Beiträge von Campino

    Eieiei, da gehts ab.

    Ben, der Schussel, fährt sich im Morast fest. Naja, kann ja nicht jeder so gut Auto fahren wie André ;) :D . Sowohl Semir als auch Ben werden dann niedergeschlagen und zumindest Ben anscheinend verschleppt. Jaja, der Wald ist ein gefährlicher Ort, wie man zur Zeit feststellen muss ;) .

    Die Verfolgungsjagd hast du super beschrieben, und als Semir im Gras lag konnte man auch die Atmosphäre im Wald schön spüren. Werde die Geschichte weiterverfolgen, hoffe aber dass es nicht wieder ne Folterstory wird ;)

    Im Wagen - zur gleichen Zeit

    Kevin spürte das Gerumpel, wie sein Körper über die harte Metallauflage des Geländewagens im Kofferraum schob, sein Kopf immer mal gegen die Blechwand schlug. Er lag gut verschnürt im hinteren Teil des Wagens, der zum Fahrerraum offen war, das Klebeband wieder auf dem Mund, die Augen wieder verbunden.
    Nachdem Jessy ihn in seinem Raum wieder allein gelassen hatte waren nur wenige Minuten vergangen. Dann kamen sie zurück, Andreas presste dem Polizisten die Waffe ins Genick und versprach dass die Waffe geladen war. Kevin hatte Jessy schon nicht unbedingt geglaubt, dass sie vorher nicht geladen war, und so konnte er sich schlecht wehren. Thomas band ihm die Arme vom Ring, um sie danach sofort wieder mit Kabelbinder zu fesseln... diesmal noch enger und schmerzhafter als zuvor. Die scharfen Kanten drückten sich noch tiefer ins ohnehin schon gerötete Fleisch an Kevins Handgelenken. Die Augen wurden ihm erneut verbunden, die Fussfesseln für den Weg zum Auto gelöst, um sie ihm dort wieder zu verbinden. Jessy hatte die ganze Zeit stumm im Raum gestanden und ihre beiden Brüder dabei beobachtet. Kurz warf Kevin ihr einen Blick zu, bevor ihm die Augen wieder verbunden wurden, auch er blieb stumm und leistete erstmal keinen Widerstand. Er musste warten, bis er seine Chance zur Flucht bekam.

    Irgendwann spürte der junge Polizist, dass die Schaukelei aufhörte, und der Wagen beschleunigte. Offenbar war man auf einer befestigten Straße angekommen. Im Fond war es mucksmäußchenstill, nur Jessy fragte einmal, wo man ihn denn jetzt hinbringe. Einzige Antwort von Thomas war: "Das siehst du gleich." Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Kevin aus. Die drei waren definitiv keine Profis, die würden niemals das Risiko eingehen, für einen Polizisten Lösegeld einzufordern. Aber freilassen würden sie ihn auch nicht einfach so, schließlich konnte er ihre Gesichter beschreiben, und man würde sie wohl schneller verhaften, als sie sich absetzen könnten. Doch waren sie so skrupellos ihn einfach umzubringen? Da hatte Kevin wiederrum seine Zweifel.
    Die Fahrt dauerte an, und der junge Polizist bemerkte nicht, was um ihn herum passierte. Er sah nur Schwärze und fühlte sich wie in einem stickigen Raum, in dem es zu wenig Luft zum Atmen gab... das lag an dem Klebeband auf seinem Mund, sein Atem war schnell und unruhig, beinahe mühsam. Irgendwann hörte er Jessys Stimme: "Können wir ihm nicht wenigstens das Klebeband vom Mund nehmen? Der erstickt uns da hinten ja noch." Sie kniete auf den hinteren Sitzen und sah über die Lehne in den Kofferraum herunter auf Kevin. Irgendwas an dem jungen Mann zog sie magisch an, was sie sich selbst nicht erklären konnte, und sie hatte Mitleid mit ihm. "Bist du wahnsinnig?", fuhr Thomas herum, der seitdem er wusste dass Kevin ein Polizist ist mehr als nur gereizt war. "Was soll er denn machen? Um Hilfe rufen?", fragte das Mädchen und kicherte, bevor sie sich wieder nach hinten drehte, wo Kevin sich ob des Gespräches von der Körperseite auf den Rücken rollte. "Ich hab NEIN gesagt.", rief der Fahrer des Geländewagens ungehalten. "Thomas, sie hat doch recht. Wenn er zuviel labert stellen wir ihn halt wieder ruhig.", hörte Kevin nun die Stimme des Muskelpaketes mit wenig Hirnmasse, Andreas. Diesmal klang er jedoch beinahe vernünftig. Thomas schwankte zwischen Ärger, Verzweiflung und Resignation. Die Situation überforderte ihn merklich, er hatte sich alles viel einfacher vorgestellt. "Macht doch was ihr wollt.", klang seine Stimme müde und er schüttelte den Kopf. Jessy lächelte, schnallte sich vom Sitz ab und stieg über die Rücklehne zu Kevin in den Kofferraum. Der lag auf dem Rücken, hatte die Beine angezogen da der Kofferraum nur begrenzt groß war. Doch man konnte bequem an einer Seitenwand nebeneinander sitzen.

    Der Polizist spürte, wie Jessy sich neben ihn kniete, er konnte ihre Knie an seinen Rippen spüren. Offenbar genoß sie ihre Rolle, mal das kleine süße Mädchen zu spielen, und mal die skrupellose Entführerin wie eben, als sie ihn bedroht hatte. Vorsichtig, ohne Kevin weh zu tun zog sie das Klebeband vom Mund und der Kommissar sog die Luft durch den Mund ein. Sein Kopf fuhr verwirrt herum, den nach wie vor konnte er nichts sehen. Als sich eine kleine Hand auf seine Brust legte, zuckte der muskulöse, aber nicht kräftige Körper von Kevin kurz auf, denn er sah die Hand nicht kommen. "Dein Herz schlägt ganz schnell.", flüsterte die Mädchenstimme so leise, dass ihre Brüder sie durch den Fahrzeuglärm nicht hören konnte... auch weil beide ihren Gedanken nachhingen, wie diese Entführung nun weitergehen sollte. "Hast du Angst?", fragte die flüsternde Stimme mit der Hand auf Kevins pochender Brust, der sich diesen Herzschlag selbst auch nicht wirklich erklären konnte. "Ich werd nicht jeden Tag entführt...", gab er mit seiner markanten Stimme zurück, und drehte den Kopf in die Richtung, aus der Jessys Stimme kam. Ihre Hand erhob sich langsam von seiner, sich hebend und senkenden Brust, und schob die Augenbinde wieder nach oben auf seine Stirn, so dass sich die Blicke sofort trafen, auch wenn Kevin erst einmal von der Sonne, die den Wagen erhellte, geblendet wurde und die Augen kurz zusammenkniff. "Hey, wehe du sagst wieder, ich hätte mir das Band hochgeschoben.", flüsterte er und erinnerte sich daran, wie Jessy ihm dafür die Schuld in die Schuhe geschoben hatte vor einigen Stunden. Sie musste kichern. "Das tut mir leid. Aber du kannst mich doch nicht einfach für so dumm halten, dass ich dich an dein Handy rangehen lasse." Offenbar hatte es sie geärgert, dass Kevin versuchte ihre scheinbare Naivität auszunutzen. Den Fehler würde er nicht noch einmal machen, denn egal wie naiv Jessy tat oder tatsächlich war... sie war absolut unberechenbar.

    Mit Kraft und Anstrengung schaffte Kevin es, sich nach hinten zu schieben und zumindest den Oberkörper mit dem Rücken an die Lehne der hinteren Sitze zu legen, und sich aufzusetzen. Die Lehnen waren hoch genug, dass Andreas und Thomas es nicht sah, dass er keine Augenbinde mehr an hatte. Jessy setzte sich neben ihn, auf dem Rücksitz war sie allein, vor allem weil ihre Brüder gerade keine Lust auf irgendwelche Gespräche hatten. "Ich dachte immer, Polizisten sind spießige Anzugsträger.", flüsterte Jessy und betrachtete den jungen Mann nochmal von oben bis unten. Seine bereits etwas abgelebte Lederjacke, seine stachlige Frisur, seine Ketten um den Hals, seine verschlissene Jeans. Er musste lächeln, wie oft beschwerten sich seine eher vornehmer gekleideten Kollegen bei der Mordkommission über den jungen Kollegen, der manchmal rumlief wie ein Verdächtiger selbst. "Und welche Verbracher jagst du so?", fragte sie neugierig. Was wurde das hier, waren Kevins Gedanken? Es war eine surreale Situation, ein Gespräch wie bei einem Flirt in der Discothek, allerdings war sie eine Entführerin, und er ihr Opfer. Aber etwas Vertrauen aufbauen konnte ja nicht schaden. "Ich war bei der Mordkommission.", antwortete er wahrheitsgemäß. "War?" "Momentan mache ich nichts." Er sah aus dem Heckfenster und sah nichts als blauer Himmel und ein paar weiße Wolken. "Und warum nicht?", fragte Jessi und lag ihre Hände auf ihre Jeans, die einige Löcher hatte. Kevins ernstes Gesicht bewegte sich hin und her, weil er den Kopf schüttelte. Die Wahrheit wollte er sicher nicht erzählen. "Ich muss mal was Neues machen.", war seine ausweichende Antwort. Glücklicherweise redete Jessy jetzt selbst, und was sie sagte überraschte den Polizisten und berührte ihn auch. "Ich wollte immer Lehrerin werden.", sagte sie und sah ebenfalls mit leuchtenden Augen aus dem Fenster. "Oder Krankenschwester. Irgendwas mit Leuten oder Kindern." Der junge Polizist spürte innerlich, dass sie das Leben, das sie jetzt lebte, selbst nicht gewollt hatte. "Und... warum bist du es nicht?", fragte er ehrlich und sah Jessy von der Seite her an, so dass er ihr Profil und ihre Gesicht von der Seite sah. "Ach...", meinte sie mit etwas trauriger Stimme... "weißt du... das ist schwierig...", dann wurde sie unterbrochen davon, dass der Geländwagen wieder verlangsamte und anhielt. In der Begegnung hatten beiden nicht mitbekommen, dass Thomas mehrmals abgebogen war und jetzt vor einem alten, größeren Haus anhielt. Jessy schien das Haus zu kennen als sie aus dem Fenster sah. Sie sah Kevin ein wenig mitleidig an und zog ihm die Augenbinde wieder herunter, um dann wieder über die Sitzreihe nach vorne zu klettern.

