Neue Story, neues Glück.
Die Geschichte von "Stockholm" greift das offene Ende aus "Auferstanden" auf, wie man am ersten Kapitel bereits unschwer erkennen kann.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Neue Story, neues Glück.
Die Geschichte von "Stockholm" greift das offene Ende aus "Auferstanden" auf, wie man am ersten Kapitel bereits unschwer erkennen kann.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Kiosk - 02:00 Uhr
Peter fielen immer wieder die Augen zu, und er erschrak immer selbst, sobald er bemerkte dass sein Kopf sich langsam nach unten senkte. Verdammt, warum hatte er diesen blöden Aushilfsjob eigentlich angenommen? Ein Kiosk am Rande der Kölner Innenstadt, der noch dazu 24 Stunden geöffnet war. Seit er um 22 Uhr gestern abend seine Schicht angetreten hatte, waren gerade mal 2 Leute in der ersten Stunde da um Kippen und Bier zu kaufen. Wenn er sich nicht vertan hatte, war es sogar schon eineinhalb Stunden her, seitdem er zuletzt überhaupt jemanden hier vorbei hat gehen sehen.
Peter war 18, groß und schlaksig gebaut und passte in dieses Kiosk mit seiner Hornbrille und pubertärem Gesicht irgendwie gar nicht rein. Statt, wie es viele in seiner Klasse taten, sich nebenher mit Pokerstars, Betandwin oder Drogenhandel was dazu zu verdienen, ließ er sich von einem Klassenfreund für den Aushilfsjob in diesem Kiosk überreden. Keinerlei Erfahrung mit Schichtjobs waren dann schuld daran, dass er vorher nicht schlief, und jetzt hundemüde war... und noch 4 Stunden ausharren musste. Der Junge nahm sich eine Zeitschrift aus der Auslage und begann, mehr desinteressiert, darin rumzublättern. Der Regen trommelte auf den Asphalt vor seinem Häuschen, es war Mitte März, aber über den Tag schon frühlingshaft warm. Nur jetzt, mitten in der Nacht, fühlte er sich unbehaglich und es war ungemütlich, als er den Kragen seines Hemdes nach oben schlug und nochmal einen Blick über den glitzernden Asphalt schweifen ließ. "Eine blöde Idee...", murmelte er nochmals missmutig.
Plötzlich vernahm er ein lautes Krachen hinter sich, und einen Moment später wurde die Eingangstür aufgerissen, die hinter die Theke führte. Drei Gestalten, mit Baseballkappen und Schals im Gesicht kamen herein gestürmt, und bevor Peter sich überhaupt erheben oder protestieren konnte, langte eine der Gestalten bereits kräftig hin. Kurzzeitig sah der blasse Junge den Schlagring aufblitzen, der ihn hart im Gesicht traf und sofort zu Boden gehen ließ. Die ersten beiden, recht kräftig erscheinen Gestalten traten mehrmals auf den am Boden liegenden Jungen ein, bis dieser sich nicht mehr rührte. "Hat der genug?", fragte die knarzige Stimme hinter dem Schal, als die dritte, recht schlanke und zierliche Person in das Kiosk hereinkam, und mit einer mädchenhaften Frauenstimme antwortete: "Der hatte schon nach dem ersten Schlag genug." Als wolle einer der beiden Kerle das Mädchen ärgern, trat er nochmals gegen den Kopf von Peter, der bewusstlos und blutüberströmt auf dem schmutzigen Kioskboden lag. Die beiden jungen Schläger, Thomas und Andreas sahen sich im Kiosk um, rissen ihre mitgebrachten Tüten auf und verstauten darin Zigaretten und Alkohol. Jessica, die dritte im Bunde, hantierte an der Kasse herum und ließ diese mit einigen Tastendrücken aufspringen. "Das lohnt sich ja mal wieder gar nicht...", murrte sie und nahm den Inhalt heraus. Danach verließen die drei Gestalten im Schutz der Dunkelheit das Kiosk, wo sie den schwerverletzten Peter einfach liegen ließen, der sich nicht mehr rührte.
Dienststelle - 09:00 Uhr
Semir kratzte mit den Fingernägeln über die Oberfläche seines Schreibtisches. Er war alleine im Büro, sein Partner Ben hatte sich mal wieder verspätet und so musste er mit der morgendlichen Autobahn-Tour noch warten. Der türkische Kommissar betrachtete das Telefon, als würde es von sich aus erheben und ihm Antwort geben... auf die Fragen, die in seinem Kopf herumschwirrten. Als würde es von selbst klingeln und ihm alles sagen, was er wissen wolle, als würde es alles gutmachen was vor anderthalb Monaten kaputt ging.
Neben dem Telefon lag ein weißer Zettel, auf dem ein Name, und eine Handynummer stand. Seit Wochen starrte er auf den Namen und die Nummer, seit Wochen nahm er den Hörer in die Hand und wählte die ersten 4 Ziffern, bevor der Hörer wieder auf die Station fiel. Er schaffte es nicht, seinen Ex-Partner André anzurufen. Ihn damit zu konfrontieren, was er auf den Fotos getan hatte, die, seit Semir sie zu Gesicht bekam, sicher in einem Bankschließfach lagen und ausser Ben und Kevin niemald zu Gesicht bekamen.
André war vor anderthalb Monaten plötzlich auferstanden... Semir hatte 14 Jahre vermutetet, dass sein Freund bei einem Einsatz ums Leben kam. Doch der wurde gerettet von einem Verbrecher, der ihn daraufhin zwang, für ihn zu arbeiten. André ging das Spiel ein, vergass sein altes Leben, bis er von dem Verbrecher unter einem Vorwand nach Deutschland geschickt wurde, um sich an Semir zu retten, der Carlos Berger vor 14 Jahren auf Mallorca erschossen hatte. Der Plan misslang, André und Semir brachten Horn, mit Hilfe von Ben und dem Polizisten Kevin Peters hinter Gittern. Semir kostete der Kampf, der Zweifel an Andrés Glaubwürdigkeit viel Kraft, doch es schien sich alles zum Guten zu wenden, bis zu Andrés Abschied und dem Auftauchen von Fotos auf Mallorca, auf denen zu sehen ist, wie André einen unbekannten Fremden exekutiert. Semir hatte es nicht über sich gebracht, André am Flughafen zu verhaften, seitdem hatte er versucht, die Sache zu verdrängen. Doch der Gedanke daran kehrte immer wieder zurück. Ben hatte mehrmals versucht, mit seinem besten Freund darüber zu reden, doch der blockte immer wieder ab. "Ich will es vergessen, okay?", hatte er immer wieder gesagt, doch sein junger Kollege verbiss sich ebenso in einem Gewissenskonflikt, einen Mörder laufen zu lassen... auch wenn er letztendes mit André zusammenarbeitete, als sie Semir und Kevin das Leben gerettet hatten.
Wieder nahm Semir den Hörer in die Hand, er musste einfach anrufen und mit ihm reden... wieder kam er nur bis zur fünften Ziffer, als der Hörer zurücksank. Nein, er konnte André nicht verraten. Soviel hatten sie zusammen durchgemacht, gerade das Abenteuer vor anderthalb Monaten, als dem ehemaligen Polizisten erst wirklich bewusst wurde, wie tiefgehend die Freundschaft zu Semir war. Nein, er konnte ihn nicht verraten. Aber konnte er so als Polizist noch ernsthaft weitermachen?
Er hörte die eiligen Schritte seines Partners im Großraumbüro, ein typisches "Sorry Chefin!", wegen seiner Verspätung und schob den Zettel unter die Tastatur. Er verstand es, seine Zerissenheit vor Ben zu verbergen, der die Sache mittlerweile offenbar tatsächlich verdrängt hatte. "Hey Partner!", begrüßte der Kommissar mit dem Wuschelkopf seinen Freund und lächelte unschuldig. "Na super, kommst du auch schon, du Schlafmütze.", beschwerte Semir sich, halb im Scherz, halb im Ernst. "Wer weiß, wieviele Temposünder uns schon durch die Lappem gegangen sind. Los, auf! Zur Strafe zahlst du heute Kaffee UND Schoko-Crossaints!"
Das Ende ist zwar offen gehalten... aber natürlich wird die Background-Story in der nächsten FF weitergeführt, soviel darf ich schon mal verraten
Hört sich irgendwie nach "Nemesis Reloaded" an...
Schade, dachte der Titel hätte nochmal was mit André und dessen Stick zu tun.
Dienstwagen - 09:50 Uhr
Semir schaltete die Blaulichtanlage seines Dienstwagens an, Ben hatte gerade noch Zeit sich anzuschnallen während Kevin auf die Rückbank kletterte. "Semir, was soll denn das? Willst du ihn selbst festnehmen? Das schaffen wir doch nicht mehr!!", polterte Ben, als sein Partner den BMW aus der Auffahrt auf die Autobahn driften ließ. Er sah stumm, starr über das Lenkrad hinweg, hatte sich die zwei Tränen aus den Augen gewischt. Ben sah ihn an, er wusste dass er keine Antwort bekommen würde. Wenn Semir sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es unmöglich, ihn davon abzuhalten, vor allem wenn er emotional gerade so eingebunden war wie jetzt.
Kevin lehnte sich nach vorne und steckte den Kopf zwischen die beiden Vordersitze. "André hat mir erzählt, dass er gezwungen wurde.", sagte er mitten in das hitzige, aber einseitige Gespräch. Semir sagte nichts darauf, die Bilder hatten ihn zu sehr beeindruckt. Doch Kevin war noch nicht fertig und zeigte auf die Bilder. "Er hat mir erzählt, dass einer von Horns Männer ihm eine Pistole in den Nacken gedrückt hatten." Ben sah irritiert auf das erste Bild, das Kevin ihm auf den Schoß legte herab und zog die Stirn in Falten. "Ich seh hier niemanden.", meinte er ein wenig perplex, und auch Semir warf einen kurzen Seitenblick auf das Bild. Er war merkwürdig still, 1000 Gedanken schwirrten ihm im Kopf herum. Was würde er sagen zu André, wenn er ihn festnahm. Was würde André sagen, wie würde er reagieren. Großer Gott, er wollte nicht dass dieses Abenteuer so endet. "Dann hat er dich belogen, Kevin.", meinte Ben und Kevin ließ sich nach hinten in die Sitze zurückfallen und aufseufzen. "Das kann ich mir nicht vorstellen. Warum sollte er? Er ist doch clever genug zu wissen, dass ihm das ohne Beweise niemand glaubt." Semir überholte in diesem Moment hupend auf dem Standstreifen. "Und ausserdem hat er bei mir keinen Grund seine Story abzuschwächen", fügte der junge Polizist auf der Rückbank hinzu und Ben verstand. Kevin, als jemand der selbst Dreck am Stecken hatte aus der Vergangenheit, wäre wohl nach Semir der letzte Polizist auf Erden, der André sofort verraten hätte. Und André wusste das ganz genau. Für einige Minuten war Ruhe im Auto, nur der Motor jaulte, die Blaulichtanlage dröhnte.
Irgendwann meldete sich Kevin wieder von der Rückbank: "Und wenn das Foto bearbeitet wurde? Der Mann raus retouschiert wurde." Ben sah erneut auf das Foto, besonders auf die Stelle hinter André. Wenn der Mann nicht mindestens 1m Abstand von ihm hatte, müsste er auf dem Bild deutlich zu erkennen sein. War er aber nicht, hinter André war Sand, Felsen und Kakteen. "Bekommt Hartmut sowas raus? Ob das Foto bearbeitet wurde?", durchbrach Kevin erneut die aufkommende Stille. Ben zuckte mit den Schultern. "Versuchen können wir es... aber erstmal sollten wir uns anhören was André sagt, wenn wir ihn noch erwischen."
