Dienststelle - 14:20 Uhr
Bevor Kevin den zweiten Verhörraum verließ, kamen Semir und Ben aus dem Nebenzimmer, von dem aus sie dem Verhör zugehört hatten. Beide waren einigermaßen aufgewühlt von dem, was sie da gerade mit angehört hatten, und beide wussten nicht recht wie sie dem jungen Polizisten nun begegnen sollten. Als er ebenfalls auf den Flur trat, wusste er dass die beiden Männer zugehört hatten. "Da haben wir unser Geständnis", sagte Kevin nur kurz, völlig ohne freudige Reaktion, und Semir nickte. Thomas hatte alle Überfälle auf die Kiosk-Besitzer zugegeben, sowie die beiden Entführungen. Der Fall war quasi abgeschlossen, doch die Rolle von Jessy war immer noch nicht klar, denn nach wie vor saß sie stumm im Verhörraum. Semir hatte sie absichtlich noch nicht abführen lassen, er sah Kevin stumm an, der den Blick des erfahrenen Kommissars nicht so recht deuten konnte. "Na los... 10 Minuten. Wir schauen, dass die Chefin nicht kommt." Ben sah seinen Freund überrascht an, und Kevin nickte dankend, bevor er in dem Verhörraum verschwand, in dem Jessy saß. Es hatte Semir beeindruckt, wie der junge Polizist mit seinem Entführer gesprochen hat, wie er auf ihn eingewirkt hat. Als er den fragenden Blick seines Kollegen bemerkte, blickte er zu Ben: "Was ist denn?" "Ja, was sollte das jetzt gerade?", fragte dieser verwirrt, denn er war ebenfalls der Meinung dass es nicht besonders gut wäre, Kevin und Jessy nochmal zusammen zu bringen. "Vielleicht bekommt er wenigstens etwas aus ihr heraus.", antwortete der kleine Polizist hoffnungsvoll, und beide Freunde verschwanden wieder in dem Nebenraum.
Jessy blickte nur kurz zu Kevin auf, als dieser in den Raum kam und sich dem Mädchen gegenüber saß. Danach fiel ihr Blick sofort wieder auf die Tischplatte. Kevin beugte sich nach vorne, stützte die Ellbogen auf den Tisch ab und legte den Kopf auf die verschränkten Hände, während seine blauen Augen auf Jessy gerichtet waren. Sie spürte seinen Blick, sie spürte seine Erwartung nach Worten, nach Antworten, nach Erklärungen. Sie erinnerte sich, als sie sich im Keller des Hauses ansahen, miteinander sprachen, einander vertrauten obwohl sie sich fremd waren. Sie erinnerte sich an seine Berührung, ihres Kopfes an seiner Schulter. Doch die Bilder verschwammen.
Mehrere Minuten schwiegen beide, etwas was beide sehr gut konnten, bis Kevin eine Frage stellte: "Warum?" Wieder blickte Jessy kurz auf, bevor ihr Blick wieder fiel. Sie konnte dem Mann nicht in die Augen sehen, denn sie eben erschossen hätte, wenn noch eine Kugel in der Waffe gewesen wäre. Kevins Frage hatte mehrere Anhänge an das Fragewort "Warum", doch zunächst ließ er sie unausgesprochen. Als Jessy aber nicht reagierte, holte er weiter aus. "Warum hast du abgedrückt? Warum bist du abgehauen?" Kevins Stimme war erst recht leise, beinahe enttäuscht. "Warum hast du mir nicht vertraut?" Die Frage bohrte sich tief in Jessys Herz, denn er, Kevin, hatte ihr vertraut... sogar noch als sie die Waffe auf ihn richtete und abdrückte. Ihr Mund öffnete sich etwas, Tränen stiegen in ihre Augen, doch kein Ton verließ ihre Lippen. Der junge Polizist hatte das Gefühl, mit einem zerbrochenen Spielzeug zu reden, mit einer Puppe die jegliches Leben verloren hat, jedes Lächeln, dass sie ihm in der Hütte entgegen brachte im falschesten Moment. "Niemand wollte dass dein Bruder getötet wird, das weißt du selbst auch.", sagte Kevin, nun langsam etwas lauter und energischer. "Es wäre alles gut geworden, wir wären aus dem Haus spaziert, und Thomas hatte sich auch nach dem Schuss nicht widersetzt." Der Kommissar stand ruckartig von seinem Stuhl auf, die Schweigsamkeit von Jessy ließ seinen Adrenalinspiegel steigen. "Und selbst auf dem Feld hättest du mir die Waffe geben können.", sagte er etwas lauter und Jessy schaffte es einfach nicht ihm in die Augen zu schauen, während ihr Tränen über die Wangen liefen. "Du hättest deinen Bruder genauso geschützt wie ich meinen Partner geschützt habe... der seit gestern für mich wie ein großer Bruder ist.", sagte Kevin energisch, und dachte in diesem Moment überhaupt nicht daran, dass Semir im Nebenraum stand und zuhörte. Es war jedenfalls die zweite Gänsehaut, die Semir in diesem Moment befiel, und er reagierte auch nicht auf den scherzhaften Ausspruch von Ben in diesem Moment. "Groß... naja."