    Wald - 11:15 Uhr

    Der Weg war nicht besonders weit von Kevins Wohnung aus entfernt. Semir fuhr durch einige Seitenstraßen und gelang dann auf einen Forstweg. Er war gesäumt von den ersten blühenden Blumen und leicht grünlichen Büschen, bevor die ersten Bäume kamen... noch etwas licht, aber man spürte dass langsam der Frühling einsetzte. Der BMW wackelte über den Feldweg hin und her, er war für diese Art der Straße nicht unbedingt ausgelegt. Ben konnte das beklemmende Gefühl im Magen nicht wegdiskutieren und der junge Polizist sah stumm aus dem Auto hinaus. "Was will er hier im Wald? Jogging?", überlegte Semir laut und bog in einen weiteren Waldweg, in Richtung der betreffenden Funkzelle. "Ich hoffe es...", murmelte Ben und wurde von seinem Freund angeschaut. Semir verstand Ben, auch er machte sich Sorgen um den jungen Kollegen und er wusste auch dass Ben und Kevin sich enger angefreundet hatten bei diesem schicksalshaften Einsatz im Winter. Andrea hing am Telefon und konnte mithören, Semir hatte die Freisprecheinrichtung eingeschaltet. "Ihr müsstet gleich an eine Gabelung kommen, dort müsst ihr rechts fahren.", kam ihre Stimme aus dem Radio und ihr Mann konnte die Gabelung bereits sehen. Der Wald wurde dichter, die Luft kühler. Am Wegesrand blühten erste Blumen, die Bäume bekamen erstes Blätterkleid und die Vögel trauten sich langsam, ihren alltäglichen Gesang anzustimmen. "Jetzt beginnt die Zelle direkt rechts von euch. Sie ist leicht ovalförmig, ca 1 km lang und 700m breit.", wies die Sekretärin der Autobahnpolizei die beiden Polizisten an und Semir stoppte den Wagen. "Da müssen wir zu Fuß gehen. Wir melden uns wieder." "Alles klar." Auch in Andreas Stimme lag ein weing Sorge um Kevin, bevor sie den Hörer auflegte.

    Als die beiden Autobahnpolizisten ausstiegen empfing sie der Wald mit seiner frischen, etwas kühlen Luft und vielen Vogelstimmen, die in den blühenden Bäumen saßen. Ben spürte, wie seine Hände ein wenig feucht und eiskalt waren, als die beiden den Wald durchstreiften und sich aufmerksam umsahen. Irgendwie hatte Ben ständig das Gefühl, dass er hinter einer Baumgruppe Kevin mit einem Strick um den Hals am Baum hängen sah und er versuchte krampfhaft, sich und seinen Atem zu beruhigen. Unter ihnen raschelte der Waldboden, der Sand, und noch viele alte braune Tannennadeln, die den Winter überstanden hatten. "Versuch nochmal anzurufen.", meinte Semir nach einer Viertelstunde. Ben ergriff sein Handy, wählte Kevins Nummer und wartete. Sofort kam die Mailboxansage, ein Signal dafür dass das Handy ausgeschaltet war. Der junge Kommissar ließ den Arm sinken und schüttelte resignierend den Kopf. Dann erblickte er sie. Sie lag hinter einen Baumgruppe und war wegen ihrer bräunlich-grünen Farbe sehr schwer zu erkennen. "Schau mal, da hinten ist eine Hütte.", sagte er zu seinem Kollegen und richtete den Arm in die betreffende Richtung. "Lass uns mal schauen."
    Mit mulmigen Gefühl schritten die beiden Polizisten zur Hütte. Es war eine Art Gartenhäuschen, ein wenig größer, und man konnte sicher einige Zeit hier verbringen. Die Holztür war verschlossen, einige Fenster mit Kreuzgitter waren allerdings mit Moos bewachsen und schlecht durchschaubar. Ben versuchte einen Blick hinein zu werfen, konnte aber nichts rechtes erkennen. Semir, der um die Hütte herumschritt, erschrak plötzlich als er auf etwas hartes trat, was ein wenig krachend nachgab. Er blickte nach unten, ging in die Hocke und hob den Gegenstand auf. "Scheisse...", murmelte er und Ben sah zu seinem Freund, der stumm den Gegenstand hochhielt, damit Ben ihn sah. Der ließ den Mund offenstehen, die Augen wurden groß und für einen Moment verharrte er zur Salzsäule. Kevins Handy... Spätestens jetzt war klar, dass hier etwas nicht stimmte.

    Semir steckte das Handy in die Tasche und zog seine Waffe. Ben tat es ihm gleich, es war eine stumme Kommunikation zwischen den beiden langjährigen Freunden als sie langsam zu der Holztür gingen. Sie wollten es riskieren einen Blick in die Hütte zu werfen. Der große Kommissar hoffte, dass sie Kevin drinnen finden würden - und irgendwie hoffte er es auch nicht. Semir nickte und sein Partner trat mit einem wuchtigen Fußtritt gegen die Tür. Das Holz am Rahmen gab sofort nach und splitterte, die Tür wurde durch nichts mehr gehalten und ging nach innen auf. Vorsichtig, mit gezückten Waffen durchschritten die Polizisten den karg eingerichteten Raum. Ein Tisch, drei Stühle, eine Matratze... sonst nichts. Keine Hinweise auf dem Boden, kein Hinweis darauf dass Kevin hier war. Semir schritt zu einer weiteren Holztür, die entweder wieder nach draussen würde oder in einen zusätzlichen Raum. Vorsichtig umgriff er die Klinke und mit der anderen Hand fasste er seine Waffe fester. Sein Atem war ruhig, er zwang sich dazu als er langsam die Klinke nach unten drückte und die Tür öffnete. Ein weiterer, viel kleinerer Raum, in dem sich nichts und niemand befand. Semir atmete durch, sah sich kurz um, doch ausser einem Stahlring an der Wand war nichts was ihn interessierte vorhanden. Ben erschien hinter ihm im Türrahmen, als der kleinere Polizist den Stahlring begutachtete. "Da könnte man durchaus jemanden festbinden.", sagte er murmelnd. Ein zustimmendes Nicken ging von Ben aus, der sich beinahe sicher war dass Kevin hier war... aber wo war er jetzt? Beide Polizisten waren mehr als nur bedrückt, als sie den Weg zurück zum Auto antreten wollten, als Semir plötzlich stehenblieb. "Schau mal.", rief er aufgeregt. "Hier sind jede Menge Reifenspuren!"

    Kevins Wohnung - 10:45

    Semir fuhr nicht in übertriebener Eile, er ließ es aber auch nicht gerade langsam an, als er und Ben auf dem Weg zur Hochhaussiedlung war, die in Köln keinen besonders guten Ruf hatte. Beide waren damals regelrecht geschockt gewesen, als sie zum ersten Mal bei Kevin waren und sahen, in welchem "Loch" er hauste, doch irgendwas in ihnen sagte ihnen... es passt auch zu Kevin. Zu dem würde kein Penthouse oder ein kleines Einfamilienhäuschen passen, hatte Ben damals angemerkt.
    Die Fahrt verlief weitestgehend still, Ben machte sich doch mehr und mehr Sorgen um Kevin, Semir ebenfalls, doch dessen Sorgen wurden geteilt weiterhin mit den Gedanken, die er sich um André machte, und er sich dorthingehend langsam einen Plan zurecht legen wollte. Doch das sollte noch sein Geheimnis bleiben, beschloß er als er auf dem Parkplatz des großen Hochhauses stehen blieb, das jetzt im Frühling irgendwie wohnbarer aussah als im trostlosen Winter. Zwischen den Wohnsilos wurden die Bäume grün, der ein oder andere Schmetterling flog umher und die Sonne erwärmte den Tag allmählich. Als die beiden Polizisten durch die schwere Haustür ins Treppenhaus ging holte sie die Realität dieses Ortes wieder ein. Innendrinn roch es unangenehm nach abgestandenen Rauch und Farbdosen, die einer der Bewohner offen in den Flur gestellt hatte. "Ich weiß nicht, ob das so gut ist, dass er hier immer noch alleine wohnt.", murmelte Semir, während sie die knarzigen Treppen hochstiegen... den Aufzug wagten sie nicht zu benutzen. "Wenn er es so will...", meinte Ben zur Antwort und sah sich um, als sie im betreffenden Stockwerk angekommen waren. Als sie zu Kevins Wohnungstür gelangten, atmete Ben kaum hörbar auf. Die Wohungstür war verschlossen, nicht aufgebrochen oder stand halboffen wie damals, als er mit André hierher kam und nur Blutspuren vorfanden. Mit den Fingerknöcheln pochte der Kommissar gegen die Tür und wartete. Kein Laut drang nach draussen, er hörte keinen Fernseher, keine Dusche, kein Gepolter dass jemand zur Tür kam, um sie zu öffnen. Nach einigen Minuten sprach Semir das auch, was Ben dachte: "Nichts... gehen wir rein?" "Meinst du, es ist nötig?" Ben wollte die Gedanken nicht zu Ende denken, denn sie befürchteten beide dass Kevin vielleicht einen Rückfall hatte. "Wenn wir uns nicht weiter Sorgen machen wollen, dann ja.", meinte sein Partner mit ernstem Gesichtsausdruch und zog seinen Dienstausweis um die Holztür aus den 70ern ohne Probleme zu öffnen.

    Kevins Wohnung sah immer noch so aus wie vor anderthalb Monaten, schlicht eingerichtet, keine besondere Unordnung. Ben bekam feuchte Hände, als er in Richtung des Badezimmers ging und seine Hand auf die Klinke legte. Langsam, ganz langsam drückte er sie nach unten und warf einen Blick hinein. Der Duschvorhang war offen, aber es befand sich niemand im Bad. Er atmete auf. "Im Schlafzimmer ist auch niemand.", hörte er seinen Freund und Partner sagen, als er zurück ins Wohnzimmer kam. Mit schnellen Schritten ging er zur Küche und schaute in mehrere Schränke hinein. "Was machst du da?", fragte ihn Semir erstaunt. "Ich will nur mal etwas schauen...", bekam dieser zur Antwort. Ben wollte sichergehen dass Kevin keinerlei Pillen mehr bei sich hatte, es würde ihm vielleicht ein wenig die Sorge nehmen, wenn er nichts finden würde. Auch Semir sah sich um, seine Augen blieben an einem Bild haften. Er ging zu dem kleinen Regal und nahm den schwarzen Rahmen in die Hand. Auf dem Bild war ein junges Mädchen, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt, ungewöhnlich hübsch mit einem befreienden, etwas schüchternen Lachen auf dem Gesicht. Ihre schwarzen Haare trug sie offen, ein paar Strähnen hingen ihr über die lebensfrohen, aber ebenfalls etwas ängstlich wirkenden Augen. Hinter ihr stand ein Junge, einige Jahre älter, hatte helle blaue Augen und trug die Haare länger und noch wilder durcheinander als heute. Unterhalb des Haaransatzes trug er ein Tuch als Stirnband und einige Haare hingen ihm darüber und in die Augen. Er schien gerade aufzulachen, ein befreites unbeschwertes Lachen. Der Junge war Kevin, wie Semir sofort an den Gesichtszügen und den blauen Augen erkannte. So hatte er den Polizisten bisher niemals lachen gesehen. "Schau mal.", meinte Semir seltsam leise, beinahe andächtig und Bens Kopf erschien hinter der Küchenanrichte. Langsamen Schrittes kam er zu Semir, nahm das Foto in die Hand und betrachtete es. "Wo hat das gestanden?", fragte er, ebenfalls leise, und Semir deutete auf den leeren Platz. "Das hatte damals, als ich in der Wohnung war, noch nicht hier gestanden.", meinte Ben und stellte es zurück. Ihm war unwohl, hier ohne triftigen Grund in Kevins Vergangenheit zu schnüffeln. Sie vermuteten ja nur, dass etwas passiert war. "Das würde eher dafür sprechen, dass es ihm besser geht. Dass er wieder ein Bild seiner Schwester aufstellt, wenn es seine Schwester ist.", meinte Semir nachdenklich und betrachtete das Bild erneut. Die Augen würden dazu passen, dachte er noch doch sein Freund nahm ihm die Denkarbeit ab. "Es ist seine Schwester." "Hast du schon mal ein Bild von ihr gesehen?" "Ja... das heißt, sowas ähnliches." Ben druckste ein wenig herum als Semir ihn ein wenig verwirrt ansah. "Er hat das Konterfei seiner Schwester auf dem Rücken. Als ich ihn damals hier schlafend gefunden hab, hatte ich es gesehen." Kurze Stille erfüllte den Raum, und der erfahrene Polizist nickte. Dieses Detail hatte Ben ihm nicht erzählt, aber er wollte jetzt auch nicht darauf herumreiten. Nun waren beide etwas ratlos. Nur eine Möglichkeit blieb noch. "Lass uns das Handy orten. Wir müssen ihm es ja nicht sagen.", sagte Semir und Ben nicke sofort zustimmend. Wenn man nur wusste dass es ihm gut geht.

