz zu schicken… doch sie entschied sich gegen ihr Bauchgefühl. „Na gut, hauen sie ab. Sobald die Geschwister auftauchen, rufen sie Verstärkung, verstanden?“ Drei nickende Köpfe erhoben sich von ihren Sitzen, Kevin folgte Ben nach draußen. „Semir!“, wurde der dienstälteste von der Chefin noch zurückgehalten. „Sie sind mir für Herr Peters verantwortlich. Ich verlass mich auf sie.“, sagte sie ernst. „Keine Sorge, Chefin.“, meinte Semir und lächelte. Er war innerlich so froh, Kevin in der Kneipe beeinflusst zu haben.

    Verlassenes Haus – 06:40 Uhr

    Thomas war plötzlich aus dem Schlaf hochgefahren. Er war irgendwann gegen Mitternacht tatsächlich eingeschlafen, nachdem sich die beiden Brüder vor Kälte dann doch irgendwann ins Haus verkrochen haben. Nun lag er auf dem staubigen Sofa im Wohnzimmer, während sein Bruder versuchte, es sich auf der Küchenbank gemütlich zu machen. Durch die offene Tür hörte Thomas das laute Schnarchen von Andreas, doch das war es nicht, auf was er sich gerade in der Dunkelheit konzentrierte. Er hatte ein anderes Geräusch gehört, das Zuschlagen einer Tür.
    Der kantige Mann griff nach hinten unter das Sofakissen, was er als Kopfkissen benutzte und zog seine Pistole hervor. Lautlos schwang er sich vom Sofa und stand still. Leise Schritte waren im Flur, der zur Haustür führte zu hören und vermischten sich mit dem Schnarchen seines kleinen Bruders. Die Schritte schienen immer näher zu kommen, sie schienen in Richtung der offenen Tür zu gehen, auf die Thomas nun mit schlagenden Herzen zielte. Er legte den Finger nicht um den Abzug, denn er befürchtete selbst, aus Reflex abzudrücken… denn in seinem Inneren spürte er, dass es Jessy war, die zurückgekehrt war.

    Als das Licht im Flur angeschaltet wurde, und ein zaghaftes „Thomas“ durch die offene Tür halte, war die Ahnung Gewissheit. Der Mann ließ die Waffe sofort auf das Sofa sinken und schaltete seinerseits das Licht im Wohnzimmer an. „Jessy… ich bin hier, komm rein.“, sagte er und erblickte im Türrahmen die zitternde Jessy, die während des Tages im Shirt weggelaufen war, und jetzt entsetzlich fror, den des Nachts konnte das Thermometer gerne noch Richtung Gefrierpunkt fallen. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen und tapste zu Thomas aufs Sofa, der ihr sofort die Decke um die Schultern legte, was ihr sichtlich wohl tat. „Wo warst du denn so lange?“, fragte er im ersten Reflex und bemerkte die glänzenden Augen, und die leicht rötlichen Tränenspuren auf ihrer Wange. Auch schniefte sie ein bisschen, und sagte, ohne die eigentliche Frage zu beantworten: „Es tut mir leid, was ich getan habe. Dass ich… dass ich Kevin befreit habe.“ In erster Reaktion wollte Thomas nach dem „Warum“ fragen, was ihm auf der Seele brannte, doch er schluckte die Frage herunter. „Mir tut es leid.“, sagte er und legte seinen breiten Arm um Jessy. „Ich hätte dich nicht schlagen dürfen. Aber ich… ich hab die Kontrolle verloren… weil…“ er suchte ein wenig nach Worten, sah Jessy aber durchweg an. „Weil ich nicht mehr wusste, was wir jetzt tun sollen. Weil ich nicht wusste, auf wessen Seite du eigentlich stehst.“ Jessy spürte ihre Zerissenheit mehr denn je. „Das wusste ich auch nicht mehr. Kevin hat mich so fasziniert… es war wie eine magische Verbindung. Er war…“ Das Mädchen stockte und ash ihren Bruder an. Er hörte ihr zu… er winkte nicht ab, beschäftigte sich nicht mit anderen Dingen, sah nicht weg… nein, er hörte zu. „Ja?“, forderte er dann sogar seine Schwester auf, weiter zu sprechen, während sein Finger über ihren Oberarm strich. „Wir hatten was gemeinsam. Ich hab mich so einsam gefühlt, und er hatte auch niemanden, hat er mir später erzählt. Ich hab das gespürt… und, er hat mir zugehört, und ich hab ihm zugehört… deswegen war ich auch so lange im Keller.“ Sie redete und bekam gar nicht mit dass Andreas mittlerweile in der Tür stand, wach geworden von Jessys Stimme und ebenfalls stumm zuhörte. „Du hast dich in ihn verliebt?“, fragte Thomas mit ruhiger Stimme, und er konnte nicht beschreiben was in seinem Kopf vorging. Jessy war einsam neben ihren Brüdern, die sie schon ihr Leben lang kannte. Sie hätte Bekanntschaften gebraucht, andere Menschen, hatte viele Jahre alleine mit ihnen gelebt, weil sie kriminell waren, und dort Bekanntschaften nur gestört hätten. Selbst in der Schule hielt sie ihre Kontakte so gering wie möglich. Jessy schluckte… „Ich weiß es nicht. Es tat einfach so gut, dass er mir einfach zuhörte. Ich hatte Angst, dass ihr ihm etwas antut, und deswegen hab ich ihn befreit.“