Kevins Worte bohrten sich weiter in Jessys Seele, die begriff dass sie alles verloren hatte. Andreas war tot, ihren Bruder Thomas würde sie nicht mehr sehen... und Kevin hatte sie quasi doch erschossen, auch wenn er nicht tot war. Sie zuckte beinahe zusammen, als Kevins Stimme auf dem Höhepunkt seiner Erregung nochmal rief: "Verdammt nochmal, WARUM hast du mir nicht vertraut?", und dabei mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, und sich zu Jessy herunterbeugte. Mittlerweile stand er schräg neben ihr, sah sie an und war emotional völlig aufgewühlt. Er atmete etwas schneller und biss sich innerlich auf die Lippen, vor allem als Jessy immer noch keine Antwort gab, sondern einfach nur still in sich hinein weinte. Semir im Nebenraum war kurz davor das Verhör abzubrechen, aber er sah dass Kevin sich selbst im Griff hatte, denn er richtete sich wieder auf und ging einige Schritte zurück. Offenbar begriff der junge Polizist, dass auch er nichts aus Jessy herausbekommen würde. "Ich hab dir vertraut... bis zum Schluß.", sagte er leise und spielte darauf an, dass er dem Mädchen nicht zutraute, wirklich abzudrücken, als sie die Waffe auf ihn gerichtet hatte.
Kevin seufzte auf. Wieder vergingen eine, zwei Minuten ohne dass die Stille von einem der beiden unterbrochen wurde. Der junge Cop merkte, dass seine 10 Minuten bald abgelaufen sein würden. "Ich kann dir nicht mehr helfen... dabei hätte ich es so gerne getan.", sagte er leise und drehte sich zur Tür um. Gerade als er die Hand um die Klinke legte, hörte er die leise, wie mechanisch klingende Stimme von Jessy. "Es tut mir leid...", wisperte sie nur zaghaft, ohne den Blick zu heben. Kevin drehte sich an der Tür nochmal zu Jessy um. "Was tut dir leid?", fragte er leise, und erhoffte sich eine Antwort... nur eine Antwort, egal was ihr leid tat... dass sie geflohen ist, dass sie abgedrückt hatte... irgendwas. Ohne zu Kevin aufzuschauen wisperte sie deutlich hörbar: "Dass du deine Schwester nicht beschützen konntest."
Der Satz drang tief in Kevins Seele, seine Hand umklammerte die Türklinke und sein Mund stand ein wenig offen vor Betroffenheit. Spielte sie auf sich selbst an, oder auf Kevins leibliche Schwester? Der Polizist war nicht in der Lage, noch einmal nachzufragen, als er wie erstarrt auf das kleine weinende Bündel, das auf dem Stuhl zusammengekauert saß, blickte und dann nur langsam und merklich schwer die Beine bewegte und den Verhörraum hinter sich schließ.
Wie in Trance, ohne die Gespräche und das Gewusel um sich herum wahr zu nehmen ging der Polizist in das Büro von Ben und Semir, die so schnell gar nicht aus dem Nebenzimmer des Verhörraums kommen konnten, um Kevin an zu sprechen. Sie sahen dem Polizisten nur noch nach, und Semir wurde von Ben angehalten, ihm zu folgen: "Lass ihn... ich glaube er muss jetzt kurz allein sein.", sagte er, denn auch er hatte Bekanntschaft mit Kevins Charakter gemacht... und solange er im Büro war, hatten die beiden Autobahnpolizisten ein Auge auf ihn. Semir nickte nur und orderte an, auch Jessy in die Zelle abzuführen.
Kevin saß währenddessen in Semirs Drehstuhl. Er dachte an so vieles und bekam doch keinen klaren Gedanken zusammen. Er dachte abwechselnd an Jessy, Janine und an den Anblick als Andreas blutüberströmt am Boden lag... er dachte an Thomas, der ihm gegenüber saß, und sein Spiegelbild sein konnte. Am liebsten würde der Polizist alles hinwerfen, wenn ihn nur dieses Ziel was er sich gesetzt hatte nicht aufhalten würde, nachdem Janine gestorben war... dass er helfen wollte, dass so etwas nie wieder passiert, dass ein Bruder seine Schwester verliert. Jetzt war Kevin mitverantwortlich dafür, dass eine Schwester, zu der er sich so verbunden fühlte, beide Brüder verloren hatte. Er musste die Dinge aus seinem Kopf bekommen... er musste auf andere Gedanken kommen... er musste wieder arbeiten, um zu überleben.