Nur wenige Minuten hielt Semir den silbernen BMW mit quietschenden Reifen am Flughafeneingang auf dem Behindertenparkplatz. Ohne den Wagen abzuschließen rannten die drei Männer durch den gläsernen Eingang in die riesige Flughalle und steuerten zielsicher den ersten Info-Schalter an. Semir zeigte gehetzt seinen Ausweis vor: "Ist die Maschine nach Palma schon abgehoben." Die Frau an der Info-Theke hatte scheinbar die Ruhe weg und schien sich von den drei heftig atmenden Männer gar nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. "Einen Moment, da muss ich mal nachsehen." Semirs Augen hetzten von links nach rechts, Kevin drehte sich um als wäre jemand hinter ihnen her. "Geht das auch ein bisschen schneller?", fuhr der türkische Kommissar die Frau am Schalter lautstark an, die wohl erst dann den Ernst der Lage erkannte. "Die... die Passgiere sind gerade beim Einsteigen.", sagte sie ein wenig unsicher. "Scheisse...", meinte Semir ein wenig panisch und sah sich erneut um. "Wo ist das?", rief er und Ben sah sich instinktiv nach einer der großen Anzeigetafeln um. "Gate 3... da runter.", meinte die Dame und zeigte mit den Finger in die linke Richtung. Kevin setzte sich als erstes in Bewegung, wurde aber schnell von Semir eingeholt.
Der Wartebereich war bereits leer als die drei Polizisten ankamen. Semir lief an die Fensterscheibe und schaute auf das wartende Flugzeug, in das gerade eine Schlange Menschen strömte. Im ersten Reflex wollte er durch die Sicherheitstür laufen, doch etwas hielt ihn zurück, als er klar und deutlich André sah, in seiner schwarzen Lederjacke, wie er sich, offenbar gedankenverloren, auf dem Rollfeld umblickte, bevor er kurz davor war, in die Maschine zu steigen. "Los komm, Semir!", rief Ben, der bereits auf dem Weg zur Sicherheitstür war, doch betreffender hörte die Stimme seines Freundes ganz weit weg. Vor Semirs innerem Auge zog gerade eine Flut von Bildern vorbei... ihr erster Fall mit dem entführten Baby... André, der bewusstlos und vergiftet im Wald lag, und von Semir gefunden wurde... André, der Semir in letzter Minute davor rettete von dessen Jugendliebe erschossen zu werden... André, der von einem Bordell-Besitzer als Geisel genommen wurde... André, der auf einem fahrenden LKW-Auflieger sprang, um mit einem Bagger den flüchtigen LKW zu stoppen... André, der versuchte über einen Kanal zu springen und Semirs BMW im Kanal versenkte... André, der zitternd auf der Autobahn lag, von einem Scharfschützen schwer verletzt... André, der angeschossen ins Meer fiel, weil Semir zu lange gezögert hatte, auf Carlos Berger zu schießen... und schließlich André, wie er mit erstauntem Gesicht in der Karateschule Semir anblickte, nachdem der das Licht angeschaltet hatte, wie sie zusammen in Semirs Wohnung saßen, und beide gemeinsam an Andrés Grab standen... all diese Bilder zogen vor Semir vorbei, im Bruchteil einer Sekunde.
Kevin sah Semirs Gesichtsausdruch, als dieser durch die Scheibe blickte, und blieb stumm. Er konnte fast erkennen, was den türkischen Kommissar bewegte, und wie er sich entschied, als er mit halboffenen Mund und erneut feuchten Augen durch die große Glasfront blickte, als André die ersten Stufen des Gangways betrat.
"SEMIR!", rief Ben erneut und sah seinen Freund an, als er nun auch dessen Gesichtsausdruck sah. Der erfahrene Polizist blickte Ben aufgewühlt an. "Er ist weg... es ist zu spät.", sagte er ohne Betonung, mechanisch. Ben sah ihn mit offenem Mund fassungslos an. "Wir müssen ins Flugzeug, wir...", begann er, aber er wurde von Semir unterbrochen, der Ben am Jackenärmel fasste. "Er ist weg, Ben! Hast du verstanden, ER IST WEG!" Ein Blick durchdrang den jungen Polizisten, wie er ihn noch nie von seinem Partner bekommen hatte... verzweifelt aber durchdringend, zornig und doch konsequent, aber doch zerbrechlich. Ben wusste nicht was er tun sollte... sie würden vermutlich einen Mörder laufen lassen... aber er konnte doch nicht gegen Semirs Willen dessen Freund verhaften. Er sah auf Kevin, der still bewegungslos neben Semir stand und einen recht ausdruckslosen Gesichtsausdruck hatte. Doch ein leichtes Kopfschütteln zeigte Ben, dass er wohl auf Semir's Seite stand. Beide kannten André besser als Ben.
Semir wandte sich von Ben ab und ließ dessen Jackenärmel los. Er atmete hörbar, zitternd aus und bewegte sich langsam von der Fensterscheibe weg. Er hätte André nicht verhaften können. Er hatte Semir das Leben gerettet, mehrmals und umgekehrt. Nein, das konnte einfach nicht sein. Aber er wusste für einen Moment nicht mehr weiter... er wollte weg... einfach alleine sein, mit niemandem reden.
Ben und Kevin blieben einen Moment stumm zurück. Ben in seinem Gesichtsausdruch aufgewühlt und fassungslos... einmal, weil Semir nichts unternommen hatte und natürlich, weil er Semir, seinem Freund, in diesem Moment nicht helfen konnte und gehen ließ. Verzweifelt sah er ihm hinterher, und blickte dann wieder auf Kevin. Der stand da, wie der Kevin, der er früher war. Mit einem festen, recht undefinierbaren Gesichtsausdruck, als könne kein Sturm ihn trüben, sah er Semir nach. In diesem Moment, wenn andere Menschen Probleme hatten, deutete bei ihm nichts auf eigene Probleme hin. Er verstand seinen türkischen Kollegen...
ENDE
Sorry, wenn ich es so hart ausdrücke, aber wer mit 15 nicht weiß, was ein Sakko ist, braucht sich auch nicht zu beschweren, wenn man vorsichtig eine "Dummheit" vermutet...
Dienststelle - 9:30 Uhr
André war weg und Semir trauerte diesen Tagen doch ein wenig hinterher. So schnell war die Zeitspanne zwischen unerwartetem Wiedersehen und schnellem erneuten Abschied verflogen, soviel war dazwischen passiert so dass der türkische Kommissar das Gefühl hatte, er hätte sich gar nicht mal mit André unterhalten können wie früher. Doch eigentlich hatten sie es ja getan, eigentlich hatten sie Zeit füreinander gehabt.
Semir war mit den Gedanken soweit weg, dass er in den Bericht am Computer dauernd Schreibfehler einbaute, auf die ihn Ben und Kevin, die hinter ihm saßen und den Bericht mitgestalten sollten, dauernd hinwiesen. Natürlich ließen sie Kevins Zustand weg und die Einzelheit, dass er kurz davor war, Becker eiskalt zu erschießen und damit Bens Leben zu gefährden. Im Bericht stand, dass Kevin sofort in Notwehr auf Kerler geschossen hatte und Becker unmittelbar danach vom Dach stürzte. Dem jungen Polizisten war zwar etwas mulmig zu Mute, aber Ben beruhigte ihn, dass das das Beste für seine Situation wäre. Kevin befürchtete an diesem Morgen sowieso, dass Semir und Ben ihn nochmal auf sein Drogenproblem ansprechen würden, mit etwas Abstand zum gestrigen Abend bereute er es fast schon wieder, alles gestanden zu haben. Er hätte versucht aus dem Sumpf zu kommen, jetzt nach dem es ihm ein wenig besser ging, und niemand, ausser André, hätte etwas bemerkt. Doch nun war es raus, er hatte alles erzählt, Semir und Ben wussten Bescheid. Er hoffte, dass er den beiden Polizisten wirklich vertrauen konnte...
Anderthalb Stunden nachdem André sich verabschiedet hatte, waren die drei Kommisare mit ihrem Bericht fertig. "Damit wird die Abteilung für Organisierte Kriminalität einen ordentlichen Schlag gegen Horns Männer vorbereiten können.", meinte Ben zufrieden und Semir nickte. "Ich hätte mir nicht Träumen lassen, dass mich dieser Fall nochmal einholt.", murmelte er und sah seine beiden Kollegen an. "Und dass André noch lebt.", setzte er noch leiser hinzu. "Aber jetzt ist es vorbei. Du weißt, dass es André gut geht, und dass er sein Leben jetzt wohl genießt. Ist er schon in der Luft?", meinte Ben mit einem Blick auf seine Armbanduhr, während er seinen Drehstuhl auf die andere Seite des Schreibtisches schon und Semir sich an dem großen Briefumschlag zu schaffen machte. Kevin stand an dem kleinen halbhohen Wandschrank in Semirs Rücken, der Ben antwortete: "Gegen zehn, glaube ich, soll seine Maschine abheben.", gab der türkische Kommissar zur Antwort und schnitt den Umschlag, der einige Blätter Papier enthalten musste, mit einem Brieföffner auf. Er ließ den Inhalt auf seinen Schreibtisch gleiten und seine Miene verfinsterte sich, als er einen Blick darauf warf. Ben sah seinem Partner ins Gesicht, und bemerkte wie dessen Gesichtszüge entglitten. "Oh mein Gott...", flüsterte Semir als er das erste Bild betrachtete. Kevin ahnte bereits was darauf zu sehen war, als er das erste Bild sah und schloß die Augen... geistesgegenwärtig drehte er sich um, ließ die Jalousien an den Fenstern herunter und drehte den Schlüssel in der Bürotür um.
Semir sah wie entgeistert auf das Bild vor ihm. Ein Gefühl, als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen, ein Gefühl der vollkommenen Ohnmacht erfüllte ihn. Wie betäubt ließ er das oberste Foto weggleiten um das zweite, dritte, vierte und fünfte zu betrachten. Er schüttelte den Kopf, immer und immer wieder entfuhr ihm ein leises "Nein" oder "Oh mein Gott." Ben fragte gar nicht, was los sei und kam um den Schreibtisch herum, während Kevin keinerlei Anstalten machte die weiteren Fotos zu begutachten... er kannte die Geschichte die dahinter stand. "Ach du Scheisse...", murmelte Ben geschockt, als er das erste der Bilder sah. Ein felsiges Gelände, herrlicher blauer Himmel, einige Ginsterbüsche, Kakteen und anderes Gestrüpp machte sich in der südlichen Landschaft breit. Im Zusammenhang war es nicht schwer zu erraten, dass diese Bilder aus Mallorca oder Spanien stammten. Ein Mann kniete ihm Dreck, die Augen mit einem schwarzen Tuch verbunden die Hände auf dem Rücken gefesselt. Neben ihm ein weiterer Mann der auf den Mann, der hinter dem Gefesselten mit einer Waffe stand, einredete. Die Waffe war auf den Hinterkopf des Opfers gerichtet... und der Mann, der diese Waffe hielt, war André. In seinem schwarzen Shirt und seiner Kette war er deutlich zu erkennen, sein Gesichtsausdruck war angestrengt, beinahe ein wenig hilflos. Man sah ihm an, dass er das, was er tat eigentlich nicht wollte. Die weiteren Bilder ließen sich wie ein Daumenkino ansehen, der Rauch vom Schuß, das kurzzeitig aufspritzende Blut, der fallende leblose Körper, und wie auf dem letzten Bild André mit gesenkter Waffe da stand und beinahe fassungslos war, was er da getan hatte. "Nein...", hauchte Semir erneut und seine Augen wurden glasig.