    Stille erfüllte für einen Moment das Zimmer. Thomas überlegte, dachte nach und wunderte sich, wie ruhig er blieb. „Ich war bei ihm heute Nacht.“, sagte Jessy mit leiser Stimme. Es war, als könne sie sich plötzlich vorstellen, ihrem Bruder alles zu erzählen. „Er hat gesagt, dass er mir helfen will. Dass ich aus allem mit einem blauen Auge davon komme, wenn ich ihm helfe, euch zu finden.“ Andreas bekam große Augen, und in Thomas reifte der Gedanke, dass der Polizist Jessy ausgenutzt haben könnte. Nur, die Überzeugung fehlte diesem Glauben, warum auch immer. Irgendetwas musste Jessy in ihm gesehen, gespürt haben, denn er wusste dass seine Schwester intelligent war. „Glaubst du ihm?“, fragte er mit prüfendem Blick auf Jessys Reaktion. Sie überlegte… sie überlegte länger als nur eine Minute und sowohl Thomas, als auch Andreas der immer noch stumm im Türrahmen stand, blieben stumm, und ließen ihr Zeit mit ihrer Antwort. „Ich weiß es nicht… ich weiß es wirklich nicht. Aber ich möchte euch nicht verraten. Und ich glaube, das wusste er auch. Und irgendwie waren seine Worte auch ein Grund, warum ich wieder zurückgekommen bin.“ Nun lag es bei dem großen Bruder, überrascht zu schauen und die Augenbrauen ein wenig nach oben zu ziehen. „Er hat gesagt, dass ihr euch Sorgen machen würdet… ich habe ihm erzählt, dass ihr mich vor Papa gerettet hat.“ Thomas verstand nicht ganz, aber er fragte auch nicht weiter. Er war erst mal froh, dass Jessy wieder da war, und er wusste nicht das, was Jessy wusste. Das junge Mädchen fand, dass Kevin sich exakt in Thomas hineinversetzen konnte, weil er ebenfalls auf seine kleine Schwester acht gegeben hat, bis sie ums Leben kam. „Ich will euch nicht verlieren.“, sagte sie mit feuchten Augen und nun konnte Andreas sich nicht mehr in der Tür halten und kam ebenfalls aufs Sofa, setzte sich auf die andere Seite von Jessy, legte ebenfalls einen Arm um sie. Die drei hielten einander fest, als wollten sie sich nicht mehr loslassen, als wollten sie sich in diesem Haus verschanzen, mit der Hoffnung, dass niemand sie findet, so dachte Thomas in diesem Moment…