    Auf dem Weg nach unten rief Semir sofort Andrea an, da Ben sein Handy im Auto liegen hat lassen. Als er es auf dem Weg zum Auto bemerkte, ärgerte er sich darüber. Als Semir sein Anliegen an seine Frau schilderte, lag auch in ihrer Stimme sofort ein wenig Sorge um Kevin. Sie hatte bisher eher weniger mit ihm zu tun, aber sie hatte den stillen Mann sofort in ihr Herz geschlossen, als sie seine Geschichte kennengelernt hatte. "Du weißt schon, dass ich dafür normalerweise eine richterliche Anordnung brauche.", sagte sie in ihr Headset, doch ihre Finger flogen bereits über die Tastatur, um Kevins Nummer in das Programm einzutragen. "Mein Schatz, die liefern wir selbstverständlich nach.", meinte Semir ironisch, als er ins Auto einstieg. Ben griff sofort nach seinem Handy und sah aufs Display. "Verfluchte Scheisse.", empfuhr es ihm und er drückte sofort die Wahlwiederholtaste, um die Nummer anzurufen, von der er einen Anruf in Abwesenheit hatte... nämlich die von Kevin. Semir schaute verwirrt, während er mit Andrea telefonierte, die ihm ein kurzes: "Warte nen Moment.", durch den Hörer flötete. Ben schüttelte den Kopf, als er den Arm wieder sinken ließ. "Ausgeschaltet.", sagte er zu seinem Freund, der sofort verstand... Kevin hatte wieder versucht anzurufen und hat jetzt das Handy aus. Nach einigen Minuten konnte Semir die Stimme seiner Frau wieder vernehmen. "Die letzte Funkzelle, in die das Handy eingebucht war zeigt über ein Waldstück. Sie ist recht klein, ich kann euch hinlotsen." Semir startete den BMW und Ben schnallte sich an. Ein Waldstück, mitten im größten Wald in Stadtnähe... das hörte sich nicht unbedingt beruhigend an.

    Hütte im Wald - 10:45 Uhr

    Jessi hatte der Versuchung widerstanden noch einmal zu Kevin in den Raum zu gehen. Irgendwie wusste sie selbst nicht, was sie zu dem fremden Mann zog, warum sie ständig zur Tür blickte und warum sie noch zweimal durchs Schlüsselloch sah, wobei sie nichts als seine Handgelenke erkennen konnte. War es die Macht, die sie über ihn hatte, ein völlig neues Gefühl für das junge Mädchen, das sonst immer eher gelenkt wurde von ihren Brüdern, und nur selten ihren eigenen Willen durchsetzen konnte? Oder war es was anderes? Das Buch wieder in der Hand saß sie auf der Matratze, doch die Buchstaben vor ihren Augen sprangen immer wieder durcheinander, sie konnte sich auf keine drei Sätze in Folge konzentrieren.

    Einige Minuten später hörte sie erneut das Dröhnen eines Autos. Ihre Brüder kehrten zurück, ihre Mienen, als sie die Hütte betraten, zeigte gestresste Gesichter. Offenbar waren sie sich immer noch nicht einig, wer nun schuld an der zweiten Fahrt zu dem Waffenhändler hatte. "Vergessen hat er sie.", äffte Andreas offenbar den Händler selbst nach und bekam postwendend laut Antwort von Thomas. "Ja, vergessen hat er sie. Er hat sie uns sofort gegeben, da muss man dem Kerl doch nicht gleich die Nase brechen." - "Du hast doch gesehen, dass der mir quasi in die Faust gelaufen ist.", moserte der kräftige Hüne und ließ die Tasche auf den Tisch fallen. Thomas wuchtete die Tür zu und schlug eine Hand in die andere. "Genau. Irgendwie laufen sie dir alle dauernd in die Faust." Jessi kicherte ob der Kabbelei der beiden Brüder, sagte aber nichts, bis Thomas sich erkundigte ob alles okay hier sei. Sie nickte lächelnd und meinte: "Ich hab ihn zwar ein paar mal gehört, aber er ist bestimmt noch da." Thomas nickte und ging in Richtung Tür, drehte den Schlüssel und ließ die Tür aufschwingen. Was er sah gefiel ihm ganz und gar nicht und seine Miene wurde noch ärgerlicher als sie sowieso schon war. "Wieso hat der Typ die Augenbinde den oben?", brüllte er in den großen Raum hinein. Kevin sah zu dem Kerl auf, den er bisher nur bei dem Überfall kurz gesehen hatte und begann heftiger an den Kabelbindern zu zerren. Jessi und Andreas kamen zu Thomas an den Türrahmen und das junge Mädchen machte ein erstauntes Gesicht. "Die muss er wohl irgendwie sich abgestreift haben.", sagte sie mit missbilligen Blick auf den Polizisten, dessen Bewegungen sich auf einmal einstellten, und seine Stirn sich mit Blick auf das Mädchen in Falten zog, als wolle er sagen: "Was redest du da?" Thomas warf einen Blick auf seinen Bruder, eine stumme Kommunikation. Andreas nickte und trat in den Raum. "So, du willst also unbedingt Ärger mit uns haben.", raunte er und blitzschnell landete er eine rechte Gerade in Kevins Gesicht, der nichts tun konnte ausser die Muskeln anspannen und aufstöhnen. Sofort lief dem jungen Polizisten Blut aus der Nase, er atmete durch diese schneller, es lief ihm über das silbern glänzende Klebeband. Der Schmerz pochte ihm durch die Stirn, nahm nur langsam ab. Doch das Blut, dass ihm nun aus der Nase lief, machte ein Atmen noch schwerer als es sowieso schon war. Nur langsam drehte sich sein Kopf wieder nach oben, und ein kalter Blick traf Jessi, die sich beim Schlag noch kurz weggedreht hatte, nun aber seinen Blick mit einem leisen Lächeln erwiderte. "Na komm. DU wirst noch genug Gelegenheit haben.", meinte Thomas zu Andreas und schob dabei Jessi aus dem Raum. Andras verschloss die Tür wieder und lies Kevin blutend zurück.

    Der Anführer der Geschwister schnappte sich das Handy des Kommissars und navigierte sich durch die Menüs in die Kontaktliste. "Hmm, viele Freunde scheint der Typ nicht zu haben.", murmelte er und sein Gesichtsausdruck wurde wieder ein wenig freundlicher, zumindest der Ärger verschwand. Er markierte mit den Fingern den Namen "Ben" und ließ die Nummer wählen. "Dann schauen wir mal, was der Typ seinem 'Bekannten' wert ist?", scherzte er und betonte das Wort "Bekannter" deutlich, zwinkerte dabei seinem Bruder zu. Er lehnte sich zurück, legte die Füße auf den Tisch und wartete bis sich eine Stimme meldete. Doch die einzige Stimme, die sich nach einigen Freizeichen meldete war die einer Mailbox. Mit einem Grummeln beendete der Verbrecher das Gespräch und sah in das gespannte Gesicht seiner Schwester. "Mailbox.", sagte er einsilbig und wählte den Kontakt darunter, der lautete "Ben - Arbeit". Wieder das Tuten, wieder warten. Andreas fingerte sich währenddessen eine Zigarette aus der Schachtel, Jessi sah ein wenig aufgeregt zu ihrem großen Bruder, der das Handy ans Ohr hielt. Als sich eine weibliche Stimme meldete gefror Thomas das Blut in den Adern. "Gerkhan, Autobahnpolizei Apparat Jäger." Andrea hatte den Anruf weitergeleitet bekommen, weil Ben nicht an seinen Apparat ging. "Hallo?" klang durch den Hörer noch, den Thomas langsam mit seinem Arm nach unten senkte und wie apathisch mit einem Fingerstreich das Gespräch beendete. Das Handy sank auf den Tisch, und der Gesichtsausdruck des Mannes konnte sich nicht entscheiden zwischen Wutausbruch und Verzweifelung. Andreas nahm wie in Zeitlupe die Zigarette aus dem Mund, Jessi fand als erstes die Stimme wieder: "Was ist los? Wer war da dran." Jessis Bruder sah seiner Schwester zuerst in die Augen, dann zu Andreas. "Das waren die Bullen. Der Freund von dem Typ arbeitet bei den Bullen." Jessi lachte zuerst auf, verstummte dann aber als sie sah, dass ihr Bruder die Sache gar nicht lustig fand. "Ja und? Ruf den nächsten an.", meinte Andreas und kam mit seiner Kippe im Mund zum Tisch. "Was ist, wenn der Typ auch ein Bulle ist?", fragte Thomas, und wusste gar nicht warum er plötzlich diese Ahnung hatte. Eigentlich war es absurd... die Wahrscheinlichkeit dass ihre Geisel einfach nen Bekannten hatte, der Polizist war, war um ein vielfaches höher, als dass er selbst Polizist war. Das Erscheinungsbild des Typen würde dagegen sprechen, die Art und Weise wie er versuchte der Frau im Park zu helfen allerdings auch wieder dafür. "Ach Quatsch.", wiegelte Andreas ab und machte eine abwertende Handbewegung. Für einen Moment blieb Thomas unbewegt dort sitzen, dann kam plötzlich Bewegung in ihn.

