Batteriefabrik - 10:05 Uhr
Der Arm brannte, Schmerz trieb Ben fast die Tränen in die Augen. Er spürte, wie ihm die warme Flüssigkeit über die Schulter sickerte und sich langsam unter seiner Jacke die Blutspur durch den Stoff drückte. Er fühlte seine Füße im leeren schweben, wie er hin und wieder mal an die Stahlverkleidung der Träger neben ihm stieß. Und er sah und hörte, wie Kerler verzweifelt versuchte, mit dem dünnen Messer das massive Seil zu kappen, an dem Bens Leben hing. Verdammt nochmal, warum half Kevin ihm nicht. Er MUSSTE ihn doch einfach hören, das war doch keine große Entfernung, in der er ihn rief. "KEVIN!!!", rief er nochmal. "Dein Freund hilft dir nicht, Bulle.", rief Kerler nach unten und lachte, obwohl ihm auch nicht bekannt war, welche Verbindung Becker zu Kevin hegte. Doch Ben kam langsam ebenfalls dieser Gedanke, dass sein Kollege nicht die Absicht hatte, ihm zu helfen. Er wünschte sich so sehr, dass Semir schnell auftauchen würde...
Doch Kevin ging es auf dem gegenüberliegenden Dach gerade nicht besonders gut. Er hatte sehr wohl mitbekommen, dass er mit dem einen, letzten Schuss Ben's Leben retten könnte, doch sein Herz wollte dem Gehirn keinen Platz geben, seine Befehle durchzusetzen. Den Revolver hielt er immer noch auf Becker gerichtet, der vor ihm saß und ihn fast beschwörend ansah. "Du bist ein Schwächling, Peters...", sagte er in die Richtung des Polizisten. "Du warst zu schwach deiner Schwester zu helfen, und jetzt bist du zu schwach deinem Kollegen zu helfen." Der Verbrecher wusste, dass Kevins Rache nur befriedigt war, wenn er selbst Becker tötete... und nicht einfach festnahm.
Kevins Unterlippe zitterte, seine Hand um die Waffe war weiß, so fest hielt er die Waffe umklammert. Doch würde er, wenn er den einen Dämon besiegte, nicht einen anderen Dämon heraufbeschwören? Er würde wieder den Tod eines Menschen verschulden... diesmal wissentlich, diesmal in vollem Besitz seiner körperlichen Kräfte. Diesmal hatte er die Chance, etwas zu verhindern! Die Chance hatte er bei Janine nicht gehabt... es tat so weh, erneut daran zu denken, die Narben auf seinem eiskalten, nassen Rücken brannten wie Feuer.
Tränen bahnten sich in die Augen des jungen Polizisten, als er an seine Schwester dachte und realisierte, dass er den Dämon der ihn quälte bis zu seinem Tode wohl niemals vertreiben könnte. Doch er wollte anderen Menschen nicht ebenfalls einen Dämon schicken. Semir würde sich die gleichen Vorwürfe machen, nicht da gewesen zu sein, wenn Ben etwas passieren würde...
Noch während Kevin den Arm mit der Waffe von Becker wegrichtete und auf Kerler zielte, rappelte der Verbrecher sich wieder auf. Der junge Polizist bemerkte es nicht, der Tunnelblick ließ alles um ihn herum verschwimmen. Becker holte gerade aus, um Kevin gezielt in die Seite zu treten, der anschnellende Fuß war bereits auf dem Weg, als sich der Finger krümmte, und die letzte Kugel des Revolvers den Lauf verließ. Gerade als Kevin sah, wie Kerler im Kopf getroffen nach hinten taumelte, spürte er den heftigen Schlag auf den Rippen, der ihm die Luft zum Atmen nahm und ihn auf die Knie sinken ließ. "Feiger Bastard.", warf ihm Becker an den Kopf und brachte Kevin mit einem Knietritt unters Kinn endgültig zu Boden.
Der Polizist lag stöhnend auf dem Boden, verklebte Wunden im Gesicht spuckten erneut Blut, und letzte Willensreserven ließen ihn nach oben blicken, wo Becker sich wieder aufrichtete. "Es wäre ein Leichtes gewesen, dich zu töten. Aber dein Tod würde dich nur befreien... und du sollst niemals mehr frei sein, Kevin Peters!" Mit diesen Worten ging Becker einige Schritte rückwärts, und Kevins Augen weiteten sich... er sah was Becker vorhatte. Nein, das durfte er nicht... Kevin würde niemals von seinen Alpträumen befreit werden. Nein... "Bleib stehen!", quetschte der keuchende Kommissar hervor und überwand seine Schmerzensgrenze um sich nochmals hochzudrücken, mehr auf Becker zuzustolpern als wirklich zu hechten, doch Kevins Griff ging ins Leere. Peter Becker ließ sich rückwärts über die Kante des Daches fallen, mit einem diabolischen Grinsen im Gesicht und den Blick starr auf Kevin gerichtet. "NEIN!", rief dieser, als er sah wie Becker von zwei harten Leitungsrohren getroffen wurde und mit einem unnatürlichen Ton auf den Asphaltboden aufschlug, dort regungslos liegenblieb. Schnell vergrößerte sich eine Blutlache um seinen Kopf.