    Kevin’s Wohnung – 07:30 Uhr

    Kevin blies den Rauch der ersten Zigarette aus dem Wohnzimmerfenster. Es begann gerade hell zu werden, er stand da mit seinem dunkelgrauen, am Hals geschnürten Oberteil und seiner blauen, verwaschenen Jeans, die Haare feucht und durcheinander. Er sah nach draußen auf den schmalen, hellblau-rot gefärbten Rand hinter den anderen Hochhäusern. Vor einer halben Stunde hatte er bemerkt, dass Jessy weg war, hatte auf dem Sofa nur noch die aufgewühlte Decke vorgefunden. Sie hatte sich entschieden… für ihre Brüder. Er hatte es irgendwie geahnt, und der junge Polizist konnte ihr nicht einmal böse sein, denn er wusste genau… er hätte sich wohl genauso entschieden. Blut ist dicker als Wasser, und als Bruder wäre er enttäuscht gewesen, wenn Janine sich gegen ihn gestellt hätte…
    Leider musste Kevin nun der unangenehmen Tatsache ins Auge schauen, dass es wahrscheinlich war, Jessy verhaften zu müssen. Er würde gleich zur Dienststelle fahren, und dort endgültig mit den Informationen rausrücken, die Semir und Ben benötigten, um das Haus zu finden und zu durchsuchen… oder die drei sofort zu verhaften, falls sie noch da waren. Der junge Polizist schnippte die Zigarette aus dem Fenster, zog sich seine schwarze Weste und seine Jacke an, und verließ seine Wohnung.

    Ich hab auch mal wieder aufgeholt... immer noch sehr spannende und toll geschrieben FF.

    Endlich hat Ben sich offenbart und kann auf die Unterstützung seiner Freunde hoffen. Entzug und die Gefahr, die immer noch von den Gangstern ausgeht... da erwarte ich noch viele Probleme auf die drei zukommen.

    Momentan sind ja einige Entführungsstorys richtig in Mode ;-).

    Jetzt wirds langsam kitzelig für Ben. Hoffentlich fällt Semir ein Geistesblitz ein wie er Semir da rausholt. Tolle Kapitel, leider komm ich nicht konstant zum Feeden, werde aber weiterverfolgen.

    PS: Wer bei der nachfolgenden Szene ab dem dritten Absatz vielleicht dazu "Filmmusik" hören will, wie ich sie mir vorgestellt hätte, hört sich das ungefähr ab 0:40 an: http://www.youtube.com/watch?v=w7jkJjCbens ;)

    Kevin's Wohnung - 22:00 Uhr

    Er fühlte sich schlecht, und nicht von Alkohol. Kevin hatte in der Zeit in der Bar nur zwei Cola-Wodka getrunken, und fühlte sich weder betrunken noch angeheitert. Nein, er fühlte sich schlecht von dem, was an diesem Abend passiert war, denn er spürte dass er langsam die Kontrolle verlor, und gerade dabei war alles zu verlieren. Semirs Worte hatten ihn ziemlich beeindruckt, vor allem als er ihm klarmachte, dass er keine Verbündeten hatte, ausser Semir und Ben. Wer sollte ihm helfen bei dem, was er vor hatte bezüglich Jessy. Wer würde ihm selbst helfen, wieder Fuß zu fassen im Polizeidienst, wenn alles rauskommt, was er bisher getan hatte. Eingebrochen in die Gartenlaube, einen Kollegen niedergeschlagen, Informationen zu einer Gewalttäterin und Entführerin zurückbehalten. Kevin fühlte sich alleine gelassen, als er heute mittag mit Jessy sprach, fühlte sich, als hätte er niemanden auf dieser Welt. Doch eben wurde ihm klar, dass er mit Semir und Ben doch noch zwei Menschen hatte, auf die er sich verlassen könne. Die dicht gehalten hatten über seine Drogenprobleme, die ihm vertraut haben, dass er diese in den Griff bekommt. War dieses Gefühl, dass er auf Jessy projeziert hatte, vielleicht doch "nur" dieses "Große-Bruder" - Gefühl? Eben jener Beschützerinstinkt, diese Aufgabe, die er selbst als gescheitert sah seit Janine umgebracht wurde? Der junge Polizist versuchte sich das Gefühl, das er hatte, als er mit Jessy gesprochen hatte, wieder vorzustellen doch es gelang ihm nicht. Was war das, was hatte ihm sein Kopf da vorgespielt?