    Er sprang vom Stuhl auf, ging schnellen Schrittes in Richtung der Holztür und drehte den Schlüssel wieder um. Jessi bekam ein mulmiges Gefühl und ging ihrem Bruder hinterher, allerdings ohne ihn aufzuhalten. Thomas bückte sich zu Kevin, der überrascht aufblickte und keinerlei Anstalten machen konnte, sich irgendwie zu wehren, als er mit einer Hand fest am Kragen gepackt wurde und ihm mit einem Ruck das blutverschmierte Klebeband von den Lippen gerissen wurde, und er einen zischenden Schmerzlaut nicht verbergen konnte. Die Augenbinde war jetzt sowieso unnötig. "Warum hast du die Nummer eines Bullen in deinen Kontakten, hä?", fragte Thomas mit drohendem Unterton. Kevin atmete schnell und genoß es für einen Augenblick wieder durch den Mund atmen zu können. "Ruf an und frag ihn.", japste er und sah den Mann nur aus den Augenwinkel an, der so langsam die Beherrschung verlor. "Ich schwör dir, ich lass dich 10 Minuten mit meinem Bruder alleine hier drin, wenn du keine Antwort gibst." Kevins Gehirn drehte sich... welchen Vorteil gab es ihm wenn er zugab, dass er ein Bulle ist, welchen Nachteil hatte er dadurch. Die drei waren Anfänger, Kleinkriminelle die keine Ahnung hatten. Würden sie in Panik geraten, wenn sie wüssten, dass er Bulle ist? Würden sie ihn laufen lassen? Wohl kaum. Aber sein Dienstausweis steckte in seiner Brieftasche, den Jessi eben nicht gesehen hatte. Würde er lügen würden sie den Geldbeutel durchsuchen, den Ausweis hatte er damals nicht abgegeben. "Na los!", schrie Thomas Kevin ins Gesicht und schüttelte den Polizisten kurz bis der Thomas genau ansah und zischte: "Mann, weil ich selbst ein Bulle bin, du Idiot!" Thomas blickte hektisch zwischen den Augen des Polizisten hinterher, seine Zähnen knirschten aufeinander und er wusste nicht ob er loslassen oder zuschlagen sollte. "Ach du heilige Scheisse... Thomas... was...", stotterte Andreas und auch Jessi verlor für einen Moment die Farbe im Gesicht. "Der... der Typ hat... hat zweimal versucht zurück zu rufen, Thomas." Kevins Atem beruhigte sich, während der Kerl ihn weiter am Kragen festhielt. Gott sei Dank, irgendwann würden Ben und Semir daraufkommen, dass etwas nicht stimmt und versuchen ihn zu orten. Die gleichen Gedanken hatte sein Gegenüber. Er hatte von Handyortung und solchen Dingen gehört. Ginge es um einen Kollegen würden die Bullen alles tun, um ihn zu finden. Er stieß den Polizisten nach hinten und stürmte aus dem kleinen Raum, wobei er seinen Bruder mit rauszog und hektisch zu Jessi sagt: "Knebel ihn wieder und sperr die Tür wieder zu." Dann verschwand er mit Andreas nach draussen vor die Tür.

    Jessi schnitt ein neues Stück Klebeband ab, als sie Kevins Stimme hörte. "Warum hast du das gemacht?" In seiner Stimme lag keine Wut, sondern Ratlosigkeit, warum Jessi nicht sagte, dass sie ihm die Augenbinde abgenommen hatte, und den Polizisten stattdessen auflaufen ließ. Doch sie zuckte nur mit den Schultern, als sie mit dem Streifen Klebeband näher kam. Kevin wehrte sich nicht, sondern sah Jessi nur in die Augen, als diese zu lächeln begann und das Klebeband sanft und ohne viel Druck auf seine Lippen drückte. Dabei sagte sie mit sanfter Stimme: "Ich hätte dich nie für einen Bullen gehalten." und strich, bevor sie den Raum verließ, Kevin fast schon zärtlich über die Wange.

    Dienststelle - 10:15 Uhr

    Ben strich sich mit der linken Hand über den Hemdstoff seines rechten Arms, der schräg nach oben gewinkelt war, das Handy in der Hand ans Ohr hielt. Er hörte das regelmäßige Zeichen dafür, dass Kevins Handy klingelte aber niemand abnahm. "Wo steckt der bloß?", murmelte er leise in den wärmer werdenden Wind. Es würde ein schöner Frühlingstag werden, der Nebel hatte sich verzogen und die Sonne setzte sich durch. Der junge Kommissar konnte es sich nicht erklären, aber irgendwas setzte ihm ein mulmiges Gefühl in den Magen nach Kevins ominösen Anruf heute Morgen. Was hatte das zu bedeuten, warum hatte er klingeln lassen und ging dann nicht ran, bzw sagte nichts. Nach 1 Minute legte Ben wieder auf, schob das Smartphone in die Jeans und seufzte. Er machte sich immer noch ein wenig Sorgen um seinen jungen Kollegen, der psychisch nur nach aussen hin stark war. Ben konnte aber bereits hinter die Kulisse blicken und erkennen, wie sensibel und zerbrechlich Kevin wirklich war, und was er in seinem jungen Leben schon mitgemacht hatte. Die Angst, dass er wieder zurückfallen würde in alte Verhaltensmuster war bei Semir wie auch bei seinem Kumpel immer noch präsent, weshalb die beiden Kevin öfters dazu drängten, mal aus seiner schäbigen Wohnung heraus zu kommen, und mit ihnen etwas zu unternehmen. Es war nicht immer von Erfolg gekrönt, aber zumindest konnte er den jungen Polizisten dazu bewegen, mal auf ein Rockkonzert zu gehen. Mit der Musik konnte Ben ihn öfters kitzeln, war er auch zweimal bei Kevin in der Wohnung um ihm neue Songs vorzuspielen, denn beide hatten ungefähr den gleichen Geschmack. Dabei merkte der Hobby-Musiker, dass sein neuer Kollege durchaus Talent hatte, wenn es darum ging Gedanken in Liedtexte zu packen.

    Jetzt betrat er die Dienststelle wieder, und seine Miene drückte einige Sorgen aus. Andrea lächelte ihn an und nickte stumm. Ein kurzes Zeichen, dass sie mit Semir gesprochen hatte und das Gespräch offenbar positiv war. Er würde sie später fragen, dachte der Polizist als er die Glastür hinter sich schloß und sah, wie Semir eine Excel-Tabelle, vermutlich die Urlaubstabelle, bearbeitete. "Fährst du in Urlaub?", fragte er, als er sich auf den Stuhl fallen ließ. "Hmm... mal sehen. Vielleicht kurzfristig mit Andrea... ein paar Tage.", antwortete Semir, und schien in Gedanken versunken zu sein, während er auf den Bildschirm starrte. "Und wo solls hingehen?", meinte sein Freund, der ebenfalls den Monitor anschaltete und sich mit der Maus ins polizeiinterne Intranet navigierte, um dort die Mitarbeiter der Mordkommission aufzurufen. In einer langen Liste erschienen Namen und zugehörige Telefonnummern der einzelnen Abteilungen. "Weiß ich noch nicht.", war die kurz angebundene und lapidare Antwort von Semir. Ben blickte kurz auf und verstand... er musste sich daran gewöhnen dass sein Partner seit einiger Zeit öfters mal für sich sein wollte und keine Lust auf Gespräch hatte. Er presste die Lippen zusammen und widerstand dem Drang, weiter zu fragen. Stattdessen suchte er die Telefonnummer von Kevins Büroapparat heraus und wählte diese kurzerhand von seinem eigenen Apparat. Sofort blickte Ben überrascht, resignierend auf als auf dem Telefondisplay das Signal erschien, dass seine Nummer zum Apparat von Erwin Poltz weitergeleitet wurde, der auch gleich darauf abnahm und ein gelangweiltes "Poltz" durch den Hörer schickte. "Hallo, Ben Jäger von der Kripo Autobahn." Es war, als könne Ben hören, wie sich Poltz' Miene um drei Stufen verfinsterte. Er hatte damals schlechte Erfahrungen mit Anna Engelhardt gemacht, die ihm damals kurzerhand seine Grenzen aufgezeigt hatte, und der Mordkommission den damaligen Fall um André entzogen hatte. "Ja, was ist?", fragte er unfreundlich und Ben konnte durch die Muschel hören, wie er sich am Bart kratzte. "Ich wollte Kevin sprechen. Ist er unterwegs?", fragte Ben, so freundlich wie nur irgendwie möglich. "Ne, ist nicht da.", kam schmallippig eine Antwort. Ben wartete kurz, ob auch noch genauere Informationen durch die Leitung flossen, doch ausser Atmen, was an eine zu dicke hechelnde Bulldogge erinnerte, kam nichts mehr. "Sonst noch was?", bellte es dann als Ben sich bereits eine freche Antwort zurechtlegte, dann aber doch die Freundlichkeit walten ließ: "Wann ist er denn wieder im Büro?" "Gar nicht mehr. Der hat sich freistellen lassen und wollte die Abteilung wechseln." Ben zog die Augenbrauen nach oben. Davon hatte Kevin gar nichts erzählt... aber vielleicht war es auch erst vor kurzem. "Und bevor du fragst...", schoß es unfreundlich aus dem Hörer... "ich weiß nicht wohin, und es interessiert mich auch nicht." Die Hand des Polizisten krampfte sich um den Hörer als die Wut in ihm aufstieg, und seine Miene verfinsterte sich, dass sogar Semir kurz von seinem Urlaubsplan aufblickte. "Ist sonst noch was?" - "Nein danke.", antwortete Ben mit unterdrückter Wut und ließ den Hörer auf die Kabel fallen. Auf eine Verabschiedung verzichtete er komplett. "So ein dummes ... ", murmelte er, als er bemerkte dass Semir herrüber blickte. "Mit wem hast du telefoniert?", fragte er, halb interessiert, halb aus Freundlichkeit. Doch statt auf die Frage zu antworten gab Ben gleich Informationen weiter. "Kevin ist nicht mehr bei der Mordkommission. Hat sich freistellen lassen, und die Schlafköppe von unserer EDV haben ihn noch in der Liste gelassen." Auch Semir machte ein erstauntes Gesicht, hatte er doch den Eindruck dass ihr Kollege, der ihnen ein wenig ins Herz gewachsen ist aufgrund seiner Art, wieder auf festen Beinen stand und vor allem seinen Job als Ausgleich brauchte. "Ruf mal in der Personalabteilung an, die müssten doch wissen, wo er jetzt ist.", meinte Semir und stand vom Tisch auf um zu Ben an den Schreibtisch zu kommen. Sein Interesse war geweckt, und sein Urlaubsvorhaben konnte erstmal warten, was Ben im Inneren als gutes Zeichen für Semir wertete. Er wählte die Nummer der Personalstelle, stellte das Telefon auf Mithören und legte den Hörer auf den Schreibtisch. Semir setzte sich auf die Tischkante und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch sein Gesicht drückte ein wenig Sorge aus, die die eigenen Sorgen ein wenig verdrängten, die trotzdem immer noch präsent waren.

    Eine wesentlich freundlichere, weibliche Stimme meldete sich auf der anderen Seite. "Hallo, Jäger von der Kripo Autobahn. Ich suche die momentane Dienststelle eines Kollegens, Kevin Peters. Können sie mir da helfen?" Ein leises "Klick Klack", Finger auf der Tastatur war durch die Leitung zu hören, bis sich die freundliche Stimme erneut zu Wort meldete. "Herr Peters hat sich von der MoKo freistellen lassen. Allerdings schon vor 3 Woche. Seitdem ist er krankgeschrieben, mehr kann ich ihnen nicht sagen." Ben sah zu Semir, und seine Augen weiteten sich, genauso wie sich die Sorgen vergrößerten. "Oh... öhm, danke für die Information." Man verabschiedete sich, und der Polizist legte den Hörer wieder auf. "Ihr habt euch doch vor zwei Wochen gesehen, oder? Hat er was gesagt?", fragte Semir und sein Freund schüttelte den Kopf. "Nein, dann hätte ich es dir ja auch gesagt..." - "Naja, es wäre ja nicht das Erste, was du mir von Kevin verheimlichst." Semir zwinkerte freundschaftlich. "Freigestellt, krankgeschrieben, geht nicht an sein Handy... dann dieser kurze Anruf heute morgen. Das gefällt mir nicht.", meinte Ben nachdenklich und Semir nickte. Beide hatten die gleichen Gedanken, ohne sie auszusprechen. Sollte Kevin rückfällig geworden sein? Wieder Drogen genommen haben... vielleicht sogar wieder... nein, daran wollten sie beide nicht denken. Stumm sahen beide in verschiedene Richtungen, mit ernsten Mienen und das geschäftige Brummen und Telefonklingeln aus dem Großraumbüro nebenan schien plötzlich viel leiser als sonst. "Lass uns hinfahren.", meinte Semir dann zu Ben und stieß sich vom Schreibtisch ab. "Wenn er da ist, und er halbwegs normal aussieht, ist es ja okay, dann müssen wir ihm ja unsere Hilfe nicht aufdrängen." Ben stand ebenfalls auf und meinte zögerlich: "Und wenn er nicht da ist?" Er empfing Semirs immer noch sorgenvollen Blick und erhielt nur ein stummes Schulterzucken...