Ben wandte sich ab und raufte sich die Haare. Das war es also, was Horn gegen ihn in der Hand hatte. Offenbar wurden die Fotos heimlich gemacht, offenbar sollten sie sowieso irgendwann als Druckmittel dienen. Und André hatte gedacht, dass niemand ihm die Tat beweisen könne, offenbar hatte er dafür bzgl der Waffe und der Leiche selbst Vorsorge getroffen. Er wurde Opfer eines Komplotts, aber letztendlich stand erstmal die Tat da, ein hinterhältiger vorsätzlicher Mord auf den in Deutschland lebenslange Haft wartete. "Das hat er uns also verschwiegen.", murmelte er und sah Kevin an, der recht blass um die Nase war aber immer noch keinerlei Anstalten machte. "Du hast es gewusst?", fragte Ben misstrauisch und Kevin nickte "Ja...". André hatte es ihm im Krankenhaus erzählt.
Semir verlor die Nerven, als er hörte dass Kevin von Andrés Mord wusste. Plötzlich sprang er auf, die Wut und Enttäuschung über die Lüge seines Freundes packte ihn, dazukam die Verschwiegenheit von Kevin. Er drehte sich und packte Kevin am Kragen, drückte ihn mit dem Steiß gegen den kleinen Schrank. "Du hast es gewusst? Und kein Wort gesagt?? Seit wann hast du das gewusst?", stieß Semir mit zitternder und lauter Stimme hervor, während Kevin sich gegen den aufbrausenden Türken nicht zur Wehr setzte. Ben war mit einem schnellen Schritt bei ihnen, er kannte Kevin nicht gut genug als dass er genau wüsste, dass dieser nicht plötzlich sich wehren würde. Beruhigend legte er eine Hand auf Semirs Schulter. "Seit gestern abend. Wir haben uns im Krankenhaus unterhalten." Semirs Atem und sein Herz raste, er wollte schreien, weinen, irgendwas kaputtschlagen. Er hatte André vertraut, von Anfang an, immer mit dem Misstrauen im Hinterkopf dass nie verschwinden wollte. Am Ende war er so glücklich, dass sich alles zum Guten gewendet hatte, und jetzt dieser Schlag mit dem Vorschlaghammer. Langsam öffnete sich der harte Griff seiner Hände um das Shirt von Kevin, der immer noch keinerlei Anstalten machte sich gegen Semir zu wehren. Er verstand dessen Erregung, er hätte es sogar verstanden wenn Semir ihm ins Gesicht geschlagen hätte. Er war nicht ehrlich zu seinen beiden Freunden gewesen, die immer versucht hatten ihm zu helfen.
Semir wandte sich von Kevin ab, plötzlich kraftlos und gebrochen. Ben wollte nicht böse auf Kevin sein, zuviele Gedanken schwirrten ihm gerade durch den Kopf. Ein Mord war kein Vergleich zu Kevins Taten in der Vergangenheit, vor allem wenn er vor kurzem geschah, mit Vorsatz und auf Fotos dokumentiert. "Wir müssen am Flughafen anrufen... die müssen André festnehmen, bevor er in die Maschine steigen kann.", sagte Ben. Seine Stimme war gefasst und voller Ernst, obwohl er mit André diese Tage zusammenarbeitete um Kevin und Semir zu finden, so hatte er doch am wenigsten emotionale Bindung zu ihm. Sein Partner und Freund wusste, dass er Recht hatte... sie mussten was tun... sein Kopf sagte ihm, es wäre richtig André jetzt festzunehmen, aber sein Herz würde es nicht verkraften, André lebenslang hinter Gitter zu bringen... gerade nach dem der ihm das Leben gerettet hatte. "Aber... ich kann doch nicht...", stammelte Semir verzweifelt und sah auf das Telefon. Eine Träne drückte sich durch die Lider und ein leichtes Zittern überfiel ihn. Ben presste die Lippen zusammen. "Wir sind Polizisten, Semir." "Willst du Kevin dann auch ans Messer liefern, he?" keilte Semir zurück und deutete auf den stummen und abseits stehenden Polizisten. Doch auch Semir wusste, dass es kein Vergleich mit Kevin gab. "Gut, dann rufe ich an.", sagte Ben entschlossen und ging auf die andere Seite des Tisches. Insgeheim fürchtete der um seinen Job, denn die Fotos würde man sicher irgendwann finden, und wenn Semir und Ben diese Tat verheimlichen würden, würden sie wohl alle drei sicher ihren Job verlieren. "Nein!" rief Semir. Er wollte das nicht Ben überlassen und nahm zitternd den Telefonhörer in die Hand. Er spürte, wie ihm schwindlig wurde, als er die ersten beiden Ziffern wählte um ein Freizeichen zu bekommen, als ihn plötzlich eine Idee erfasste.
Ein kurzer Blick auf die Uhr, sie zeigte viertel vor zehn. Er ließ den Hörer fallen, schnappte sich den BMW-Schlüssel und sprang aus dem Stuhl. Ben ahnte, was Semir vor hatte und folgte ihm sofort durch die Tür, nachdem Semir mehr schlecht als recht die Tür wieder aufschloß. Auch Kevin bewegte sich zur Tür, nachdem er einen Blick auf die Bilder warf und erstarrte. Da stimmte etwas nicht... er nahm das obere Bild, das André am weitesten weg zeigte, und betrachtete es kurz, bevor er in einen schnellen Sprint verfiel um noch mit Semir und Ben ins Auto zu steigen. Die Fotos nahm er mit, damit niemand einen Blick darauf werfen konnte.
Kneipe – 23:00 Uhr
Es kam den drei Beamten so vor, als könne man in der Kneipe, in der nach wie vor Musik lief, eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Semir und Ben hatten die Umgebungsgeräusche komplett weggeblendet, sahen nur Kevin an, der ihnen gerade mit 5 Wörtern jegliche Grundlage ihres eigenen Bildes über den gewöhnungsbedürftigen Kommissars genommen hatte. Ben war vordergründig am Überlegen welche Konsequenzen das für ihn hatte, für Kevin hatte, wenn er dieses Geheimnis für sich behielt und Semir musste kurzzeitig an seinen Ex-Partner Chris Ritter denken, der ebenfalls für kurze Zeit nach einem Einsatz drogenabhängig war.
Kevin hielt den Blicken der beiden nicht lange stand. Ohne weitere Erklärung nahm er seinen Queue und stieß die weiße Kugel in das bunte Dreieck, so dass die Kugeln wild auseinanderstoben und zwei volle Kugeln sofort in den Taschen verschwanden. Ben erinnerte sich an den Morgen zurück, als er Kevin aufweckte, als er davon ausging dass der junge Kommissar sich nur betrunken hatte. "Als ich dich in deiner Wohnung geweckt hatte, hattest du da...?", fragte er vorsichtig, und Kevin nickte sofort. Der Polizist sah seinen Partner Semir ein wenig hilfesuchend an, der gerade auch nach den richtigen Worten suchte. Er wollte Kevin jetzt nicht verteufeln, er wollte nicht wie ein strenger Vater sofort Therapievorschläge unterbreiten... er wollte Kevin verstehen. "Denkst du, es war wegen deiner Schwester.", fragte er bemüht einfühlsam über den Billardtisch hinweg, als Kevin den zweiten Stoß ansetzte, und den Anschein machte, Semir erstmal gar nicht gehört zu haben. Ein Stoß, und die nächste volle Kugel verschwand in der Seitentasche. "Kevin?", hakte der türkische Kommissar nochmal nach, als dieser endlich aufblickte, Semir mit seinen stechend blauen Augen ansah und nickte. Der Verlust seiner Schwester, das Aufladen der Schuld hatte ihn zurück in die Drogenhölle geführt, der Dämon quälte ihn zu heftig und war zu zerstörerisch. "Dann ist es jetzt vorbei?", wollte Semir wissen, der unbedingt erfahren wollte in welchem Zustand Kevin jetzt nach dem Selbstmord von Becker war. So wie er sich gerade jetzt gab schien es ihm besser zu gehen als noch vor Tagen. "Ich weiß es nicht...", sagte Kevin monoton. Heute morgen konnte er widerstehen, doch das konnte er vorher manchmal auch. Als er wochenlang nichts genommen hatte, um zur Polizei zu kommen, oder als er mit eisernem Willen das kleine Päkchen in seiner Manteltasche nicht anrührte, was er in der Wohung der drei Studentinnen gefunden hatte.
Mit einem Blick und einem leichten Kopfschütteln bedachte Semir an Ben, heute über das Thema nicht mehr zu sprechen. Ben nickte, nahm seinen Queue und war seinerseits an der Reihe. Die beiden schwörten diesmal nicht gegenüber Kevin, Stillschweigen zu bewahren, sie erwähnten nicht die Chefin oder sonst etwas. Der erfahrene Polizist hatte den Eindruck, dass er mit Schweigen Kevin mehr half, als mit Reden, Ratschlägen und sonstigem.
Der Abend nahm seinen Lauf, auch wenn die Stimmung nicht mehr ganz so fröhlich war wie zu Beginn. Kevin erzählte noch kurz davon, dass er wohl nicht mehr alzu lange bei der Mordkommission bleiben wolle, insgeheim war er nur mit dem Ziel da, eventuell den Mörder von Janine zu schnappen, wenn ein ähnlicher Mord passieren würde. Ausgerechnet bei der Autobahnpolizei hatte es nun geklappt. "Und was willst du danach machen?", fragte Ben interessiert, der hoffte, nach Andrés Absage zumindest Kevin für die Autobahnpolizei zu gewinnen. Kevin lächelte und zuckte mit den Schultern: "Weiß ich noch nicht. Mal sehen."
Gegen 1 Uhr nachts trennten sich die Wege. Alle drei begaben sich zu Fuß auf den Nachhauseweg, weil alle etwas getrunken hatten. Während Ben und Semir auf direktem Wege nach Hause gingen, nahm Kevin einen Umweg über den Friedhof, wo er eine Stunde vor dem Grab seiner Schwester im Schneidersitz auf dem eiskalten Boden saß, und ihr von den letzten Tagen erzählte. Und er sich entschuldigte...
Dienststelle - 8:00 Uhr
Trotz Müdigkeit aufgrund der recht späten Heimkehr waren alle drei Polizisten am Morgen pünktlich in der Dienststelle. Kevin reichte der Chefin zum zweiten Mal zum Abschied die Hand, nachdem er damals bereist für Ben ausgeholfen hatte und Semir unterstützte. Völlig ahnungslos seiner Hintergründe sagte die Chefin zu ihm: "Ich würde mich freuen, noch öfters mit ihnen zusammen zu arbeiten." Semir schluckte den bitteren Geschmack der gestrigen Beichte hinunter. Danach wandte sich die Chefin zu André, der ebenfalls da war um sich zu verabschieden. In 2 Stunden würde sein Flieger in Richtung Mallorca abheben, das Gepäck hatte er im Auto und er würde gleich Richtung Flughafen aufbrechen. Sie reichte ihm die Hand und lächelte. "Schön, dass wir die Chance haben, uns gesund zu verabschieden.", meinte sie im Hinblick auf sein damaliges Verschwinden. "Danke, Frau Engelhardt.", meinte André lächelnd, der immer ein gutes Verhältnis zu seiner Chefin hatte.