    Die kalte Luft auf dem Motorrad, die ihn an seiner leichten Jeansjacke zerrte, konnte die Gedanken nicht vertreiben. Er würde heute wieder kein Auge zu machen, das wusste er, denn er versprach sich innerlich heute keine Medikamente oder sonstiges Teufelszeug zu nehmen... ja, er versprach es sich wie so oft vorher. Er versprach es sich nochmal, als er die Treppenstufen nach oben nahm, das kalte Licht im Flur aufflackerte und er das Gefühl hatte, dass die Treppe immer länger und länger wurde. Als der junge Mann auf seiner Etage angekommen war und um die Ecke bog, entglitten ihm beinahe die sonst so coolen Gesichtszüge, seine Augen weiteten sich und sein Mund blieb etwas offen. Grund dafür war die kleine, an der Wand sitzend, kauernde Gestalt, die ungefähr auf Höhe seiner Wohnungstür saß. Sie hatte die Beine an den Leib gezogen, sie mit ihrem Armen umschlungen und den Kopf auf die Knie gelegt. Samtgrüne Augenpaare schauten ihn an, als er mit langsamen Schritten näher kam. Ohne Fessel, ohne Augenbinde strahlte er eine ganz andere Sicherheit aus, als heute morgen. "Wie kommst du denn hierher?", fragte Kevin ein wenig überrascht, als er auf Jessy herabblickte, die ihren Blick nicht von ihm ließ. Mit zwei schnellen Kopfbewegungen schaute er nach links und rechts, als würde er erwarten dass Thomas und Andreas hinter einer Ecke lauerten. "Ich bin alleine, Kevin...", sagte sie beinahe verletzt, als würde der Polizist ihr zutrauen ihm eine Falle zu stellen. Kevin fühlte sich zerrissen, auf der einen Seite freute es ihn Jessy zu sehen, auf der einen Seite war sein Gefühl ein eher ablehnendes... gerade hatte er sich innerlich entschlossen, morgen seine Gefühle zu überwinden und mit seinen beiden Kollegen zusammen zu arbeiten... und nun stand der Grund seiner Befangenheit vor seiner Wohnungstür. "Und was machst du hier?", fragte er erneut, und er erschrak darüber dass seine Stimme so kalt klang. "Darf... darf ich reinkommen?", fragte Jessy, immer noch den Blick nach oben zu Kevin gerichtet. Sie hatte sich das Wiedersehen anders vorgestellt, hatte gehofft dass sich der junge Mann freute, wenn sie zu ihm zurückkehrte. Sie war verzweifelt, nachdem sie von ihren Brüdern weggelaufen war, und nun auf sich gestellt war, und sie suchte in Kevin den Felsen in der Brandung, den sie brauchte.