    Hütte am See - 10:00 Uhr

    Und sie hörte auch nicht auf zu lächeln, während sie Kevin ansah und nicht direkt auf seine gerade gestellte Frage einging. "Ist doch ganz egal.", sagte sie, drehte den Kopf ein wenig zur Seite und ging einige Schritte durch den Raum, als würde sie nachdenken, während Kevins Augen ihrer Gestalt folgte. "Ist doch ganz egal?", wiederholte er mit ein wenig Unverständnis und musste sich innerlich bremsen, nicht lauter zu werden. Normalerweise war Kevin jemand, den man äusserst schwer aus der Ruhe bringen konnte, doch diese spielerische Gleichgültigkeit, dieses völlig untypische Verhalten für eine Entführerin, es ließ seine Schläfen pochen und seine Backenzähne etwas fester aneinanderpressen.
    Jessy schaute immer wieder aus dem Fenster, ob sie vielleicht ihre Brüder schon hören und sehen konnte. Dann müsste sie Kevin schnell wieder das Pflaster auf den Mund drücken und die Augenbinde wieder nach unten ziehen. "Und wie heißt du?", fragte der junge Polizist dann nach einer kürzeren Redepause, die die beiden nutzten sich weiter mit den Augen abzutasten. "Jessy.", sagte sie, immer noch lächelnd, immer noch die Waffe in der Hand haltend und damit rum schwenkend. Eine Waffe, über die Kevin nach wie vor nicht wusste, ob sie gefährlich war, oder nicht.

    Aus dem Raum nebenan ertönte ein Handy, Kevin erkannte es. Es war seins, das draussen auf dem Tisch lag. Er wollte schon etwas sagen, als Jessy aufstand, den Raum kurz verließ und mit dem läutenden Handy in der Hand zurückkam. "Ben ruft an", lass sie vom Display ab. "Wer ist Ben?" Kevin dachte nach... zuzugeben, dass er Polizist ist war nicht drin. Das würde seine Chancen immens verschlechtern, egal wie naiv Jessy war. Die anderen Kerle waren es definitiv nicht. "Ein Bekannter." "Und was will er von?" "Woher soll ich das wissen?" Jessy sah zweifelnd auf das Handy und schien zu überlegen, ob sie annehmen sollte. Aber das durfte sie nun wirklich nicht, das war Sache ihrer Brüder. "Lass mich rangehen.", sagte Kevin plötzlich. Wenn er Ben nur ein Wort "Entführung" sagen könnte, wüsste der zumindest was los ist. Aber so dumm und naiv war Jessy dann nun doch nicht. Sie grinste und lachte kurz auf und warf Kevin das Smartphone zu. Es landete neben seinen Beinen, ohne Chance für ihn das Gespräch anzunehmen. Der sympathische Blick, den er vorhin aufgesetzt hatte, war verschwunden und er funkelte Jessy an, die das Lachen auch nicht aufgab, als sie sich bückte und mit dem Gesicht nah an Kevin herankam. Ihre Wange schob sich neben seine, ihr Mund an sein Ohr und er konnte ihren warmen Atem spüren. Zuerst hatte er das Gefühl, dass es ihm gar nicht unangenehm war, bis er ihre Stimme hörte. "Versuch nicht...", begann sie immer noch lächelnd und freundlich, so dass Kevin kurz aufzuckte und sein Herz schneller schlug, als sich die Mündung ihrer Pistole, von der Kevin immer noch nicht wusste ob sie nun geladen war oder nicht, gegen sein Herz bohrte. "... mich für dumm zu halten." Also doch nur Fassade, ihre freundliche Gestalt, ihr Lächeln, ihre Naivität. Kevin sah an ihr vorbei, die Mündung an seinem Shirt, er spürte ihre Haare an der Wange, als sie den Kopf von seinem Ohr zurück zog und ihm recht unsanft das Pflaster wieder auf die Lippen klebte. Sein Körper bäumte sich auf, ein stummer Laut drang wieder durch das Heftpflaster, doch sanfter Druck mit der Waffe ließ ihn wieder zurückgleiten. Die Augen des jungen Cops waren hilflos und suchten wieder Kontakt zu Jessy, die das Tuch, das er jetzt um die Stirn trug wieder ergriff und im Begriff war, es herunter über die Augen zu ziehen. Für einige Sekunden sahen sich die beiden nochmal an bis Jessy wieder lächelte und das Tuch losließ um damit Kevin zumindest das Augenlicht zu lassen. Dann nahm sie das Handy wieder in die Hand, erhob sich und ließ den jungen Polizisten im Raum zurück.

    Als Jessy die Tür hinter sich verschloß, atmete sie tief durch. Ein wenig spürte das junge Mädchen, wie sie zitterte und ihre Hände schweißnass waren. Sie legte die ungeladene Pistole auf den Tisch und setzte sich dran. Sie hätte nicht gedacht, dass sie auch so gemein sein kann, dass sie selbst auch die harte Entführerin abgeben könne. Aber hatte der Typ wirklich gedacht, Jessy ließ ihn jetzt telefonieren? Sie lachte hell auf. Sie war doch nicht dumm, und auch wenn Kevin ihr durchaus gefiel würde sie sich doch von ihm nicht einfach so austricken lassen. Was würden ihre Brüder von ihr denken? Das junge Mädchen schaukelte ein wenig auf ihrem Stuhl und amüsierte sich ein wenig über ihren Erfolg. Zeitgleich sah sie immer wieder zur Tür, und es tat ihr beinahe leid den armen Kerl wieder geknebelt zu haben. Sie sah sich um, als könne sie jemand beobachten, ging nochmal auf den knarzenden Holzplatten zur Tür. Mit ihren, immer noch leicht, zittrigen Fingern umgriff das Mädchen den Schlüssel, und zog ihn klickend heraus. Als sie durchs Schlüsselloch blickte konnte sie nur Kevins Hände erkennen, die an der Wand gefesselt waren und an deren Gelenke sich bereits blutige rote Striemen zeigten.

    Hütte im Wald – 9:50 Uhr

    Für einen Moment war nur Kevins Atem durch die Nase zu hören, der sich an der Schnittkante des Klebebands auf seinem Mund brach. Würde sie ihm doch nur dieses elende Stück endlich vom Mund ziehen, dann wäre das Rumsitzen wesentlich angenehmer, dachte er während er sie beobachtete, wie sie auf seinen Personalausweis starrte und nachzudenken schien. Was hatte sie in ihm erkannt? Oder seinem Namen? Jessy blickte wieder auf Kevin, steckte den Ausweis zurück in die Brieftasche und ließ diese wieder in seine Jackeninnentasche gleiten, wobei sie Kevin erneut bewusst oder unbewusst an dessen Brust berührte. „Nettes Bild.“, sagte sie lächelnd und die Augen des Polizisten verrieten Verwirrung. ‚Was ging in ihrem Kopf vor? Sie hielt hier mit ihren Freunden oder Brüdern einen Mann gefangen und war guter Laune, machte Witze. Entweder war sie eine Anfängerin oder abgebrüht bis zum Äussersten.‘ Kevin spekulierte auf Ersteres und ließ einige unverständliche Laute durch das Klebeband verlauten. Wenn sie nur naiv war, und dem Mann, der hier gefesselt saß nicht scheinbar nicht besonders feindselig eingestellt, würde sie ihm vielleicht den Knebel vom Mund nehmen. Jessy sah ihn an, nachdem er sich bemerkbar machte, ihr Blick war fragend, als wollte sie wissen was los sei. Kevin nickte ein wenig mit dem Kopf nach hinten, seine Augen richteten sich nach unten in Richtung Klebeband und sein Flehen wurde deutlicher. Zur Antwort bekam er ein beinahe kindliches Lächeln, als sie sagte: „Tut mir Leid, Kevin… aber ich darf dir den Knebel nicht abnehmen. Eigentlich dürfte ich gar nicht hier drin sein.“ Hörbar vor Enttäuschung atmete Kevin aus und sah Jessy beinahe mitleidig aus seinen blauen Augen an. Mann, was soll ihr schon passieren… die beiden Kerle hatten ihn so fest vertäut dass er nicht mal mit Superkräften hier wegkam… und wenn er die Umgebungsgeräusche richtig gedeutet hatte, war er sicherlich nicht so dicht an der Zivilisation, dass er durch Schreien jemanden aufmerksam machen konnte.

    Jessy sah Kevin einen Moment in die Augen und sie konnte nachfühlen dass sich das Klebeband ekelhaft auf dem Mund anfühlen musste, man war gezwungen durch die Nase zu atmen, was über die Dauer sehr anstrengend sein konnte. Als wolle sie sich rückversichern, dass niemand sonst in der Hütte war, sah sie sich kurz über die Schulter und zog den Mund zu einer Schnute. „Na gut… aber wenn Thomas und Andreas wiederkommen muss ich dir das Klebeband leider wieder draufmachen.“, sagte sie und kam Kevin ruckartig wieder näher. Der notierte sich im Gedächtnis die beiden Namen und im ersten Moment wollte er zurückzucken, doch das ging schon aus rein umgebungstechnischen Gründen nicht, denn sein Kopf lehnte an der Holzwand. Jessys Fingernägel berührten seine Wange, als sie versuchte, möglichst sanft, das Klebeband von seinen Lippen zu ziehen. Ein leicht reißendes Geräusch war zu vernehmen, der junge Polizist spürte ein Brennen auf den Lippen und kniff für eine Sekunde die Augen zusammen, doch das Gefühl eines freien Mundes, durch den er nun tief ein und ausatmete nahm dem Schmerz schnell die Wirkung. Plötzlich kam ihm das Sitzen an den Fesseln hier angenehmer vor als vorher. Jessy lächelte ihn weiter unentwegt an, als wäre das Ganze für sie ein lustiges Spiel. „Besser?“, fragte sie und Kevin sah wie, ein wenig von oben herauf und mit offenem Mund, an und nickte. „Danke.“, sagte er mit etwas erschöpfter Stimme, denn das zwanghafte Atmen durch die Nase über längere Zeit war anstrengend. Jessy lächelte noch etwas breiter, sie hatte schon lange kein „Danke“ mehr gehört… kein „gut gemacht, Jessica“ oder sonstige anerkennende Worte. „Was wollt ihr von mir?“, fragte er dann, als sein Atem sich etwas beruhigte und hob den Kopf in Jessys Richtung. Plötzlich dachte Jessy nach, sie hatte die ganze Zeit unbesorgt geplaudert, doch bei der Frage brachen plötzlich Bedenken in ihr los. Sollte sie es ihm sagen, was das Geschwister-Trio vor hatte? Immerhin schien er nett zu sein, er schrie sie nicht an, dass sie ihn losmachen solle, er drohte er nicht, er wurde nicht ausfallend. Kevin allerdings dachte er darüber nach, den Vorteil des offenen Mundes solange wie möglich zu behalten. Würde er Jessy versuchen unter Druck zu setzen, würde die den Knebel sofort wieder draufpacken. Ausserdem glaubte er ihr nicht ganz, dass die Knarre wirklich nicht geladen war, und er konnte absolut nicht einschätzen wie gefährlich das Mädchen wirklich war. „Das wird dir Thomas bestimmt erklären.“, wich sie seiner Frage aus. „Weißt du es selbst nicht?“ – „Doch natürlich, aber ich weiß nicht ob ich es sagen darf.“ Was war das für ein komisches Mädchen. Sie zogen hier ein Verbrechen durch, bei dem sie selbst Hand anlegte, aber nun stand sie da, als wäre sie naiv bis zum Geht-nicht-mehr und sah das Ganze als Spiel. Entweder ist sie eine geniale Schauspielerin… oder? „Thomas ist dein Freund?“, fragte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, auch wenn ihm gerade gar nicht zum Lächeln zu Mute war. „Mein Bruder.“, sagte sie beinahe vorwurfsvoll, wie könne man denn auf die Idee kommen dass Thomas ihr Freund sei. Nein, als Freund würde sich weder Thomas noch Andreas eignen, weil beide einfach zu grob und in ihren Ansichten zu sehr auf „Macho“ aus waren. Sie wollte einen verständnisvollen Freund, der sie auf Händen trug, intelligent war und… ach was dachte sie darüber nach. Ihre Träume würden eh nicht in Erfüllung gehen.