Danach machte der großgewachsene Polizist nochmal die Runde, schüttelte Bonrath und Herzberger die Hand, die ebenfalls froh waren, dass sie ihren damaligen Kollegen nun gesund und munter wussten. Bonrath hielt Semir noch an, als André zu Andrea ging. "Du Semir, da ist eben ein DIN-A4 großer Umschlag persönlich an dich adressiert gekommen. Ich hab ihn auf deinen Schreibtisch gelegt." "Alles klar, ich guck später nach.", gab der türkische Kommissar zur Antwort und hatte die Information schnell wieder verdrängt.
André nahm Andrea in die Arme, sie drückte ihm einen Kuss auf die kratzige Wange. "Danke, dass du dein Versprechen gehalten hast.", sagte sie leise und war sehr froh, dass sie sich damals nicht in ihm getäuscht hatte, dass er auf der richtigen Seite stehen würde. "Machs gut... pass mir auf auf den kleinen Gurkenkopf auf.", sagte André lächelnd, als die beiden sich losließen und er Semir zu zwinkerte. Zuletzt schüttelte der große ehemalige Polizist Ben und Kevin die Hände, bevor er sich mit einem kräftigen Händedruck bei Semir verabschiedete. Er wollte Semir nicht umarmen, und der verstand dies, den er kannte seinen Freund. So etwas war für André eine Ausnahme, die er ihm gezeigt hatte, als sie alleine waren, und er wusste dies wert zu schätzen. "Pass auf dich auf, Semir.", meinte er mit seinem typischen Lächeln. "Du auch, André." gab Semir zurück, bevor der, von den Toten auferstandene Polizist, die PAST verließ und sich auf den Weg zum Flughafen machte.
Kneipe – 21:45 Uhr
Drei Bier standen auf dem kleinen Ecktisch, das konstante Geräusch von einigen Leuten, die miteinander redeten und versuchten gegen die mittellaute Musik anzukämpfen war zu vernehmen, genauso wie das zielsichere „Klack“, wenn die weißte Billiardkugel auf eine der farbigen traf. Es stellte sich schnell heraus, dass Kevin und Ben im Billiard Semir Welten voraus waren, und so durfte der kleine Türke immer jeweils zu einem der beiden ins Team, was mehr Behinderung als Hilfe war. Trotzdem hatten die drei ihren Spaß, redeten viel und rissen den ein oder anderen Witz. Auch Kevin fühlte sich recht wohl, der Schlaf hatte ihm gut getan, sein Bier schmeckte ihm und er verschwendete keinen Gedanken daran, dass er seine Pillen nicht weggeworfen hatte. Trotzdem brannte ihm etwas Unwohles auf der Brust, etwas was ihn an diesem guten Abend nicht in Ruhe ließ. Er hörte Andrés Worte in seinem Kopf, die ihm sagten, dass er Semir vertrauen könnte… sein Problem, seine Sorgen. Sie waren ja nun bald keine Kollegen mehr, aber Semir und vor allem auch Ben hatten sich für Kevin in dieser kurzen Zeit, Semir ja bereits beim Fall vorher schon, zu Freunden entwickelt. Beide wussten nichts genaues von Kevins krimineller Vergangenheit, beide wussten nichts von seinem bestehenden Drogenproblem, und je länger der Abend dauerte, desto schwerer wog der Gedanke, den beiden reinen Wein einzuschenken.
Als könne Semir Gedanken lesen, schien er seinem Kurzzeit-Partner auf die Sprünge helfen zu wollen. „Ich wollte mal noch fragen, wie du eigentlich zu Andrés Kampfsportgruppe gekommen bist.“, meinte er kurz nachdem sie das vierte Spiel beendet hatten, und Kevin dabei war die Kugeln neu aufzuteilen. „Du hattest von einer Drogenzeit gesprochen.“ Es war wie ein Zufall oder eine Fügung, ein Gedanke oder eine unsichtbare Verbindung der Gedankenwelten. Jedenfalls für Kevin ein optimaler Zeitpunkt, sich seinen Kollegen ein wenig zu öffnen, ihnen das Vertrauen zu zeigen was er heute Morgen André gezeigt hatte. „Ich war in einer Straßengang damals und war LSD-abhängig.“, war seine kurze Antwort. Ben sah Kevin von der Seite an, nicht schockiert aber mit ernstem Gesicht. In seinem Magen breitete sich ein wenig ein ungutes Gefühl aus, als würde er ahnen dass da noch mehr kam. Semir nickte erst nachdenklich und lächelte dann. „Ich war auch in einer Gang als Teenager. Nur waren Drogen bei uns nie ein Thema, wir hatten uns eher auf Autoradios spezialisiert in Kalk.“, meinte er und zwinkerte Kevin zu, der kurz lächelte und dann wieder ernst wurde. „Ich war in allem drin… und ich hatte Glück dass nie was rauskam, sonst wäre ich heute kein Polizist.“ Diesmal verschwand Semirs Lächeln und er sah Kevin an. Er selbst wusste, dass seine Autoknacker-Karriere mit 14 endete, und sich um solche Bagatellen niemand scherte. Was aber Kevin auf dem Kerbholz zu haben schien, schien ein wenig mehr zu sein. „So schlimm?“, fragte er nach, eher väterlich als vorwurfsvoll. Der junge Kollege nickte, nahm sein Bier in die Hand und trank einen Schluck. Er und Ben lehnten sich neben Semir an den Billardtisch, etwas enger beisammen als vorher. Der Kommissar mit dem Wuschelkopf blieb stumm und ahnte, dass Kevin vor hatte, so etwas wie ein „Geständnis“ zu machen, zumindest ein wenig seiner, manchmal geheimnisvollen Vergangenheit zu erzählen. „Ich hab gedealt.“, begann Kevin und zählte mit den Fingern auf. „Ich hab dreimal im Rausch, zweimal nüchtern mindestens schwere Körperverletzung begangen.“ Kevin fühlte sich ein wenig unwohl, und er war gewiss nicht stolz auf seine Taten… er befürchtete auch immer noch ein wenig, dass seine beiden Kollegen ihn in irgendeiner Form verurteilen würden, denn er hatte sein Taten schließlich nie abgesessen. Die Reaktion konnte er erstmal nicht deuten, es schien eine Art Erstaunen zu sein, mit dem sie Kevin entgegneten. „Kleinere Einbrüche und Diebstähle… und“ auf den letzten Teil hätte Kevin gerne verzichtet, den er schaute kurz zu Boden. „Naja… ein Richter würde es wohl als Totschlag deuten.“ Nun wurden Semirs Augen endgültig größer und Ben entglitt nur ein kurzer „Scheiße…“. Das waren doch Infos, bei denen ein Polizist eigentlich verpflichtet war, zu handeln, vor allem gegen einen Kollegen. Doch das kamen gerade weder Semir noch Ben in den Sinn. „Was ist passiert?“, fragte der türkische Polizist mit ernstem Blick und verschränkte die Arme vor der Brust, während Kevin sie neben sich auf den Billardtisch stützte. „Ich hab damals geboxt, und es war nicht unüblich, dass einer der Kämpfer, oder beide Drogen genommen hatten vor dem Kampf.“ Entgegen seiner Erzählungen über seine Schwester schaute Kevin diesmal beide Kommissare fest an. Ben erinnerte sich daran, dass er es in seiner Wohnung nicht schaffte, dem Kommissar in die Augen zu sehen, während er ihm seine Geschichte erzählte. „Naja, der Kampf war recht ungleich, der Typ hatte keine Chance. Wir hatten ja keine Ringrichter oder so, es wurde geboxt bis einer nicht mehr konnte. Und ich war damals so vollgepumpt dass ich nicht merkte, dass der Kerl eigentlich nicht mehr konnte, und nur noch durch pure Willenskraft auf den Beinen stand.“ Als ihm von heute Morgen bewusst wurde, wer dieser Kerl war, nämlich Beckers Bruder, schaute Kevin plötzlich sofort wieder geradeaus, und Ben bemerkte es. „Wer war der Typ?“, fragte er, wie aus der Pistole geschossen obwohl es zuerst nur ein Gedanke in seinem Kopf war. „Es war Beckers Bruder.“ Obwohl der konstante Lärmpegel nicht abebbte, kam es den drei Polizisten so vor, als wäre auf einmal die gesamte Kneipe mucksmäuschenstill. Kevin sah die beiden Kommissare ernst an, die kurz sich und dann wieder Kevin ansahen, der ein wenig den Kopf schüttelte. „Ich denke, ohne seine Drogen wäre er nicht gestorben. Ich… ich glaube ich konnte nichts für seinen Tod.“ Völlig überzeugt war Kevin nicht. Diese Alpträume würde er wohl ebenfalls niemals los werden, auch wenn später der Tod seiner Schwester diesen Alptraum verdrängt hatte. Semir atmete tief aus und auch Ben war ein wenig überfahren ob dieser Situation. „Ihr werdet keinem etwas erzählen?“, sagte Kevin in einer Mischung aus Bitte, Frage und Verlangen und sah die beiden Männer neben ihm fest an, die sich erneut kurz fragend ansahen. „Naja… ich meine, Nein. Natürlich nicht.“, meinte Semir nach kurzem Überlegen, doch ganz überzeugend war er nicht. Es ging so vieles in dieser Stadt vor sich, was sie nicht wussten… das waren eben Dinge, die nicht herauskamen weil solche Gangs eben dichthielten. Da ging jemand beim Boxen hops, das war einer der zigtausend Drogentoten in Deutschland. „Nein, tun wir nicht.“, wiederholte er nochmal deutlicher, und überzeugter und auch Ben stimmte mit ein. „Bestimmt nicht.“ „Danke…“, meinte Kevin ein wenig leiser, schaute auf den Boden und schien sich den endgültigen Ruck zu geben. Semir schaute, ein wenig besorgt, und Kevins Blick hielt ihn davon ab, sich wieder dem Spiel zu zuwenden. Er spürte, da kam noch was, das war noch nicht alles. Der junge Kommissar schien auf dem Boden der Kneipe für kurze Zeit Wörter zu suchen, mit denen er den nächsten Satz baute, der wohl alles in Ben’s und Semir’s Kopf, was sie über Kevin wussten, zum Zusammenstürzen bringen würde. Der coole Bulle, der zwar in seiner Jugendzeit Scheiße gebaut hatte, einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen musste, der ihn mitnahm aber nicht kaputtmachte… Kevin sah auf. Er blickte beide mit festem Blick an, und obwohl er vorher nicht angekündigt hatte, noch etwas beichten zu wollen, sahen sie ihn erwartungsvoll an. Eine Kommunikation mit Blicken hatte es ihnen verraten. „Ich nehme immer noch Drogen.“, sagte Kevin in die Musik.
Sorry für die länger werdenden Postingzeiten, aber ich habe mir Anfang des Jahres ein Haus gekauft, das ich momentan am Renovieren bin.