    Kevin öffnete die Wohnungstür und ließ Jessy den Vortritt. "Willst du etwas trinken?", fragte er, doch das Mädchen verneinte, hatte die Hände tief in der Tasche vergraben und setzte sich auf die kleine Couch. Kevins Vernunft, der versuchte gegen sein Gefühl Widerstand zu leisten, bröckelte, als er sich selbst dicht zu Jessy saß, und sie anblickte. "Du hast dir die Adresse aus dem Ausweis gemerkt, hmm?", fragte er rhetorisch, und das Mädchen nickte. "Was ist passiert?" Jessy seufzte und sah nun kurz auf den Boden. "Ich hab mich mit meinen Brüdern gestritten und bin weggelaufen. Sie haben direkt gewusst, dass ich dich befreit habe.", sagte sie dann zerknirscht und Kevin spürte plötzlich Schuldgefühle in sich aufsteigen. "Oh, scheisse...", murmelte er und fuhr sich mit einer Hand durch die abstehenden Haare. Jessy schaute traurig geradeaus an die gegenüberliegende Wand und eine Gänsehaut befiel sie, als der Mann neben ihr den Arm um ihre Schultern legte und sie ein wenig an sich drückte. "Jetzt hab ich, wie du, auch endgültig niemanden mehr...", murmelte sie leise und spürte wie Kevin ihr sanft über die Haare strich. "Ich hab gehört, dass du immer mal zu deiner Mutter gehst." Jessy schien von Kevins Worten ein wenig aufzuschrecken, als sie plötzlich sagte: "Wer hat dir das gesagt?" "Deine Mutter selbst." "Du warst bei mir zu Hause??" Jessy sah Kevin ein wenig geschockt an. Schämte sie sich, oder war sie wütend auf ihre Mutter, dass sie etwas erzählt hatte. "War mein Vater... war er da, als...", stotterte sie und Kevin legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Hey... keine Angst. Er war nicht da, als sie mir das gesagt hat. Sie macht sich Sorgen um dich... und ich glaube, das machen deine Brüder auch." Mit leicht glänzenden Augen schaute Jessy den fremden und doch so vertrauten Mann an, der nach aussen für sie wie eine Festung wirkte, an der sie sich nur festhalten musste. "Meinst du wirklich?", fragte sie unsicher. "Jessy... deine Brüder haben dich von deinem Vater befreit. Sie haben jahrelang auf dich aufgepasst. Glaubst du, das ist Vergessen weil du jetzt in ihren Augen einen Fehler gemacht hast?" Kevin lächelte ein wenig, doch es war ein trauriges Lächeln. Im Prinzip hatten Jessys Brüder das getan, bei dem er versagt hatte, nämlich auf die kleine Schwester aufzupassen. Sein Lächeln wurde ein wenig bitter. "Wenn Janine solche Brüder gehabt hätte, würde sie noch leben.", meinte er leise und offenbarte sich keinesfalls als starke Festung. Jessy spürte genau, spürte es schon bei der ersten Begegnung, dass diese Selbstsicherheit eine bröckelige Fassade war, und sie Eintritt erhielt, das wahre Gesicht von Kevin zu sehen... und dass er sich immer noch Vorwürfe machte. "Sowas darfst du nicht sagen...", sagte sie obwohl sie keinerlei Ahnung hatte, was damals passiert war. Und sie fragte auch nicht, sie fand dass sie nicht das Recht dazu hatte.