    „Und was wolltet ihr von der Frau im Park?“, hakte er dann weiter obwohl er sich ausmalen konnte, was sie von ihr wollten, wenn sie dann stattdessen ihm mitnahmen. Eine Entführung, soviel war klar, aber weshalb? Lösegeld? Wohl kaum, dann suchte man sich normalerweise gezielte gut betuchte Opfer heraus und entführte nicht auf Zufall. Andererseits gab es heutzutage auch kranke Menschen, die andere Leute entführten um ihnen Angst einzujagen, seelische und körperliche Schmerzen zufügen wollen. Aber dafür lächelte das Mädchen eigentlich zu nett… die ganze Zeit…

    Also vorweg, ich hab die Folge noch nicht gesehen, wollte ich am WE nachholen.

    Gucke mir aber gerade die Clips auf clipfish an, bzw gerade den ersten Clip, als die beiden Polizisten Semirs Einsatz bei dem Suizidanten erzählen. Das stößt mir direkt sauer auf...

    Semirs erster Einsatz ist doch ganz klar in die Cobra-Geschichte durch die Folge "Der neue Partner" dokumentiert. Wieso erfindet man hier so eine Fantasiegeschichte? Es ist ja okay wenn man zwei Polizisten als "Helden erster STunde" nimmt, die niemand kennt... aber die waren nun mal eben nicht mehr da, als Semir kam, bzw trat Semir nie mit denen in Kontakt, denn Semir kam erst zur PAST als Stolte da war, und hat dann auch direkt mit Stolte zusammengearbeitet.

    Das ist nicht nur ein kleiner Fehlerchen, sondern Fans erster Stunde, zumindest mich, stößt das extrem auf... vor allem, weil man diesen groben Fehler nur für einen harmlosen Gag begeht, der nicht mal entscheidend für den Rest der Story ist. Genauso lächerlich dass aus dieser Geschichte der Name "Cobra" entstanden ist.... sorry, das ist für mich ein absolutes No-Go... andere Drehbuchautoren hin oder her, die Folge "Der neue Partner" war nicht irgendeine Folge irgendwann mal, sondern die allererste von Semir und damit eine ganz entscheidene... die sollte JEDER Drehbuchautor kennen.

    André war verschollen, das Grab war leer... das hatte man seitens RTL auch immer offiziell so geschrieben und deswegen war Andrés Rückkehr irgendwie erklärbar, wenn auch etwas unrealistisch.

    Tom ist in Semirs Armen gestorben, man hat ihn begraben... das wäre völliger Käse gewesen. Zeugenschutzprogramm vor wem? Das hätte Tom niemals mitgemacht Semir sowas anzutun, dass der um seinen guten Freund trauert.

    Nein, da muss man Rene wirklich dankbar sein, dass er das nicht mitgemacht hat. Wenn man wirklich nochmal nen Rückkehrer für alte Fans präsentieren will nimmt man Frank Stolte oder Jan Richter... wobei ich sagen muss dass Richter für mich immer ein sehr blasser Charakter war, und irgendwie immer ein Versuch war, Tom zu kopieren. Stolte könnte ich mir aber, als Bulle alter Schule, ganz interessant vorstellen... wäre übrigens ein netter "Gastauftritt" gewesen, als Besucher bei der Jubiläumsfeier... und nachdem ich ihn letztes Mal in einem Sat-1-Thriller als Bulle gesehen hab, würde ich ihm Frank Stolte auch immer noch abnehmen. Brandrup selbst hat sich nämlich, äusserlich, besser gehalten als Rene Steinke, meiner Meinung nach.

    Danke für den Artikel!

    EDIT: Sehe jetzt das Bild im Artikel, und muss meinen letzten Satz revidieren... hatte irgendwie im Kopf dass Steinke schon sehr ergraut gewesen ist, als ich ihn in einem Film gesehen hab. Hat der sich die Haare gefärbt? :D

    Haus von Klaus Konz – 09:30 Uhr

    Semir stoppte den BMW direkt vor dem Haus, vor dem sie gestern bereits standen und die Nachricht des gefundenen, offenen Audis überbrachten. Die beiden Kommissare stiegen aus, und diesmal war Semir mindestens genauso neugierig wie sein Partner Ben. Die Stimmung zwischen den beiden Freunden hatte sich nach der kurzen Aussprache auf dem Revier gebessert, und Semir zwang sich innerlich jetzt erst mal nicht weiter an André und diese Sache zu denken, und endlich wieder normal motiviert seiner Arbeit nach zu gehen.
    Ein leiser Glockenton erklang, als Ben auf die Klingel drückte. Er war ebenfalls froh, dass Semir die Geschichte um André zunächst mal nach hinten schieben würde und wieder den Eindruck vermittelte, seiner Arbeit gewissenhaft und nicht schlecht gelaunt nachzugehen. Die Tür öffnete sich und Klaus Konz lugte durch einen kaum geöffneten Schlitz hinaus. Seine Augen hatten dunkle Schatten, seine Haare waren zersaust… es schien, als sei er gerade erst aufgestanden. „Herr Konz… Kripo Autobahn, wir waren gestern schon mal da.“, meinte Semir und zeigte seinen Ausweis zum zweiten Mal, während Ben es ihm gleich tat. „Oh… ähm…“, Klaus fuhr sich etwas verlegen durch die Haare und öffnete die Tür nun komplett. „Was… ähm… gibt es denn noch? Ich konnte das Auto noch nicht abholen…“ „Um das Auto geht es uns nicht, Herr Konz.“, wurde sein Stottern von Ben unterbrochen, und Konz verstummte daraufhin auch. Semir sah den Mann, der einen leichten Schweißfilm auf der Stirn stehen hatte, durchdringend an. „Ist ihre Frau wieder da?“, fragte er dann zuerst, denn wenn es sich wirklich um eine Entführung gehandelt hatte, wollte er erst sichergehen ob die Geisel ausser Gefahr ist. Konz nickte und Semir atmete auf. „Ja, sie hat sich beruhigt und ist am späten Abend zurück gekehrt.“ „Können wir kurz reinkommen und mit ihr reden?“ Als wolle Konz den Eintritt der Polizisten mit seinen Worten abwehren, schoss es aus seinem Mund: „Nein!! Ich meinte… meine Frau, sie fühlt sich nicht gut und schläft.“, setzte er als Nachsatz etwas ruhiger hinzu. Ben und Semir sahen sich an… wollte er nicht, dass sich seine Frau verplapperte? War sie überhaupt da? Oder sahen die beiden Polizisten Gespenster?

    „Herr Konz, wir müssten dringend eine Gefährdungsansprache an ihre Frau halten. Das geht so nicht, dass sie einfach ihren Wagen offen auf einem Rastplatz stehen lässt in der heutigen Zeit.“, sagte Ben nun ausladend. Konz runzelte die Stirn und fragte: „Wie meinen sie das?“ „Na denken sie doch mal, ihre Frau hätte jetzt noch eine Tasche oder ein Paket auf dem Beifahrersitz stehen gehabt. Aufmerksame Spaziergänger oder Autofahrer hätten die Polizei gerufen, wir den Kampfmittelräumdienst und das Bombenentschärfungskommando. Ein herrenloses Paket in einem herrenlosen Auto. Sie wollen nicht wissen, was SIE der Einsatz gekostet hätte.“ Semir nickte eifrig dabei und wunderte sich einmal mehr über die Einfälle seines Partners. „Das müssten wir deswegen auch dringend ihrer Frau persönlich erklären.“, setzte Semir mit einem Lächeln hinzu. Klaus Konz gab den Widerstand auf, seine Augen senkten sich und er trat einen Schritt zur Seite. „Bitte sehr, kommen sie ins Wohnzimmer.“, sagte er niedergeschlagen. Ben grinste und ließ es sich nicht nehmen artig „Danke“ zu sagen, während er hinter Semir in den Eingangsbereich trat. Klaus Konz bat sie mit einer Handbewegung ins Wohnzimmer einzutreten. Seine Lebensgefährtin Inga Trewka saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, und man sah ihr ihren Zustand deutlich an. Ihre Augen schimmerten rötlich, ebenfalls lagen tiefe Ränder im Gesicht und ihre Haare wirkten ungepflegt. „Entschuldigung… haben wir sie geweckt?“, fragte Semir höflich, doch Inga schüttelte den Kopf und sagte mit leiser schwacher Stimme. „Nein nein…“ ‚Also hatte sie gar nicht geschlafen… warum wollte er uns von ihr fernhalten?‘, dachte sich der Kommissar und blieb ihm Raum stehen, während Klaus Konz sich wieder zu seiner Frau aufs Sofa niederließ. „Frau Konz…“, begann Ben und wurde von der jungen Frau unterbrochen. „Mein Name ist Trewka…“ „Entschuldigen sie bitte… Frau Trewka“, verbesserte sich der junge Polizist „was ist denn jetzt da genau passiert auf dem Rastplatz?“ Inga warf einen unsicheren Blick zu ihrem Freund der nur stumm nickte. „Wir… wir hatten einen Streit. Ja, und ich war so wütend auf Klaus… da habe ich seinen Wagen genommen und… und… einfach da stehen lassen.“ Beide Polizisten hatten so viel Erfahrung in Verhören, dass sie mühelos erkannten, wie sehr Inga Trewka log. „Und wie sind sie wieder von diesem Parkplatz weggekommen?“, hakte Semir nach. „Zu Fuß. Ich… Ich bin durch den Wald… spaziert. Erst zu meinen Eltern, und die… die haben mich nachher hierher gefahren.“, gab Inga zur Antwort, immer wieder blicketauschend mit ihrem Lebensgefährten, der stumm daneben saß.

