Keller - 14:10 Uhr
Als die schwere Eisentür ins Schloß fiel und die vier Gefangenen alleine gelassen wurden, hatte das Geräusch der Tür etwas endgültiges. Sie hatten was sie wollten... jetzt konnten sie die vier da unten verschimmeln lassen. Die namenlosen Männer hatten Ben mitsamt seinem Stuhl wieder aufrechtgestellt, seine Haare klebten nass am Kopf und an der Stirn und seine Brust hob und senkte sich heftig. Ein ekliger eisenhaltiger Geschmack lag von der rostigen Zange auf seiner Zunge, die gerade noch drohend einen seiner Zähne gepackt hatte. Doch das merkte er gar nicht, er spuckte Wasser aus und blickte herüber zu seinem Cousin, der Höllenqualen zu leiden schien. "Sag mal, bist du wahnsinnig? Warum hast du es verraten? Weißt du, in welcher Gefahr meine Freundin jetzt schwebt?", rief Ben wütend.
Die Antwort war ein verwirrter, verständnisloser Blick. Das Versteck zu verraten hatte Christian Überwindung gekostet, doch er konnte nicht den Profit, sein Gieren nach Aufmerksamkeit auf seine Arbeit bezogen über das Wohl seines Cousins stellen. "Ich... ich konnte doch nicht zusehen, wie sie dir die Zähne ziehen." Ben war rasend vor Sorge um Carina, denn es war glasklar, dass die Typen nun auf die Suche nach dem Stick gingen. "Scheiss auf meine Zähne! Wer weiß, was sie mit Carina anstellen.", schrie er wütend und wusste, dass er falsch reagierte. Christian sah bedrückt Richtung Boden: "Wenn sie sich nicht wehrt, werden sie ihr wohl nichts tun." "Ach..."
Dann wurde Ben aktiv. Er zog an den Fesseln, zerrte, bewegte sich... keine Chance. Der Stuhl war aus massiven Holz, kein Stühlchen den man mit Wippbewegungen zum Brechen bringen konnte. Die Fesseln waren auch nicht von schlechten Eltern, man hatte alle gut verschnürt, so dass ihm alsbald die Arme einschliefen, weil er überhaupt keine Bewegungsfreiheit hatte. Jedes Rucken, auch der Versuch aufzustehen, brachte nichts. Und im Raum konnte er nichts entdecken, was er auch nur theoretisch benutzen konnte, um sich zu befreien. "Fuck... Fuck... FUCK!!!", wurde er dabei immer wütender, während Christian zunehmend apathisch neben ihm saß und selbst in ein Loch fiel. Die Schlacht war verloren, der Krieg kippte... seine Erfindung, zehn Jahre Arbeit, schien gerade zerstört zu werden.
Ben beruhigte sich langsam und gab es auf. Er würde die Kraft vielleicht später noch brauchen, redete er sich ein. Doch kaum hatte er die Versuche aufgegeben, meldete sich die bohrende Sorge um seine Freundin zurück. Würden die Männer seine Wohnung überfallen, und sie war zuhause... nicht auszudenken. Er blickte auf und bemerkte jetzt erst vollständig die Anwesenheit der Frau und des Mädchens. "Wer sind sie?", fragte er mit wesentlich gemäßigterem Ton, doch sie sah ihn nur verständnislos an. Ben stellte die gleiche Frage nochmal auf Englisch, und jetzt antwortete sie. "Mein Name ist Marlaine. Das ist meine Tochter Cynthia." Beide Namen hörten sich amerikanisch oder englisch an, und auch ihr Englisch klang Amerikanisch. In Ben baute sich langsam ein Verdacht auf.
"Sind sie... sind sie die Frau von Lucas? Lucas Blake?" Zuerst wollte sie nicken, doch als sie den Nachnamen hörte, verharrte sie. "Nein. Mein Ex-Mann heisst Lucas, und ich glaube wegen ihm sind wir auch hier. Aber er heisst O'Connor." Ben verdrehte innerlich die Augen, sie waren also doch auf der richtigen Spur. Doch warum kannten seine Feinde seinen richtigen Namen, während seine vermeintlichen Freunde, der CIA, einen falschen Namen gespeichert hatte. Wenn... Augenblick. Bens Hirn setzte aus. Wer sagte eigentlich, dass der CIA seine Freunde sind... und wer sagt, dass diese asiatischen Verbrecher immer seine Feinde waren. Verdammt, auf welcher Seite stand Lucas. Die Frau sah, wie es in dem jungen Polizisten arbeitete. "Was ist mit Lucas? Woher kennen sie ihn?", fragte sie dann und es schwang etwas Sorge in ihrer Stimme mit.
"Arbeitet Lucas beim CIA?", fragte er dann und erhoffte sich, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Die Frau schüttelte sofort den Kopf, allerdings zögerlich und wenig überzeugend: "Er war bei der Army. Er war in Krisengebieten und ständig unterwegs. Dann haben wir uns getrennt. Zuletzt, wenn wir geredet haben, haben wir wenig über Berufliches gesprochen. Er meinte, er hat etwas geregeltes... nichts gefährliches mehr. Die Voraussetzung, dass wir es vielleicht nochmal versuchen. Keine Behörde." Ben biss sich auf die Lippen. Irgendetwas stimmte nicht. So oft, wie sie von den Japanern aufgespürt wurden, aber warum hatten sie auch Lucas selbst unter Beschuss genommen? Welches Interesse hatte er an den Daten? Warum hatte er ihm im Parkhaus damals geholfen? Die Lüge mit dem CIA, seine gefakete Akte, und warum kidnappten die Typen seine Familie? Über das Nachdenken überhörte er die erneute Nachfrage der Frau, denn er befürchtete, dass Semir sich in großer Gefahr befand.