    Für einige Minuten sagten sie nichts... sie saßen da, und schwiegen sich an, Kevin den Arm um Jessys Schultern gelegt, sie ihren Kopf wieder an seinen Körper gelehnt. "Was... was soll ich jetzt tun?", fragte sie dann irgendwann. Eine Frage, die sie sich so oft stellte, aber niemandem stellen konnte. Kevin dachte nach, was sollte er ihr sagen? Falsche Hoffnungen machen, oder die bittere Wahrheit sagen. Fakt war, dass sie, egal was sie tat, ihre Brüder verlieren würde. Selbst wenn Kevin so gut es ging versuchen würde, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.... ihre Brüder mussten über die Klinge springen. "Ich kann nur versuchen, dich so gut es geht zu schützen.", sagte der junge Polizist leise, und es fiel ihm deutlich schwer. "Aber dafür musst du uns helfen, deine Brüder zu finden." Jessy erschrak und nahm den Kopf von Kevins Schulter, sah ihn ein wenig entgeistert an. "Ich soll meine Brüder verraten?", fragte sie ungläubig. "Jessy... nach euch wird bereits gefahndet. Früher oder später werden meine Kollegen euch finden und festnehmen, dann kann ich dir nicht mehr helfen. Mir fällt das auch nicht leicht." Das junge Mädchen spürte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. Ihre Gedanken überschlugen sich und ihr Puls schlug schneller. "Wenn du bei deinen Brüdern bleibst, kannst du all deine Träume begraben. Wenn ich dir helfen kann, dann hast du eine Chance, so wie ich sie hatte." Kevin sah das Mädchen an, und nun fasste sie den Mut doch eine Frage zu stellen. "Was meinst du damit?" "Ich war wie du. Ich war in einer Jugendgang, ich hab Drogen genommen und verkauft, ich hab Einbrüche gedreht... ich war kriminell. Und ein Polizist hat mir geholfen." Jessys Augen wurden größer, mit so einem Geständnis hatte sie nicht gerechnet, doch es würde ihre Entscheidung nicht einfacher machen. Sie drehte sich von Kevin weg, beugte sich nach vorne und stützte den Kopf mit den Armen auf den Knien ab. "Ich werde wirklich alles tun was ich kann, damit du mit nem blauen Augen davon kommst... vertrau mir.", hörte sie Kevins Stimme neben sich, ganz nah. Seine innere Stimme, die Kevin auslachte, hörte sie natürlich nicht. "Du blinder Vollidiot redest von Vertrauen, das du selbst zu niemandem hast.", sagte die innere Stimme und der junge Mann musste ihr recht geben.
    Jessy aber sah sich nicht in Stande, Kevin eine Antwort zu geben. Sie fühlte sich innerlich kaputt und müde, und sah Kevin noch einmal an. "Kann ich... vielleicht nur heute nacht hier bleiben?" "Na klar...", antwortete Kevin in der Hoffnung, dass sie sich morgen früh ausgeschlagen dafür entscheiden würde, ihnen zu helfen. Er sah noch, wie Jessy die Schuhe auszog und sich seilich auf die Couch lag. Sie war müde, und ihr schienen die Augen augenblicklich zu zu fallen. Der junge Polizist stand auf, nahm aus seinem Schlafzimmer Wolldecke und ein Kissen, und als er die Decke über das junge Mädchen lag, schien sie bereits in einen Halbschlaf versunken. Kevin ging vor ihr in die Hocke, und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, bevor er ihr einen sanften Kuss auf die Stirn gab. Jessy spürte es, und lächelte sanft während ihr die Tränen in die Augen stiegen.


    Kevin's Wohnung - 4:00 Uhr

    Jessy war aufgewacht und hatte zuerst nicht gewusst, wo sie sich befand. Der Mond schien nun durch das Wohnzimmerfenster und schemenhaft konnte sie die Küche erkennen. Sie hatte ungut geschlafen, schlecht geträumt und sich immer wieder die Frage gestellt, ob sie wirklich im Stande war, sich zwischen Kevin und ihren Brüdern zu entscheiden. Andreas und Thomas begegneten ihr immer wieder im Traum, wie ihren Vater, der sich an ihr vergangen hatte, verprügelten und Jessy aus dieser Hölle gerettet hatten. Sie fasste einen Entschluß, den sie schon teilweise gestern abend gefasst hatte.
    Leise, ohne Geräusche zu machen stand sie von der Couch auf und schlich durch die Tür ins Kevins Schlafzimmer. Auch hier fiel der Mond ins Zimmer, und das Mädchen konnte den Polizisten genau erkennen. Er lag auf dem Rücken, hatte ein paar Schweißtropfen auf der Stirn, und das Bett wirkte zerwühlt, gab es seinen nackten Oberkörper zur Hälfte preis. Jessy sah, dass er unruhig schlief, und etwas schneller atmete. Ein paar Tränen liefen ihr über die Wange bei dem Gedanken daran, ihn vielleicht nie wieder zu sehen, und sie tropften auf sein Gesicht als sie ihm, fast berührungslos, ihre Lippen nun ihrerseits auf die Wange drückte. Geräuschlos verließ sie dann die Wohnung, und zog die Tür hinter sich zu.