Bis Ende des Monats ist der Umzug über die Bühne gegangen, und alles ist wieder ruhiger, und somit auch mehr Zeit die Geschichte zu Ende zu führen. Sorry!
Kevins Wohnung – 19:00 Uhr
Zum ersten Mal nach Jahren hatte Kevin eine Nacht ohne Alptraum überstanden. Das Einzige, was er träumte und zuerst dachte, es sei real war die Begegnung mit Janine. Sonst schlief er fest ohne noch einmal aufzuwachen, bis ihn der Klingelton seines Handys störte. Seine Augen blinzelten, und er murmelte unfreundliche Wörter, als sich seine Augen langsam an die Umgebunsghelligkeit gewöhnten und er sich langsam aufrichtete. Er lag noch mit den Kleidern im Bett, und jetzt plötzlich spürte er doch den ein oder anderen Schmerz in den Knochen. Murrend nahm er sein Handy zur Hand und wischte über das „Abheben“-Symbol. „Was’n?“, meldete er sich mit verschlafener Stimmlage. „Hey, hier ist Ben. Ist alles okay bei dir?“ Ben hatte den ganzen Tag am Abschlussbericht gearbeitet, Semir kam am Nachmittag dazu. Irgendwie hatte ihn die innere Unruhe nun doch dazu gedrängt bei Kevin mal nachzuhören, ob alles okay ist, vor allem als er sich an den schlimmen Zustand von vor zwei Tagen zurück erinnerte. Er wollte dem jungen Polizisten nicht das Gefühl geben, alleine zu sein. „Hmm, ja… alles okay.“, murmelte Kevin und rieb sich mit einer Hand in den Augen, was Ben freilich nicht sehen konnte. Er hörte nur das Gemurmel, und sein Magen zog sich ein wenig enger zusammen. „Wirklich? Du hörst dich so…“, besoffen an, wollte Ben den Satz beenden, doch er schluckte es runter. „Ich hab grade geschlafen.“, erwiederte sein Telefonpartner, und bemerkte langsam, auf was Ben hinaus wollte. „Außerdem hab ich gar nix mehr im Haus. Okay?“ Ben fühlte sich ertappt: „Ähm… ja… super, dann ist ja gut. Du, sollen wir heute abend noch was unternehmen, unseren Ermittlungserfolg feiern? Billard spielen, oder so?“ Kevin dachte kurz nach, und erstaunlicherweise sagte sein Kopf sofort zu. Er fühlte sich, von den Schmerzen abgesehen, plötzlich befreiter. War das nur dieser merkwürdige Traum? Die Geschichte gestern endlich mal komplett von A bis Z jemandem erzählt zu haben? Oder half es seiner Seele doch, dass Becker tot war. „Hmm, ja warum nicht? Okay. Holt ihr mich ab?“ Ben war auf der anderen Seite der Leitung angenehm überrascht über die schnelle Zusage seines Kollegen. Er hatte mit schlechter Laune, Müdigkeit und dahin eingehende Absage gerechnet, er hatte damit gerechnet dass Kevin sich weiter in sein Schneckenhaus verkriechen würde. Aber so freute er sich darauf, dass Kevin ihm und Semir Gesellschaft leisten würde. André hatte abgesagt, er hatte kurzfristig einen Flieger für morgen früh bekommen, und wollte noch die restlichen Sachen packen… er würde morgen früh noch kurz auf der Dienststelle vorbeikommen. „Wir sind so um 9 Uhr bei dir. Bis dann.“, antwortete der Kommissar in der Autobahndienststelle und legte auf.
Kevin legte das Handy beiseite, und ging mit langsamen Schritten ins Badezimmer. Den Drogenmix letzter Nacht hatte er fast verdaut, ein Vorteil wenn man allerlei Scheiß gewöhnt war. Er schaute in den Spiegel und sah in sein recht ramponiertes Gesicht. Ein Schnitt in der Unterlippe, ein Cut auf der Wange und eines über der rechten Augenbraue. Dazu eine rot-violette Schwellung am Unterkiefer. Nein, er sah nicht unbedingt gut aus, dachte er sich selbst als er sich auszog und unter die Dusche stellte. Aber etwas anderes war ihm aufgefallen… die dunklen Ränder unter seinen Augen waren verschwunden. Oder waren sie in dem violet-rot verziertem Gesicht nicht aufgefallen?
Auch sein restlicher Körper war übersät mit blauen Flecken, über die er nun lauwarmes Wasser laufen ließ. Doch irgendwie fühlte er sich nicht schlecht… zum ersten Mal nach langer Zeit. Er spürte nicht die Anspannung, nicht diesen Druck als würde Janine ihm über die Schulter schauen, um zu sehen dass er endlich ihren Mörder finden würde. Ihr unsichtbarer Geist drängte ihn nicht dazu, und gab ihm nicht dieses Gefühl, wieder versagt zu haben, wenn er ihn am Ende des Tages noch nicht gefunden hatte. Sein Leben fühlte sich ein wenig leichter an, ein bisschen zumindest.
Kevin stand bestimmt 20 Minuten unter dem lauwarmen Wasserstrahl, als er endlich aus der Duschkabine stieg. Er legte sich ein Handtuch um die Hüfte und begann sich abzutrocknen. Gedanken gingen dem jungen Polizisten durch den Kopf, Gedanken die er zum ersten Mal hatte… verdammt, war diese Bude ungemütlich, dachte er sich als er durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah. Durch die Verbindungstür ging es ins Schlafzimmer, wo der Kommissar sich frische Kleider aus dem Schrank nahm. Eine hellblaue Jeans, die an einigen Stellen kaputt war, ein frisches weißes T-Shirt und seine schwarze Kapuzen-Weste. Die halbfeuchten abstehenden Haare wurden mit etwas Haargel endgültig unbändig gemacht.
Bevor ihn seine Kollegen abholten ging Kevin noch schnell in sein Schlafzimmer. Er kniete sich auf den Boden und klaubte die kleinen pinken Pillen wieder ins Röhrchen zusammen. Mit einem leisen Plop drückte er den Deckel drauf und war bereits auf dem Weg zum Mülleimer… doch ein Gefühl hielt ihn zurück. ‚Was, wenn er sie doch nochmal brauchen würde… was wenn der Dämon nochmal zurückkommt?` Kevin würde dann, ohne seine kleinen Hilfsmitteln kaputt gehen. Er stand über dem geöffneten Mülleimer und hätte nur noch die Hand öffnen müssen, dann wären die Pillen hineingefallen, doch etwas hielt ihn zurück.
Vor Kevins Wohnung – 20:50 Uhr
„Willst du nicht Kevin mal ein wenig Kapital überlassen, dass der sich mal ne anständige Wohnung leisten kann?“, witzelte Semir in Richtung seines, finanziell recht unabhängigen, Partners als er einen Blick auf die spärlich beleuchtete Plattenbausiedlung warf. „Ich glaube, Kevin braucht das ein bisschen.“, überlegte Ben laut während die beiden Autobahnpolizisten auf ihren Kollegen warteten. Auch Semir hatte sich gefreut, dass Kevin die Einladung heute abend annahm. Ihm war, abgesehen während des Gespräches mit André, die gruselige Szene im Keller nicht mehr aus dem Kopf gegangen… als Becker Kevins Kopf dicht an ihn heranzog, und zischend Kevin das Bild vor Augen malte, wie er gerade seine Schwester missbrauchte und bestialisch umbrachte. Semir hatte es schon mit vielen Verbrechern zu tun, Leuten, die grausige Taten begingen… aber er hatte es nie miterlebt, wie makaber ein Verbrecher mit einem Opfer, das Kevin in dem Falle war, umging. Ohne dem Kommissar körperliche Schmerzen zuzufügen war es wohl die schlimmste Folter, die er Kevin in diesem Moment antun konnte. Semir fühlte sich als Ältester der Truppe verantwortlich, mit seinem Kollegen darüber zu reden… vielleicht heute abend, wenn sie mal für einen Moment alleine waren. Ihm war es nicht bewusst, dass er von den dreien derjenige war, der eigentlich am wenigsten über Kevins Leben wusste. Ben wusste zumindest von Problemen, von dem seltsamen Brief, André wusste alles. „Wie meinst du das“, kam er nun dazu, auf Bens kurzen Satz zu reagieren. Der jüngere Kommissar musste kurz nachdenken, um nichts von seinem Geheimnis Kevin gegenüber preiszugeben. „Naja… ich denke einfach, Kevin ist nicht der Typ für irgendein Penthouse, oder so.“, meinte er grinsend. „Zwischen nem Penthouse und dieser Bruchbude wird’s ja noch nen Unterschied geben, oder?“ fragte Semir sarkastisch. Ben trommelte nervös auf dem Lenkrad herum, ihm brannte es ein wenig unter den Nägeln. Er hatte nicht gerne Geheimnisse vor Semir und auch ihm wäre es viel angenehmer, wenn Kevin auch seinen türkischen Kollegen in seine Geheimniswelt miteinbezog. Doch das sollte nicht das vordergründige Ziel des Abends sein. Sie wollten vor allem ein Auge auf Kevin haben, dass er keine Dummheiten machte… und Ben beruhigte sich etwas, als er den jungen Kommissar mit schnellen und dynamischen Schritten aus der Haustür in Richtung des Autos gehen sah.
Karateschule - 12:35 Uhr
Semir stand ein wenig unschlüssig im Türrahmen, er war überrascht, beinahe überfahren als er sah, dass André seine Reisetasche packte. Er war mit so vielen Gedanken im Kopf zu der ehemaligen Schule gefahren, hatte sich bereits vorgestellt wie es sein würde, mir André wieder zusammen zu arbeiten... und nun das. André wollte offenbar wieder weg, weg aus Köln, vielleicht sogar weg aus Deutschland? Langsam kam der türkische Polizist in den Raum, in dem André stand und seine Arbeit für kurze Zeit unterbrach. Ein Schweigen lag im Raum, bleischwer. Auch André wurde überrascht, er wusste noch gar nicht wie er es Semir sagen sollte, dass er zurück nach Mallorca gehen wird, hatte sich noch nicht ausgemalt wie er es seinem Freund beibringen sollte, dass sie sich wieder trennten, kurz nachdem er von den Toten wieder auferstanden war. „Ich… ich wollte es dir eigentlich noch sagen…“, murmelte André leise, als Semir bei ihm ankam und quasi stumm die Frage stellte, was er denn nun vor habe. „Ich werde nach Mallorca zurückkehren.“ Semir wusste in diesem Moment nicht, ob er entsetzt, enttäuscht oder verständnisvoll reagieren sollte. Irgendwie eine Mischung aus allem, seine braunen Augen schauten traurig, sein offener Mund drückte ein wenig Entsetzen aus, doch seine nickende Kopfbewegung so etwas wie Verständnis. Der Türke dachte rational nach, André hat offenbar 14 Jahre auf Mallorca verbracht, was wiegen dagegen 3 Jahre mit ihm zusammen im Dienst. „Okay… das kommt… überraschend.“, meinte er dann und steckte zwei Finger in seine hintere Gesäßtasche. Eine typische Geste, wenn Semir etwas unangenehm war. „Wir… wir hatten uns gerade im Büro unterhalten, dass ihr beide… also du und Kevin… vielleicht zusammen…“ André lächelte und schüttelte ein bisschen den Kopf. „Semir, die Zeiten sind vorbei.“, meinte er mit seiner kratzigen Stimme. André wollte keinen bösen Buben mehr hinterher laufen, außerdem würde die Polizei ihn nie wieder einstellen. „Ja… es war auch mehr eine Idee, weißt du.“, antwortete Semir und lächelte ebenfalls, allerdings ein wenig gequälter als André, der nochmal zwei Kleiderstücke aus dem Spind nahm. „Wie geht es Kevin?“, erkundigte sich Semir und suchte nach einem Übergang, weil sich erneut Stille ausgebreitet hatte. „Körperlich ist er bis auf ein paar Blutergüsse okay. Aber die Sache hat ihn natürlich mitgenommen… er hat mir alles soweit erzählt, vor allem was im Versteck passiert ist.“ Semir erinnerte sich an die kranke Vorstellung von Peter Becker, als dieser Kevin bedrohte und in aller Ausführlichkeit die Vergewaltigung von Kevins Schwester Janine in Gedanken nochmal zelebrierte. Dabei lief es sogar dem eigentlich hartgesottenen Semir nochmal eiskalt den Rücken hinunter.