    Semir wurde deutlicher. „Frau Trewka“, sagte er nun eindringlicher und strenger. „Heute morgen gab es eine versuchte Entführung im Kölner Rheinpark. Man findet vorher ihr Auto verlassen auf einem Parkplatz, ohne Spur von ihnen, und sie sitzen hier wie der Tod auf zwei Beinen, wenn ich es mal vornehm ausdrücken darf.“, nahm er auch Bezug auf ihre äussere, eher zerissene Erscheinung. Die Worte schienen die Frau zu treffen, ihre Augen wurden bei dem Wort „Entführung“ größer… und vor allem begann ihr Mund und ihre Schultern leicht zu beben. „Wie… Nein… ich… es war wie ich es gesagt hatte.“ Beide Polizisten spürten, dass ihre Vermutung, dieser unglaubliche Zufall, hier richtig war. Aber solange die Frau nichts zugab, konnten die beiden Beamten recht wenig machen… ohne Anzeige würde es nicht zu Ermittlungen kommen. „Haben sie Angst? Angst, dass die Kerle zurückkommen?“, fragte Ben ein wenig einfühlsamer, und versuchte auf die Frau einzugehen, die nun den Blicken der beiden Männer auswich. Sie wussten ja nicht, was sie durchmachen musste, wenn sie auch anscheinend nur kurze Zeit in der Gewalt der Unbekannten war. „Frau Trewka.“, begann Semir wieder, „mit ihrer Aussage können sie weitere potentielle Opfer schützen. Wenn es wirklich die waren, die heute morgen eine Entführung im Rheinpark versucht hatten, dann werden sie es auch weiterhin versuchen, wenn sie schweigen. Das kann man ihnen als unterlassene Hilfeleistung auslegen.“ Klaus wurde es zuviel, als sich die Tränen seiner Freundin durch die zusammengepressten Augenlider drückten. Ruckartig stand er auf. „Ich bitte sie, jetzt das Haus zu verlassen. Meine Frau hat ihnen alles gesagt, und ich ebenso.“ Er war zwar immer noch nicht sicher in seinem Auftreten, aber ihr wollte nun seine Freundin schützen, und schaffte zumindest dass sich Ben und Semir nun auf ihn konzentrierten… und ihr Vorhaben anscheinend aufgaben. „Herr Konz, wir können ihrer Frau helfen, und ihre Frau könnte uns helfen.“, begann Ben nochmal, versucht ruhig und sachlich. „Meine Frau wurde nicht entführt, und Aus. Bitte gehen sie jetzt!“, wiederholte er nochmals. „Na gut…“, meinte Semir und wandte sich ab Richtung Ausgang, Ben folgte ihm. Immerhin, sie hatten es versucht und waren sich sicher, dass hier eine Entführung vorgelegen hatte. An der Tür drehte sich der erfahrene Kommissar nochmal zu Klaus Konz um: „Reden sie mit ihrer Frau. Das nächste Opfer könnte vielleicht ein Kind sein… und die Entführung nicht so gut ausgehen, wie bei ihrer Frau.“, sagte er eindringlich bevor er mit Ben das Anwesen verließ.

    Hütte im Wald - 09:30 Uhr

    Thomas öffnete die Tür zur Hütte und kam als erstes herein, gefolgt von seinem jüngeren Bruder Andreas, der eine Sporttasche um die Schulter hängen hatte. Jessica hatte sich schnell wieder auf die Matratze verzogen, und steckte ihre Nase in ein Buch. Sie befürchtete, dass es Ärger geben könnte, wenn ihr Bruder sah dass sie bei der Geisel war. "Na, alles okay?", fragte er während Andreas die Tasche auf den Boden fallen ließ. "Na klar.", gab Jessica wie selbstverständlich von sich und stand lächelnd auf. "Ich hab sogar schon vorgearbeitet.", sagte sie strahlend und hielt Kevins Handy in die Höhe. Das Lachen aus Thomas' Gesicht verschwand sofort. "Du warst drin bei dem Typ?", fragte er vorwurfsvoll und seine Stimme wurde etwas lauter, dass Jessica einen Schritt zurückwich und das Strahlen ebenfalls verblasste. "Na und, lass sie doch? Der Kerl ist so verschnürt, was soll der schon machen?", meldete sich Thomas' Bruder und steckte sich eine Zigarette an, während er sich auf den Stuhl fallen ließ. "Wenn ich bei Überfällen selbst Hand anlege kann ich das auch bei unserer Geisel machen, Thomas.", meinte das junge Mädchen schnippisch. War es wirklich nur die Sorge darüber, dass mal etwas passieren könnte, was Thomas in diesem Moment so ärgerte? Er wusste es nicht. Wobei sie recht hatte - er ließ es nach wie vor zu, dass sie bei den kriminellen Machenschaften mitmachte, und dann wollte er sie währenddessen schützen? "Na, dann sag was du rausgefunden hast.", grummelte er letztlich versöhnlich und brachte somit das Lachen in Jessis Gesicht zurück. Sie erzählte von den wenigen Nummern in Kevins Handy, dem mysteriösen Pseudonym „Engel“, dessen Nummer es aber nicht mehr gab, und dass bei dem Namen „Ben“ eine junge Männerstimme abgehoben hat. „Also wenn der Typ nicht schwul ist, dürfte das nur ein Bekannter sein.“, gluckste Andreas und fing sich einen missbilligenden Blick von Jessica ein. Sie wusste gar nicht genau, weshalb sie diese Äusserung ihres, manchmal einfältigen Bruders so störte oder ärgerte. Weil sie sofort daran dachte, dass der Mann nicht schwul sei? „Dann dürften wir auch ordentlich lästern, dass du vor einem Schwulen in die Knie gegangen bist, Bruderherz. Wir sollten mal wieder trainieren.“, lachte der Anführer des Trios laut auf. „Ich kann dir an dem Kerl gerne zeigen, dass ich bestimmt NICHT trainieren MUSS.“, brodelte Andreas und machte deutlich, dass Thomas einen wunden Punkt getroffen hatte.

    Jessica verdrehte die Augen und meinte: „Was machen wir jetzt? Was habt ihr da überhaupt dabei?“ „Das sind kleine Hilfsmittel… weil das heute Morgen mit einfacher Gewalt nicht so geklappt hat, wie wir uns das vorgestellt haben.“, sagte ihr großer Bruder etwas geheimnisvoll. Das junge Mädchen schaute ein wenig unverständlich, obwohl sie irgendwie ein mulmiges Gefühl im Bauch hatte. Andreas bemerkte ihr Unverständnis als Erstes, und nun war er an der Reihe, mit den Augen zu rollen. „Das sind Ballermänner!!“, half er seiner jungen Schwester auf die Sprünge, deren mulmiges Gefühl sich bestätigte. Thomas hievte die Tasche auf den Tisch und zog den Reißverschluß nach hinten. Drinnen lagen drei 9mm-Pistolen. Jessica sah erst in die Tasche und dann zu Thomas: „Ist klar… ich darf nicht zu der Geisel hinein, aber ne Knarre kaufst du mir?“ „Die ist ja dafür, dass du dich schützt, du doofe Nuss.“, nahm Andreas seinem Bruder das Antworten ab und langte in die Tasche. Mit einer Bewegung ließ er das Magazin herausfallen, es klapperte und fiel unter den Tisch. „Ach Scheisse…“, lamentierte er und bückte sich mühsam. „Muss ich dir das jetzt auch noch beibringen?“, haderte sein großer Bruder mal wieder mit Stirnrunzeln, während Andreas das leere Magazin unter dem Tisch hervorholte. Jessica langte nochmal in die Tasche, als würde sie etwas suchen, und hob die Augenbrauen nach oben. „Und mit was schießen wir?“, fragte sie fast schon unschuldig und ließ ihre beiden Brüder recht ahnungslos aus der Wäsche schauen. Thomas beschlich kurz ein mulmiges Gefühl während sein Bruder nichts ahnte und ahnungslos blieb. „Wie meinst du das?“, fragte er und seine Schwester zog die offene Tasche auseinander. „Na, habt ihr Wasserpistolen gekauft? Wo ist die Munition?“ Während dem Anführer kurzzeitig die Farbe aus dem Gesicht wich, verfärbte sich die Haut des kleinen Bruders langsam rot. „THOMAS! Hast du die Kugeln vergessen???“, brüllte er, als ginge es um sein Leben. „Dieser blöde Penner hat mich reingelegt! Er hat gesagt, die Munition wäre in der Tasche!“ – „Na toll! Ich hab gleich gesagt, dass du da nicht alleine reingehen sollst.“ – „Ach natürlich, du hättest natürlich an alles gedacht, du Großmaul!“
    Jessica verdrehte die Augen und schlich, mit der leeren Waffe in der Hand, langsam wieder zur Matratze zurück. Wenn ihre Brüder sich stritten hielt sie sich besser raus. Das konnte dauern. „Hilft ja nix! Los, wir fahren zurück. Wenn der Typ mich wissentlich verarscht hat, dann raucht’s, aber gewaltig.“, schäumte Thomas nun ebenso, zog den Reissverschluss der Tasche zusammen und warf sie Andreas zu, der schon zur Tür ging, sich aber nochmal umdrehte: „Ach ja? Willst du ihn mit deiner leeren Knarre erschiessen?“, rief er wütend und kassierte einen Schubs gegen die Schulter und ein deutliches: „Halts Maul!“ von seinem großen Bruder, bevor die beiden die Hütte verließen. Draussen hörte Jessica weiter Gezeter, bis der aufbrausende Motor des Geländewagens die beiden Männer überdeckte und schließlich sich langsam entfernte. Jessica war wieder allein, umfasste mit ihrer kleinen Hand den Griff der Pistole und sah sie sich genauer an. Sie hantierte am Abzug, sie zielte auf eine Fensterscheibe… und war einigermaßen fasziniert von der Knarre.