Kevin fiel am Rand des Daches auf die Knie. Völlig gezeichnet, mit angefrorenem feuchten dünnen Oberteil, blutverschmiert im Gesicht, die Haare voller Dreck und die Augen voller Tränen. Er war kaputt, innerlich gebrochen. Becker hatte ihm endgültig die Chance geraubt, sich zu rächen, sich bei Janine zu entschuldigen. DIe Sirenen der Verstärkung, den Hubschrauber, der jetzt über der Batteriefabrik kreiste, nahm er überhaupt nicht mehr wahr, es klang, als wäre alles ganz weit weg. Sein Dämon würde ihn niemals verlassen, doch selbst wenn Kevin in diesem Moment die Absicht gehabt hätte, sich umzubringen... selbst dafür fehlte ihm plötzlich die Willenskraft, die Stärke. Er war in sich zusammengesunken, wie ein Häufchen Elend, kraftlos. Er weinte stumm um seine Schwester, die gerade ein zweites Mal gestorben war...
Ben hatte den Schuss gehört, der ihm wie eine Erlösung vorkam, als er realisierte dass Kerler tödlich getroffen wurde. Sofort mobilisierte er noch alle Kräfte um das Seil die letzten Meter nach oben zu klettern, die er nicht konnte weil Kerler mit dem Messer rumfuchtelte. Gerade hatte er sich über die Brüstung geworfen, da sah er wie Becker auf der anderen Seite abstürzte, und das nachfolgende Szenario. Auf Ben prasselte ein Heer von Gefühlen ein, die er zusammengemischt nur schwer deuten konnte. Heftig atmend sah er den zusammengesunkenen Kevin und plötzlich wurde ihm klar, dass dieser Mann eventuell der Mörder seiner Schwester gewesen ist. Der Gedanke kam ihm einfach, ohne dass er darauf Hinweise hatte. Kevin hatte ihm das Leben gerettet, wenn auch mit Verzögerung, doch es würde erklären, warum er gezögert hatte. Er wollte zu ihm, bevor sein Kollege auf dumme Gedanken kam. Er blickte nach links und rechts, und sah eine Verbindungsbrücke, die die beiden Dächer miteinander verband. Vor Schmerz etwas stöhnend verfiel er in Laufschritt, immer die Augen auf Kevin gerichtet, der sich aus seiner Position allerdings nicht veränderte. Offenbar hatte ihn nun die Kraft verlassen, die Willensstärke sowieso.
Als Ben bei Kevin ankam, konnte er sehen, wie der Mann zitterte. So langsam kehrten Gefühle wie das Kälteempfinden zu dem Polizisten zurück, doch das Zittern rührte auch vom lautlosen Weinen. Erst als Kevin aufblickte, konnte Ben dessen Gesicht erkennen. Die Schnitte und Platzwunden, blutverschmiert, dreckverschmiert, und von einigen Tränen durchzogen. Langsam richtete sich sein Blick auf den geretteten Kollegen. Das Gefühl, es richtig gemacht zu haben, flammte bei Kevin nur eine Millisekunde auf. Ben selbst wusste sich nicht zu helfen, ihm fielen keine Worte ein, die der Situation angebracht waren... nichtmal ein "Danke", weil er wusste, dass es Kevin nicht helfen würde. Nur eine Geste zeigte sich in Ben's Hilflosigkeit... er hielt Kevin die offene Hand hin... sie zitterte vor Anstrengung und Schmerz, aber er hielt sie ihm hin. Kevin biss die Lippen zusammen, erneut drückten sich beim Augenaufschlag Tränen aus den Lidern, doch er griff, ebenfalls zitternd vor Kälte und Schmerzen am ganzen Körper, zu und ließ sich von seinem Kollegen auf die Beine helfen. Stumm und ohne ein Wort zu wechseln suchten sich die beiden Polizisten einen Weg nach unten, wo gerade André und Semir zum Stehen kamen...