„Ich wusste bei unserm ersten Fall noch gar nicht, dass du ihn trainiert hattest.“ André nickte, und dachte kurz nach. Würde er Kevin einen Gefallen tun, wenn er Semir einweihte. Er kannte Semir ja, er wusste dass der Polizist nichts gegen seinen jungen Kollegen unternehmen würde, um ihm oder seiner Polizei-Karriere zu schaden. Er bewegte sich ein wenig vom Spind weg und setzte sich auf eine der Trainingsbänke. „Ich hatte nach Olafs Tod damals ja mehr und mehr der Drogensüchtigen von der Straße in die Karateschule geholt, erinnerst du dich?“ Sein ehemaliger Partner nickte. „Kevin war einer davon…“ Nun weiteten sich die Augen von Semir und sein Mund öffnete sich. „Kevin war drogenabhängig.“ André entschied sich gegen die komplette Wahrheit. „Ja… ziemlich sogar. Er war damals in einer kriminellen Straßengang, und ich hab ihm geholfen da raus zu kommen.“ „Das hattest du nie erzählt…“, meinte Semir. „Naja… bis auf einige Weibergeschichten und Storys von deiner Mutter… haben wir uns damals eigentlich nicht viel voneinander erzählt…“ „Ja, stimmt eigentlich.“, gab Semir kleinlaut zu und wunderte sich. Obwohl sie beide richtig gute Freunde waren, und gut miteinander zusammen arbeiteten, so war es doch eine ganz andere Beziehung zu André gewesen, als es danach zu Tom war, und nochmal anders als zu Ben. Tom und Semir waren damals ungefähr gleichalt, teilten gleiche Interessen, nur inniger und privaterer Natur als mit André. Ben dagegen war, aufgrund seines jüngeren Alters immer eine Art kleiner Bruder für Semir gewesen. Es war einfach eine andere Art der Beziehung zwischen Partnern.
„Kevin hatte es damals geschafft clean zu werden. Er wandelte sich von einem schweigsamen, aber aggressiven Jungen zu einem ernsten, aber auch solidarischen Typen. Der Tod seiner Schwester hat da vieles wieder kaputtgemacht.“, erzählte André das, was er in den Tagen beobachten konnte. Sein Freund erinnerte sich an Kevin bei dessen erstem Fall mit der Autobahnpolizei zusammen. Damals war Kevin zwar nicht redselig aber war jetzt doch nochmal eine Ecke schweigsamer. „Bei dem Einsatz damals hatte er sich in eine Tatverdächtige verliebt, die erschossen wurde. Das hat ihm bestimmt nicht geholfen.“, sagte Semir und André stellte fest, dass da doch noch das ein oder andere Puzzleteil war, das er nicht kannte. „Wenn er bei euch bleibt, musst du ein bisschen auf ihn aufpassen, Semir. Auch wenn er das nicht gerne hat. Er hat schon viel durchgemacht.“, meinte André eindringlich und sein Freund nickte. „Hatte er mal was Ernsthaftes ausgefressen?“ , fragte Semir und konnte sich nur Dinge vorstellen, die entweder nie geklärt worden waren, oder nicht so schlimm waren. André sah Semir eindringlich an, mit stummen Worten wurde dem türkischen Kommissar klar, was André damit zeigen wollte. „André… du glaubst doch nicht, ich renn jetzt zur Engelhardt, und…“ „Schon gut, schon gut… ich weiß.“, beschwichtigte André sofort. „Kevin war damals sehr dick drin. Körperverletzung, Einbruch… und ein vermeintlicher Todschlag im Boxring. Die Dinge sind aber nie ans Licht gekommen, der Tote ging anscheinend vollgepumpt mit Drogen in den Ring und starb nicht von den Schlägen… wie bei mir damals.“, erzählte André und Semir musste erst mal aufatmen. Dass man es mit so einer Vergangenheit zum Polizisten bringt… alle Achtung.
Semir wollte das Thema wechseln, und nach dem hörbaren Durchatmen wollte er sofort umschwenken: „Was hast du jetzt auf Mallorca vor?“ „Ich hab dir doch erzählt, was ich wegen dem gefährlichen „Job“ in Mallorca nicht getan hatte, als du mich nach meiner Familie gefragt hattest.“, erklärte der großgewachsene Mann und sein Freund nickte. „Das würde ich wirklich gerne nachholen.“, meinte André lächelnd und zwinkerte, und brachte damit seinen Nebenmann auf der Kabinenbank ebenfalls zum Lachen. „Und sonst, mal sehen. Strandbar… vielleicht irgendwas mit Autos. Ich weiß noch nicht.“ Der türkische Polizist erinnerte sich an Andrés Leidenschaft zu Fahren… und wehe es war am Steuer jemand besser als er. „Naja, auf Mallorca musst du wenigstens nicht über Wasserkanäle springen.“, neckte er seinen ehemaligen Partner ein wenig. André hatte damals Semirs BMW in einen Wasserkanal gefahren, als er versuchte einem Stuntman zu folgen. Der Betroffene lachte und boxte Semir scherzhaft auf den Arm: „Hey, du weißt genau, dass dessen BMW präpariert war. Außerdem hab ich es später mit dem Porsche geschafft.“ Die beiden Männer lachten wie Schuljungen, die sich gegenseitig Streiche erzählten und schwelgten ein wenig in Erinnerung. Das Misstrauen, was Semir über die ganze Zeit in sich gehegt hatte, war weggeblasen. André war größtenteils doch der André geblieben, den er damals vermisst hatte. Stur und dickköpfig zum einen, aber das Herz auf dem rechten Fleck und die Freundschaft zu Semir war nie abgerissen.
„Semir…“, meinte André dann plötzlich und der Angesprochene blickte zu André auf. „Ich will mich nochmal entschuldigen, für das was ich getan habe. Dass ich nichts unternommen hatte, um mich bei dir zu melden, dass es mir gut geht. Dass ich die Beziehung zwischen uns damals falsch eingeschätzt habe. Es tut mir wirklich leid… leid, dass ich 14 Jahre „tot“ war.“ Semir war ergriffen von der Entschuldigung, denn André war normalerweise nicht der Typ, der sich entschuldigte. Er presste die Lippen zusammen und lächelte. „Ich muss mich bedanken, dass du mit Ben und Kevin nicht aufgegeben habt, mich zu suchen. Ich sag dir ehrlich, dass ich die ganze Zeit Probleme hatte, dir voll zu vertrauen… aber spätestens da wusste ich, dass du der Alte geblieben bist.“ Nun war André ein wenig ergriffen und lächelte, und dann taten die beiden etwas, was sie in ihrer Partnerschaft nie getan hatten, obwohl sie so manche brenzlige Situation gemeinsam überstanden hatten… sie nahmen sich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, freundschaftlich in die Arme.
Hatte nen Thread gesucht, wo das reinpasst, aber keinen gefunden, deswegen mache ich nen allgemeinen Thread auf, wo man News zu den Nebendarstellern posten kann.
Dieser Winfried Glatzeder aus dem Dschungelcamp... ist das nicht der, der den Besitzer des Bordells in "Schnäppchenjäger" spielt, der André am Schluß als Geisel nimmt?
Na, da ist mir wenigstens diesmal die kleine Täuschung geglückt
Sehr schöne, sehr emotionale Kurzgeschichte.
Du schaffst es wirklich hervorragend, die Gedanken deiner Protagonisen in tollen Worten wiederzugeben, und damit die, eigentlich schon bestehende Story, enorm aufzuwerten. Wirklich top!!
Kevin’s Wohnung – 12:15 Uhr
Die Rückfahrt der beiden Männer verlief überwiegend stumm und ohne Gespräch. André schien in einer besonderen Form erleichtert, zum ersten Mal über die Dinge auf Mallorca gesprochen zu haben, und er vertraute Kevin genug, dass er sie ihm erzählt hatte. Vor allem aber konnte er sich bei ihm, gerade bei ihm eher eine Art von Verständnis vorstellen, als dass er es von Semir erwarten würde, obwohl sich die beiden so gut kannten und verstanden. Irgendwann würde er es Semir erzählen… irgendwann.
Kevins Gedanken gingen im Kopf kreuz und quer. Er hatte sich die Arme um den Oberkörper geschlungen, ihm war frisch. Sein Oberteil war zwar trocken aber für die Temperatur halt immer noch zu dünn. Ihm hatte es definitiv gut getan, seine Geschichte der letzten Jahre nicht nur in Teilen anzureißen, wie bei Ben, sondern haarklein und ganz genau jemandem zu erzählen… vor allem jemandem, der seine eigene Vorgeschichte so gut kannte wie André. Es war, als redeten Vater und Sohn miteinander, bei dem der Vater seinen Sohn gern schützen wollte, und der Sohn umgekehrt nicht das Schlechte in seinem Vater sehen wollte, nach dessen Geständnis. Es war eine komische Situation, und Kevin wusste noch nicht genau, wie er damit umgehen sollte. Er wollte vor allem jetzt erst mal alleine sein, sich ins Bett legen, nachdenken. Er hatte André auch von seinen Suizid-Fantasien erzählt, und der war weniger begeistert, den jungen Polizisten jetzt alleine zu lassen, als sie im Auto vor Kevins Wohnung saßen. „Bist du sicher, dass du jetzt alleine sein willst?“, fragte er nochmals, als Kevin gerade aussteigen wollte. „Ja. Ganz sicher.“, gab der mit halbwegs fester Stimme zur Antwort und nickte zustimmend. André schaute sorgenvoll, konnte er es wirklich verantworten? Aber er vertraute dem Jungen, dessen Geist und Wille er früher als so stark empfand. „Na gut. Aber melde dich, wenn’s dir nicht gut geht, okay? Versuch zu schlafen.“ Kevin nickte etwas gedankenverloren und stieg aus dem Wagen aus.