    Kevin hatte die lauten Stimmen gehört, doch nur gedämpft wahrgenommen. Auch wenn die Hütte recht alt war, die Wand hielt die Gespräche leise, zusätzlich war ihm das Tuch, mit dem er die Augen verbunden hatte, über die Ohren gerutscht. Und er schaffte es nicht durch das Klebeband auf seinem Mund einigermaßen still zu atmen. Er hörte Streit, er verstand das Wort „Munition“ und „reingelegt.“ So sehr er sich auch anstrengte, er konnte keine Zusammenhänge aus den Wörtern erkennen.
    Immerhin hatten sich seine Augen mit der Umgebung vertraut gemacht, und auch wenn das Atmen durch den Knebel sehr mühsam und unangenehm war, so war es doch weitaus angenehmer endlich etwas zu sehen. Das Mädchen, das eben nochmal hereinkam und ihn anblickte schien nicht so sehr erfreut gewesen zu sein, dass er die Augenbinde abbekommen hatte, doch was nützte es ihm. Er kam hier eh nicht weg, und er wusste auch nicht was diese Typen und das Mädchen überhaupt mit ihm vorhatten… was sie überhaupt von ihm wollten?
    Nachdem es wieder einige Minuten still in der Hütte war, klackte plötzlich wieder der Schlüssel im Schloss der Tür, was Kevins Augen nach oben führten. Knarzend schwang die Holztür auf, und erneut stand das junge Mädchen in der Tür. Diesmal lächelte sie ihn an, wie eine Bekannte oder ein, ihm freundlich gesinntes, Wesen. Die Waffe in ihrer Hand strahlte allerdings nichts freundliches aus und Kevins Herz schlug ungewollt ein wenig schneller. Was zum Teufel lief hier, was wollten die von ihm? „Warum hast du die Augenbinde ab?“, fragte das Mädchen, doch sie fragte es nicht streng, sondern eher aus reiner Neugierde. Und warum fragte sie überhaupt? Erwartete sie ein unverständliches Gemurmel als Antwort? Kevins Augen hielten den Blickkontakt mit ihr, kein Versuch des Redens kam hinter dem Klebeband hervor. Langsam, wie eine Katze, kam Jessica langsam zu ihm und kniete sich schräg vor seinen sitzenden Körper. Nach aussen strahlte sie die Gefährlichkeit eines Kaninchen aus, doch die Waffe in ihrer Hand machte aus dem Kaninchen eine Klapperschlange, und obwohl Kevins Augen nur den Blickkontakt zu dem jungen Mädchen hielt, die allerdings nun in Richtung seines Oberkörpers schaute, war die Waffe in seinem Blickfeld. Einen Moment später war sie nicht mehr nur das, sondern auch in seiner Wahrnehmung als Jessica mit der Waffe seine Jacke zur Seite schob und mit der offenen Mündung Kevins Oberkörper berührte. Sein Atem ging ein wenig schneller, und Jessica schien dieses Spielchen nicht sichtlich zu genießen, es störte sie aber auch nicht. Es war wie selbstverständlich, als sie die Waffe drohend unter Kevins Herz hielt und mit der freien Hand erneut in die Innentasche seiner Lederjacke griff. Er spürte, wie sich die kleinen Finger um seine Brieftasche legten, und diese herausgezogen wurde, während sein Herz gegen die Öffnung der Waffe pochte. „Hast du Angst?“, fragte Jessica, die das Pochen offenbar wahrnahm…. Oder man konnte es ihm doch von den Augen ablesen. Kevin gab aber keine Reaktion auf die Frage. „Brauchst du nicht. Mein doofer Bruder hat die Munition vergessen.“, plauderte Jessica lächelnd. Wäre Kevin nicht in dieser beschissenen Situation, er hätte gelacht. Das Mädchen sagte es so selbstverständlich, man hätte nicht besser lügen können, und für den ersten Moment blieb dem Polizisten gar nichts übrig, als es zu glauben… und trotzdem beruhigte sich sein etwas schnellerer Atem nicht. Jessicas Lächeln wurde zu einem Grinsen, sie ließ die Waffe sinken und legte sie neben Kevins Füße, während sie die Brieftasche öffnete, und seinen Personalausweis herauszog. „Kevin Peters“, murmelte sie, als würde sie über etwas nachdenken. Für einen Moment blieb sie ganz still in der Hocke sitzen und betrachtete das kleine Stück lameniertes Papier. Kevin zog die Stirn in Falten, während das Mädchen offenbar über etwas nachdachte, was sein Name oder sein, recht altes Bild auf dem Ausweis, ausgelöst hatte.

    Hütte im Wald - 9:15 Uhr

    Oh Gott... in was für einen Schlamassel war Kevin den nun schon wieder geraten? Der Kabelbinder hatte sich an seinen Handgelenken in die Haut gescheuert, nachdem er mindestens 10 Minuten versucht hatte diesen am festgebundenen Eisenring zu reiben und zum lösen zu bringen... vergebens. Das Zeug war nicht von schlechten Eltern, ausserdem war es anstrengend. Der junge Polizist konnte nur durch die Nase atmen, weil das eklige Klebeband seine Lippen fest verschloßen hielt. Sehen konnte er auch nichts, die Typen hatten ihm die Augen verbunden. Man konnte sagen, Kevin war ganz und gar hilflos, saß an eine Wand gelehnt auf irgendeinem kalten Boden, die Arme über den Kopf und die Füße ebenfalls mit Kabelbinder festaneinander fixiert.
    Nach 10 Minuten Reiberei an den Händen saß er schwer gegen den Rand des Klebebands prustend und legte den Kopf an die Wand. Dabei wollte er doch nur durch den Rheinpark spazieren, etwas was er seit Wochen immer wieder mal machte. Er hatte sich dazu gezwungen, es als Ersatz zu nehmen für die erste Zigarette am Morgen. Und kurz bevor der Überfall geschah dachte Kevin noch stolz darüber nach dass er seit anderthalb Monaten nur in zwei Extremsituationen nochmal rückfällig geworden war.

    Kevin war Ende 20 und Polizist. In seiner Jugendzeit war er Mitglied einer Straßengang, kam in Kontakt mit Verbrechen und Drogen. Damals half ihm André Fux, Semirs Ex-Partner in der Karateschule aus dieser Zeit heraus, Kevin wurde clean um nur kurz darauf ein Trauma zu erleiden. Schwer verletzt und hilflos musste er mit ansehen, wie seine kleine Schwester vergewaltigt und ermordet wurde. Dieses Erlebnis ließ den sensiblen Mann abstürzen, wieder verfiel er dem Alkohol und den Drogen, war sogar akut suizidgefährdet, nur die Rache und letztlich der Entschluß zur Polizei zu gehen um solche Taten zu verhindern, hielten ihn am Leben. Mehr zufällig arbeitete er vor anderthalb Monaten mit Ben und Semir zusammen, als André plötzlich zurückkehrte und traf während diesem Fall auch auf Janines Mörder, der sich vor seinen Augen das Leben nahm, bevor Kevin seine Rache vollzogen konnte. André und Ben waren danach ein großer Rückhalt, die es verhinderten dass der Polizist sich endgültig in ein Schneckenhaus verkriecht, doch er konnte sich nicht dazu durchringen eine professionelle Therapie zu machen, die vor allem Ben ihm ans Herz legte. Er ließ sich von der Mordkommission vorrübergehend freistellen, danach ließ er sich für mehrere Wochen krankschreiben. Wäre er mit Ben nicht mal auf ein Konzert gegangen, oder selbst zum Box- oder Lauftraining, er wäre vermutlich in den anderthalb Monaten nicht aus seiner Wohnung rausgekommen. Trotzdem schaffte er es, seine kleinen bunten Pillen nicht mehr anzurühren, ausser nach zwei extremen Alpträumen, die ihn gequält hatten. Jedesmal danach hätte er sich verfluchen können, das Dreckszeug wieder angerührt zu haben, schaffte es im Gegenzug aber nicht, die Pillen endlich wegzuwerfen.

    Jetzt saß er hier in dieser Hütte, weil er der jungen Frau zur Hilfe kommen wollte, die von den drei Gestalten attackiert wurde. Es war ein Impuls, ein Reflex der den Kommissaren angetrieben hatte, sofort in Trab zu verfallen und Kampfposition einzunehmen. Gegen den ersten Kleiderschrank funktionierte dies gut, war der doch recht plump und unbeweglich. Doch den Tritt des schmaleren Gegners hatte er einfach nicht kommen sehen, und an manchen Stellen ist eben auch Kevin verwundbar. Als er den Geruch von Chloroform wahr nahm, wurde ihm bewusst dass er mal wieder in Schwierigkeiten stecken würde. Dann wurde er hier wach und konnte gerade noch spüren, wie kleine Hände an seiner Jacke herumfingerten und offenbar sein Handy aus der Innentasche zog. Kevin versuchte Laute von sich zu geben, wollte sich bewegen, war er doch völlig hilf- und orientierungslos und wusste nicht was vor sich geht. Immerhin vernahm er kurz die Stimme… eine junge Frau, vielleicht sogar ein Mädchen, das hier mit von der Partie war. Und schlagfertig war sie auch, das spürte Kevin sofort danach als er ihren Schuh auf den Rippen spürte und sein Körper durch den Stoß nach links gedrückt wurde, nur aufgehalten durch die scharfen Kabelbinder um seine Hände an dem Ring. Er hörte, wie sich die Tür wieder schloss, der Schlüssel umgedreht wurde und wieder Stille herrschte.
    Für einen kurzen Moment blieb Kevin erschöpft sitzen. Warum wurde er hierher verschleppt? Was waren das für Typen? Er wollte der jungen Frau doch nur helfen, was hatte es für einen Sinn? Der junge Polizist hasste so eine Ungewissheit, er hoffte dass bald jemand zu ihm kommen würde, und er zumindest Hinweise auf diesen ganzen Unsinn bekam. Aber erst mal musste er hier seine Position verbessern.
    Das Brennen an seinen Handgelenken nahm zu, als er wieder versuchte sich zu bewegen. Er drehte den Kopf nach rechts und rieb das Augentuch an seinem, nach oben an den Ring angebundenen Arm. Stückchen für Stückchen schob sich die Augenbinde in Richtung Stirn, bis der Kommissar die Seite wechselte um auch auf dem zweiten Auge langsam wieder Helligkeit zu sehen. Die Augenbinde blieb knapp über seinen Brauen hängen und Kevin sah sich um. Eine Hütte aus Holz, er saß neben einer Matratze… sonst war nichts in diesem Raum. Durch ein, mit Moos überzogenes Fenster fiel mattes Licht, offenbar war die Hütte mitten im Wald. Vögel waren zu hören, ein leises Rauschen des Windes. Verdammt… irgendwo im nirgendwo, nichts konnte Kevin erkennen. Und es lagen auch keine Gegenstände im Raum, mit denen er vielleicht mehr Chancen hätte, den Kabelbinder durch zu bekommen. Wenn er wenigstens richtig atmen könnte. Wieder schabte er mit dem Füßen auf dem Boden, gab Laute von sich um die junge Frau, sofern sie sich noch im Nebenzimmer befand, vielleicht dazu zu bewegen ihm den Knebel zu entfernen, doch nichts passierte.

    Jessica ließ sich von den Geräuschen im Nebenzimmer erst mal nicht beeindrucken und beschäftigte sich mit dem Handy ihres Opfers. Ihre Neugier hatte sie weiter gepackt, und so wählte sie die Nummer des ersten Kontaktes in der Liste „Ben“. Als sich jedoch eine Männerstimme meldete, legte Jessica schnell auf. Den folgenden Rückruf ließ sie unbeantwortet. Ungeduldig wartete sie auf ihre Brüder, was die wohl zu erledigen hatten? Gerne wäre sie ein wenig nach draußen gegangen, um den Vögeln zu lauschen, doch das konnte sie ja jetzt nicht… nicht auszudenken, was passiert, wenn die Geisel entwischen würde.
    Sie ging ein wenig im Raum herum, sie hasste es alleine zu sein. Ihre Kreise schienen sie immer dichter an die Tür heranzuziehen, in der der Schlüssel steckte und hinter der sich Kevin befand, bis sie erneut die Tür aufsperrte und hereinsah. Kurzzeitig erschrak sie, als sie die blauen Augen ihrer Geisel erblickte, die sie direkt ansahen. Kevins Blick strahlte in gewisser Weise eine körperliche Hilflosigkeit, aber eine geistige Entschlossenheit und Wut aus, als sein gedämpftes Klagen lauter wurde, und er mehr als vorher an den Fesseln ries. Jessica stand im Rahmen, erholte sich von dem kurzen Schock und beobachtete den jungen Mann, der vor ihr am Boden saß, mit seinen kühlen blauen Augen, die nun etwas hilflos wirkten, seiner schlanken Gestalt, seinen abstehenden Haaren, seiner Kette um den Hals, die auf dem schwarzen Shirt ruhte. „Streng dich doch nicht so an.“, sagte sie beinahe freundlich, und die Bewegungen von Kevin ebbten ab, er ließ den Kopf an die Wand gleiten und schloss für einen Moment resignierend die Augen.
    Ein Motorengeräusch näherte sich, hielt schließlich neben der Hütte, und ließ Kevin wieder aufblicken. Jessica ebenso, ihr Kopf fuhr herum und mit einer schnellen Bewegung schlug sie die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Kevin war wieder allein.