Köln - 14:30 Uhr
Semir war im Tunnelblick, nachdem er das Video gesehen hatte. Er bekam gar nicht mit, dass Lucas selbst ebenfalls erschreckende Nachrichten auf seinem Smartphone bekommen hatte, als er sein Handy einsteckte und mit schnellen Schritten die Wohnung verlassen wollte. Nur Carina hielt ihn noch zurück, natürlich konnten sie sie nicht einfach so liegen lassen. Zum Glück kam genau in diesem Moment die Verstärkung, Beamte, Krankenwagen, die KTU mit Meisner, der sich um den Toten kümmern sollte. "Es sei dringend, sie müssten weg.", liess sich der sonst zu ruhige besonnene Beamte noch entlocken, und Meisner reagierte verwirrt, wenn auch souverän. Semir wirkte nervös, irgendetwas musste vorgefallen sein. Ben fehlte... der grau-melierte Mann zählte Zwei und Zwei zusammen, und liess ihn gehen.
Lucas unterdrückte seine innere Aggression. Sie durften sich jetzt nicht trennen, sie durften sich jetzt nicht entzweien in der Frage, wie man zuerst reagierte. Noch dazu hatte er keine Idee, woher dass Video stammte, wo dieser Ort war, wo man seine Tochter und seine Ex-Frau gefangen hielt. Semir dagegen schien ein klares Ziel zu haben. Im Treppenhaus begann er zu rennen, in den Wagen stieg er in Rekordzeit. Lucas schien er gar nicht mehr richtig wahrzunehmen, und der kahlköpfige Mann musste sich beeilen, die Füße in den Wagen zu ziehen, bevor der kleine Polizist beschleunigte.
"Was ist los?", fragte er dann endlich, auch wenn er sich denken konnte, dass auch sein Sidekick eine beunruhigende Video-Message bekommen hatte, anders war seine Reaktion nicht zu deuten. Semir war im Ausnahmezustand, und seine Abteilung "Misstrauen" im Kopf funktionierte nicht richtig. Vor allem: Was sollte es jetzt noch schaden. Während er den Wagen in Rekordzeit durch den Vorstadtverkehr zwang und Kurs auf sein Wohngebiet nahm, zog er sein Handy aus der Jeans. "Hier!", sagte er und zeigte seinem Nebenmann das Video. Das Mädchen, abgelenkt von der Musik, und die unbekannte Hand, die im Video zu sehen war, schwarzer Handschuh, wie er dicht hinter dem Mädchen stand, und kurz davor war, zu zu packen. "Scheisse.", murmelte er. "Ja, scheisse. Richtig scheisse! Verdammt!!"
Mit quietschenden Reifen warf Semir seinen Dienstwagen um die Ecken. Seine Sorge kannte keine Grenze. Andrea war im Büro, Ayda hatte nur bis 12 Uhr Schule und fuhr mit dem Bus nach Hause. Sie hatte sich seit dem Schul-Amoklauf wieder zurück an ihren normalen Rythmus gewohnt und wollte auch wieder auf den Fahrdienst ihres Papas verzichten. Lilly dagegen wurde von Andrea's Eltern von der Grundschule abgeholt und erst am späten Nachmittag nach Hause gebracht. Ayda war also allein daheim... grundsätzlich kein Problem. Jetzt würde es für Semir wieder zu einer Psychokiste kommen, wenn ihr etwas zugestoßen ist. Lucas hielt sich am Haltegriff über der Tür fest, obwohl er selbst jedes wagemutige Fahrmanöver beherrschte, aber Beifahrer zu sein war ihm suspekt.
Vor dem Haus verlangsamte Semir, zog seine Waffe und entsicherte sie. Lucas packte ihn am Arm. "Glaub mir... die sind nicht mehr drin. Wenn, dann haben sie sie mitgenommen... oder sie wollen dir nur Angst machen." Er sah in Augen, die er in der kurzen Zeit des Zusammenarbeitens nie gesehen hatte. Braune aufgeschreckte Augen, Semirs Mund halboffen, als würde er einen Marathon laufen, die Augenbrauen drückten Sorge aus, und seine Falten an Stirn und Gesicht wirkten tiefer als sonst. "Ich werde mich jetzt nicht auf irgendwelche "Gefühle" von dir verlassen. Hier gehts um meine Tochter!!", sagte er uneinsichtig und stieg aus dem Wagen aus. Lucas presste die Lippen zusammen... und er verstand den Mann. Seine Sorgen waren die gleichen, er konnte sie im Moment nur mit Mühe unterdrücken.
Die Haustür war verschlossen, aber nicht zugesperrt. Eigentlich wie immer, Ayda sperrte sich nie zu Hause ein. Mit zittrigen Fingern öffnete Semir die Haustür und eine umheimliche Stille empfing ihn. "Ayda? Bist du da?", rief er beinahe zaghaft, voller Sorge und bekam keine Antwort. Er hielt die Anspannung nicht mehr aus und verwarf sein eigenes Vorhaben, vorsichtig vor zu gehen. Lucas hatte Recht... warum sollten sie hier mit Ayda auf ihn warten? Sie war wohl nur die "Notlösung", falls die Suche bei Carina schief ging. Und so rannte er die Treppe rauf, so dass vermutlich jeder ihn im oberen Stockwerk hören könnte. Jeder, der nicht gerade in seine Hausaufgaben vertieft war und Inears mit Popmusik in den Ohren hatte, so wie Ayda in ihrem Zimmer, und die völlig überrascht war, als ihr Vater keuchend in der Tür stand, ein fremder Mann hinter ihm und sie, völlig perplex, von ihrem Vater in den Arm genommen wurde.