Er quälte sich schon fast die Treppen nach oben, in die Wohnung hinein und ließ sich auf die Couch fallen. Alles um ihn herum schien trist und leer, er fiel ins Bodenlose in dieser Umgebung, die ihn an manch schlimme Nacht erinnerte. Es war alles sinnlos gewesen, alles was er versucht hatte. Er hatte vor Janine versagt… damals, heute. Er hätte Becker hinterher springen sollen, aber nicht mal das hatte er fertig gebracht. Mit beiden Händen fuhr er sich durch die Haare, als sein Blick auf die unscheinbare Ampulle fiel, die immer noch auf der Küchenanrichte lag und die kleinen pinkfarbenen Pillen enthielt. Langsam, mit schmerzverzerrtem Gesicht stand Kevin vom Sofa auf und tapste in die Küche, wo er das kleine Plastikröhrchen in die Hand nahm. Lautlos zählte er die Smarty-großen Pillen. „18“, kam er zu einem Ergebnis. Eine solche Menge auf einmal würde wohl kein Mensch überleben. Seine Hand klammerte sich um das Röhrchen, sein Herz schlug schneller. ‚ Du allein kannst den Dämon besiegen‘, hörte er Andrés Stimme im Hinterkopf, als er mit dem Röhrchen in der Hand ins Schlafzimmer ging. ‚ Nur du allein... dein Wille.‘ Mit einem leisen „Plop“ öffnete Kevin das Pillenröhrchen und ließ sich aufs Bett gleiten…
Karateschule – 12:30 Uhr
André stieg gerade aus dem Fahrzeug aus, als er seinen Entschluss gefasst hatte. Er wollte weg hier. Er wusste nicht warum genau, aber es zog ihn zurück nach Mallorca. Er konnte hier nicht als Polizist arbeiten, was sollte er hier. Er würde mit Semir Kontakt halten, sie würden telefonieren und hin und wieder würden sie sich besuchen. Irgendwo wollte sich André ein neues Leben aufbauen, er hatte die dunklen Geister seiner Vergangenheit hoffentlich abgelegt. Er verschwendete keinen Gedanken an die Drohung von Horn, als sie ihn gefasst hatten und versuchte seine Vergangenheit zu verdrängen. Die Gegenwart zählte, sonst nichts, dachte der großgewachsene Karatekämpfer, als er seine Tasche nahm und langsam begann die Kleiderstücke aus dem alten Holzspind im Trainingsraum darin zu verstauen. Vorher würde er aber nochmal mit Semir reden, natürlich. Ein Abend zu zweit, Billard spielen, was trinken… wie früher.
Doch sein ehemaliger Kollege kam ihm zuvor… er überraschte ihn quasi beim Packen. Die Tür stand offen und Semir trat ein, hörte die Geräusche aus den Trainingsräumen und folgte ihnen. Er sah den breiten Rücken von André, wie dieser aus einem Spind Kleider in eine Tasche packte. „Du packst?“, waren Semirs Begrüßung ohne Veränderung der Tonlage, und ließen André sich umsehen, und leicht nicken. „Ja…“
Kevins Wohnung – währenddessen
Eine Hand lag auf seinem Bauch, die andere verdreht hinter seinem Kopf. Das eine Beine hatte der Polizist weit ausgestreckt, das andere angewinkelt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag er auf dem Bett, halb da, halb weg. Das Röhrchen lag neben dem Bett auf dem Boden, es war leer. Es schien, als wäre die Welt in einen Schleier getaucht, durch den er hindurch sah, er empfand eine drückende Last auf den Lungen, wie eine Hand die seine Lungenflügel zerquetschen würde. Der Raum war hell, doch die Tür sonderbarerweise ganz weit weg. Dunkle Schemen konnte er darin erkennen, die sich langsam auf ihn zu bewegten. Wer war das? War das André, Semir, Ben? Kevin kniff die Augen zusammen, um mehr zu erkennen. Kehrte Becker etwa zurück.
Der junge Cop hatte den Kopf zur Seite gedreht um zu sehen, wer sich an sein Bett heranbewegte. Was er erkannte, ließ ihn den Atem stocken, als sich sanfte kleine Mädchenfinger auf seine Stirn legten und durch seine Haare fuhren. „Es tut mir so leid, Kevin.“, sagte die junge Mädchenstimme und strich dem Polizisten sanft über die Schläfe an den verkrusteten Platzwunden vorbei zur Wange. „…dass du dir wegen mir so viele Sorgen gemacht hast.“ „Janine…“, flüsterte Kevin tonlos, unfähig sich zu bewegen. War das real, war das eine Halluzination? Wo war er? Was geschah hier? Warum kann er sich nicht bewegen, verdammt? Er wollte seine Schwester so gerne in den Arm nehmen, so rein wie sie aussah. Frisch gemachte Haare, saubere Kleidung, ihr, für ihr Alter, sehr dezentes Make-Up. Sie sah so aus, wie Kevin sie sich gerne in Erinnerung behalten wollte… nicht schmutzig, voller Blut und mit zerissenen Kleidern, in einer dunklen Gasse. „Ich bin sehr stolz auf dich, Kevin.“, flüsterte sie, und der junge Mann verstand nicht. Warum war sie stolz… auf was? „Aber…“, murmelte er hilflos und Stimme, obwohl er gerne laut sprechen wollte. „Ich… ich habe es nicht gesc…“ „sssscht“, machte seine Schwester und legte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen. Er spürte es ganz deutlich und seine tonlose Stimme verstummte, ohne dass er es wollte. „Du hast mir gezeigt, wie wichtig ich dir bin, Kevin. Und deshalb möchte ich durch dich weiterleben.“, flüsterte sie ihrem Bruder ins Ohr, dass er sie ganz deutlich hören konnte. „Aber dazu MUSST du leben. Lebe wieder wie du mit mir gelebt hast. Ich werde dich niemals verlassen, Bruderherz.“ Der Polizist spürte wie ihm eine Träne aus dem Auge die Wange herunterlief, als der sanfte Druck von Janines Finger auf seiner Wange und seinen Lippen verebbte und weniger wurde. Seine Augen schlossen und er verspürte den Drang alles loszulassen, alle Tränen und Gefühle, die ihn bedrückten…
Kevin lag auf seinem Bett… eine Hand lag auf seinem Bauch, die andere verdreht hinter seinem Kopf. Das eine Bein hatte der Polizist weit ausgestreckt, das andere angewinkelt. Mit leicht verzerrtem Gesicht lag er auf dem Bett, das Röhrchen lag neben dem Bett auf dem Boden… es war leer. Die pinken Pillen lagen auf dem Fußboden verstreut… 18 Stück. Der junge Polizist schlief tief und fest… nur aus seinem Auge drückte sich eine Träne und suchte sich den Weg an seiner Wange herunter…
Krankenhaus - 11:30 Uhr
Der Geruch eines Krankenhaus war überall gleich. Einigen Menschen war er fremd, aber nicht unangenehm, andere fanden ihn abstoßend und sagten : "Es riecht einfach nach krank." André rümpfte die Nase, während er auf dem Flur saß und wartete, bis die Untersuchungen bei Kevin zu Ende waren. Er wollte seinen ehemaligen Schüler einfach nicht alleine lassen, Semir und Ben mussten zurück ins Büro, wobei besonders Ben ebenfalls gerne mitgefahren wäre, weil er alles mitbekommen hatte, was auf dem Dach geschah. Der ehemalige Polizist hatte Zeit, sich Gedanken zu machen, wie es für ihn jetzt weitergehen würde, wenn nichts dazwischen komme. In Deutschland bleiben, zurück nach Mallorca? In eine andere Ecke, wo ihn niemand vermutete? Er wusste es nicht... was sollte ihn hier halten, ausser Semir. Sie würden jetzt zumindest weiter in Kontakt bleiben, zumindest so lange...
Weiter kam er mit den Gedanken nicht, denn eine Krankenschwester trat gerade aus dem Zimmer, in dem sich Kevin aufhielt. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür und meinte: "Sie können gerne rein." "Danke", erwiederte André und erhob sich von seinem Stuhl um in den Untersuchungsraum zu treten. Kevin saß auf einer Liege, sein noch feuchtes Oberteil hing über der Heizung, und er selbst ließ gerade eine dicke Wolldecke von seinen muskulösen Schultern gleiten. "Wie gehts dir?", fragte sein ehemaliger Lehrer, und blickte auf die zahlreichen Schrammen, Flecken und Blutergüsse, Zeugen davon dass er innerhalb weniger Stunden zweimal zusammengetreten wurde. "Ging mir schon mal besser... sind aber nur Prellungen.", meinte Kevin mit recht müder Stimme. Ihm war von dem Drogencocktail noch ein wenig übel, ausserdem empfand er eine tiefe, seelische und körperliche Müdigkeit. Er war blass und hatte dunkle Ränder unter den Augen und wer konnte es ihm verübeln.
Eigentlich wollte André ihn hier und jetzt nochmal auf seine Drogen ansprechen, warum und weshalb, doch als Kevin sich umdrehte, um nach seinem Oberteil zu greifen, gewährte er ihm den Blick auf seinen Rücken... auf das Tattoo, die Schrift und die Narben. Er erkannte das Bild, er kannte Kevins Schwester vom sehen, weil sie ihn manchmal abholte vom Training, weil Kevin manchmal von ihr erzählte. Der ehemalige Polizist las das Geburts- und Todesdatum und ließ vor Schreck den Mund etwas offenstehen, bis er die Sprache wiederfand. "Er hat deine Schwester umgebracht..." Es war keine Frage, eher eine Feststellung die Zweifel enthielt. Kevin verharrte im Griff nach seinem schwarzen Oberteil, ein Stich fuhr ihm ins Herz und er wusste, dass André es nicht böse meinte. Nur langsam, ganz langsam setzte er die Bewegung fort, nahm das Kleidungsstück und zog es sich über den Kopf, wobei sich sein ganzer Körper schmerzend meldete. André kam langsam in seine Richtung und setzte sich zu ihm auf die Bank. Er hatte einen anderen Einfluss auf ihn, als der nur wenig ältere Ben. André war für Kevin während seines Trainings, als er versuchte aus der Jugendgang auszusteigen so etwas wie ein Ersatzvater. Es lagen zwar "nur" etwa 20 Jahre zwischen ihnen, aber Kevin war damals im Kopf einfach noch jünger als er wirklich war. Er schluckte und sah André nicht an, der sich neben ihm niederließ und ruhig fragte: "Was ist passiert?"
Kevin begann zu erzählen... er erzählte erst stockend, dann immer flüssiger, mit leiser Stimme. Seinen Schutzwall, den er für Ben lediglich geöffnet hatte, ihm aber keinen Eintritt gewährte, hatte er für André komplett fallen lassen. Er erzählte was in dieser Nacht in der Gasse geschah, seine Hilflosigkeit, als er am Boden lag, dass er Janine nicht helfen konnte, wie Peter Becker sie vergewaltigt hatte und ihr dabei die Kehle durchschnitt. Wie er danach sich in Alkohol flüchtete und den Weg zu den Drogen zurückfand. "Manche Nacht war es so schlimm, dass ich mich am liebsten umgebracht hätte...", sagte er dabei leise. André hörte stumm zu, nickte hin und wieder, war aber gefasst. Die Wut, der Zorn und die Rachegefühle hatten Kevin bis heute überleben lassen, und auch seine Arbeit bei der Polizei. "Deine damaligen Taten sind nie rausgekommen?" Kevin schüttelte den Kopf. Das Dealen, die Körperverletzung, der vermeintliche Totschlag im Ring... nichts davon tauchte in irgendwelchen polizeilichen Akten auf. Auch den Drogenkonsum konnte er weitestgehend geheimhalten. "Jetzt...", schloß er seine Beichte "fühle ich mich einfach nur leer. Es ist nichts mehr da. Wenn ich Becker selbst umgebracht hätte, hätte ich vielleicht so etwas wie ein Befriedigung empfunden... aber so ist nichts mehr da." Nun erschrak André ein wenig bei Kevins Worten und widersprach ihm heftig: "Glaubst du, Janine hätte es gewollt, dass du einen Menschen umbringst, auch wenn es ihr Mörder war?", fragte er mit gefasstere aber noch recht ruhiger Stimme. Kevin gab keine Antwort, und André seufzte. Wie konnte man in so einer Situation die richtigen Worte finden: "Sie war doch immer stolz auf ihren großen Bruder, weil ihm keine Situation zu schwer war, weil er immer einen klaren Kopf bewahrte und für sie alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumte. War es nicht so?", fragte er. "Aber das habe ich jetzt nicht geschafft...", klagte der junge Polizist. "Dann schaffe es jetzt, es ist doch nicht zu spät. Du kannst die Dinge nicht mehr rückgängig machen. Ich kann es auch nicht, obwohl ich es gerne tun würde." André wusste genau von was er sprach. "Der Kevin von damals, den ich kannte bevor ich nach Mallorca flog, hätte sich nicht verkrochen, sondern weitergemacht. Der hätte den Typen auch gefunden, wie du es jetzt getan hast, aber er hätte ihn nicht in blinder Wut umgebracht. So warst du, bevor ich dich kennengelernt habe, aber nicht als wir uns getrennt haben." Andrés Worte setzten sich tief in Kevins Seele ab, und er seufzte leise auf. "Der alte Kevin ist scheinbar wieder zurückgekehrt.", sagte er mit leiser und und unglaublich bedrückender Stimme, als gäbe es nichts was ihn aus seinem Loch holen könnte. Auch André schaute jetzt ein wenig hilflos, hatte er doch versucht Kevin an seine damalige Wandlung vom aggressiven Straßenjungen zum nachdenklichen aber kontrolliert denkendem jungen Mann zu erinnern.
"Ich habe auch Mist gemacht in den letzten Jahren, Kevin.", sagte André nach einer kurzen Zeit des Schweigens. "Und ich hatte in einer Situation auch keine Wahl, genauso wie du, als du Janine nicht helfen konntest. Und das was ich getan habe, war wirklich schlimm. Aber ich kann es eben nicht mehr ändern, und ich muss versuchen, damit zu leben. Und das musst du jetzt auch." Kevin sah zu seinem väterlichen Freund auf, und die Blicke trafen sich. "Du hättest deinen Dämon nicht besiegt, wenn du Becker erschossen hättest. Du hättest ihn nur genährt, wenn du dafür Ben geopfert hättest. Du allein kannst den Dämon besiegen, ohne jemand anderen zu schaden. Nur du allein... dein Wille.", dabei stieß er den jungen Mann auf die Brust, wo dessen Herz schlug. "Und Janine würde dir sicher dabei helfen, wenn du sie lässt.", fügte er noch hinzu. Kevin nickte, in seinem Kopf schien es zu arbeiten, und er drückte ein ehrlich gemeintes, fast hoffnungsvoll klingendes "Danke", heraus.
André zog eine Lippenseite nach oben, nickte und erhob sich. "Komm, lass uns fahren...", und wollte sich schon zur Tür wenden, doch Kevins Stimme hielt ihn zurück. "André? Was hast du in Mallorca Schlimmes getan?" Nun war es André der an der Tür verharrte. Erst langsam drehte er sich zu Kevin um, und schaute dem jungen Mann in die blauen Augen. "Ich habe meine Versprechen gehalten und niemandem etwas von den Drogen erzählt. Versprichst du mir nun genauso... niemandem was zu sagen?", fragte er und sein Gegenüber nickte. André atmete tief durch... konnte er wirklich? Er setzte sich zurück zu Kevin, und begann zu erzählen...
Da müsste ich jetzt zuviel spoilern um die Frage zu beantworten.
Dann hätte ich geschrieben "Es kommt noch ein Knaller"
Batteriefabrik - 10:15 Uhr
Gerade als André und Semir aus dem gestoppten Mercedes ausstiegen trudelte so langsam die angeforderte Verstärkung ein... wie immer zu spät. Semir sah instinktiv nach oben in Richtung des Daches, auf dem Kevin und Becker vorhin verschwunden waren, doch er brauchte nicht lange suchen. Leicht humpelnd und langsam gehend kamen Ben und Kevin aus dem Tor des linken Gebäudes, sie hatten sich den Weg über eine innere Leiter nach unten gebahnt. "Ben, Kevin! Ist alles...", doch Semirs Frage blieb dem Türken im Hals stecken, als er die beiden näher betrachtete. Ben's Jackenarm war rot, ein glatter Durchschuss den der Polizist aber noch recht gut wegstecken konnte. Kevin dagegen sah vor allem im Gesicht übel zugerichtet aus und war vor allem vom Blick her total abwesend. Semir wusste ja Bescheid, dass Becker seine Schwester ermordet hatte und konnte sich vorstellen wie sehr Kevin den Kerl kriegen wollte. Doch wo war er?
Ben ging leicht versetzt hinter Kevin und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der junge Polizist sah niemandem in die Augen und ließ sich auf einen Stahlsockel nieder. Er zitterte, fror mittlerweile erheblich, Eiskristalle hingen in seinen schmutzigen Haaren fest, das Blut war wieder getrocknet, seine Augen brannten in den trockenen Kälte. Semir und André nahmen Ben ein wenig beiseite, sie wandten sich von Kevin etwas ab. "Was ist passiert?", fragte der kleingewachsene Polizist seinen Partner. Ben seufzte mit einem Blick Richtung Kevin. "Er hat mir das Leben gerettet. Er musste Kerler erschiessen, sonst hätte der mich getötet." Für einen Moment hielt Ben inne. "Dafür musste er aber diesen Becker verschonen. Er stand ihm gegenüber, hatte die Waffe auf ihn gerichtet und hat mich zunächst nicht um Hilfe rufen hören. Als Becker dann Selbstmord begangen hat, ist er völlig zusammengebrochen." Leichte Verwirrtheit schwang in Bens Stimme mit, er konnte die Zusammenhänge noch nicht überblicken. Semir sah etwas mitleidig auf den zusammengekauerten Kevin. Was hat er durchgemacht? "Dieser Becker hat vor einigen Jahren offenbar Kevins Schwester vergewaltigt und getötet... vor Kevins Augen.", gab er seinem Partner das fehlende entscheidene Puzzle-Stück. "Er wollte ihn umbringen... und nachdem, was ich im Kerker mitbekommen habe, hätte ich es nachvollziehen können.", fügte er düster hinzu. Sie sprachen leise miteinander, so dass Kevin sie nicht hören konnte, zwischendurch wies Semir uniformierte Kollegen an, nach die Leichen von Becker und Kerler aufzusuchen.
André hörte stumm zu, ihm lagen jede Menge Worte auf der Zunge. Dass man Kevin helfen müsse, dass Kevin immer noch drogenabhängig sei... aber er verschwieg die Worte. Er hatte Kevin versprochen, niemandem etwas zu erzählen, genauso wie Ben es versprochen hatte, nichts von jenem Morgen zu erzählen, als er Kevin in seiner Wohnung "gefunden" hatte. "Wir müssen uns auf dem Revier noch unterhalten.", meinte der Kommissar dann dennoch und verließ die Gruppe in Richtung RTW, um seinen Arm verarzten zu lassen. Mit kurzer Geste, ein leichter Klaps auf die Schulter, nahm er Kevin quasi mit. Der junge Polizist wirkte wie eine zerbrochene Porzellanpuppe, ohne Willen. So kannte Semir ihn gar nicht. Ohne Widerworte, ohne Gefühl im Blick folgte er Ben langsam zum Rettungswagen. "Ich glaube, dass Kevin uns vieles verschweigt.", murmelte er leise in Richtung André, der nickte. "Ja...", war dessen einzige Antwort mit seiner kratzigen Stimme... im Wissen, was Kevin wirklich verschweigt.
Dienststelle - 11:30 Uhr
Semir und Ben fuhren mit dem Dienstwagen zurück zur Dienststelle. Bens Verletzung war ein glatter Durchschuss und wurde noch im Krankenwagen desinfiziert und verbunden. Kevin dagegen nahm man mit ins Krankenhaus, weil er zahlreiche Blutergüsse am Körper hatte, und man nicht wusste ob er irgendwelche Rippen gebrochen waren. Niemand der Männer hatte ein gutes Gefühl dabei, Kevin alleine zu lassen, und so fuhr André mit in die Klinik.
Anna Engelhardt, die Chefin der Dienststelle wartete bereits ungeduldig auf ihre Männer. Sie hatte über den Funk erfahren, dass der Einsatz erfolgreich abgelaufen war, dass von den Drahtziehern einer tot war und einer festgenommen wurde. Als ihre Mitarbeiter das Großraumbüro betraten blickte sie vom Monitor auf, und winkte sofort und unmissverständlich die beiden zu ihr ins Büro und ihre Männer folgten aufs Wort. Die Chefin wollte jede Einzelheit des Einsatzes wissen, nachdem sie sich bei Semir um dessen Wohlergehen nach der Entführung erkundigt hatte. Die beiden Männer erzählten so detailreich wie es ging, unterschlugen jedoch Kevins Situation und die Tatsache, dass André bei dem Einsatz mit von der Partie war. Ein Lächeln spielte sich um den Mund von Frau Engelhardt, in Bezug auf André dachte sie sich ihren Teil dazu. "Ich schätze um Horns Truppe auf Mallorca wird sich nun das Präsidium für Organisierte Kriminalität befassen, in Zusammenarbeit mit Interpol. Für uns dürfte der Fall erledigt sein, da Horn bereits gestanden hat, den Mord an Timo in Auftrag gegeben zu haben und mit Hilfe von Herrn Fux an Semir ranzukommen.", sagte sie abschließend. "Gute Arbeit, meine Herren." Die beiden Männer nickten nur, und wollten sich gerade wieder zum Gehen abwenden, als Ben nochmal stehenblieb. "Was passiert jetzt mit Kevin?", fragte er recht zweideutig. Den beiden Männern lag es natürlich am Herzen, was aus seinem Zustand wird, doch das hatte der Polizist mit der Frage nicht gemeint. "Er wird zur Mordkommission zurückgehen, denke ich.", gab die Chefin zur Antwort. "Warum fragen sie?" Ben wiegte den Kopf hin und her und Semir sah seinen Freund an, und hatte die gleichen Gedanken. "Naja, ich dachte... vielleicht das er zusammen mit André... wissen sie?", begann der große Polizist ein wenig herumzudrucksen, doch die Chefin schüttelte energisch mit dem Kopf. "Das liegt nicht in meinem Ermessen. Eine Versetzung muss Peters schon selbst beantragen. Und was Herrn Fux angeht...", dabei richtete sie die Augen auf Semir "wissen wir immer noch nicht genau, was er in Mallorca gemacht hat. Sollte er da mit dem Gesetz im Konflikt geraten sein, so ist er als deutscher Polizist nicht tragbar, das wissen sie." Semir wollte protestieren: "Aber Chefin, dass er uns geholfen hat...", "Semir, sie kennen die Regeln. Fragen sie ihn doch erstmal, ob er das überhaupt möchte.", beschwichtigte sie mit ausladender Geste. "Und nun erkundigen sie sich erstmal, wie es Kevin im Krankenhaus geht.", schob sie noch hinterher und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Büros der beiden. Eine Geste, dass die Unterhaltung beendet sei, die die beiden Männer auch befolgte und das Büro der Chefin mit gemischten Gefühlen verließ.