Autobahnpolizei 12:30 Uhr
Eine gewisse Zeit herrschte Ruhe im Büro der beiden Polizisten. Nur das Geräusch des Umblätterns seitens Ben und das markante Tippen von Semirs Tastatur waren die einzigen wahrnehmbaren Geräusche. Wären Gedanken ausgesprochene Worte, so würde man in dieser Zeit wohl sein eigenes Wort nicht mehr verstehen, soviele Gedanken gingen Semir gerade durch den Kopf, während er versuchte, das Familienleben seines ehemaligen Partners zu beleuchten. Vorrangig war immer wieder die Situation, die sich vor 14 Jahren auf Mallorca zugetragen hatte. Als sein damaliger Partner, André Fux, vom Helikopter auf das Speedboot des Erpressers Carlos Berger gesprungen ist, während Semir vehement versuchte, ihn von diesem Irrsinn abzuhalten. Als Berger und André sich auf dem Boot einen Kampf lieferten, Mann gegen Mann, und Semir die Szene hilflos vom Helikopter aus mitansehen musste. André konnte Berger bereits im Inneren des Bootes dingfest machen, bereits gezeichnet von dieser und vorherigen Auseinandersetzungen mit einigen von Bergers Handlangern. Doch der gewiefte Gangsterboss konnte sich befreien, und während die beiden erneut miteinander kämpften, zog Semir seine Waffe, denn ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Lange Zeit danach hatte Semir sich die Frage gestellt, warum er nicht eher geschossen hatte. Dann würde sein Partner noch leben. Doch der türkische Polizist zögerte und zögerte, denn die Gefahr André selbst zu treffen war sehr hoch. Berger konnte André an der Rehling des Bootes zu Boden bringen, bekam eine Harpune zu fassen und feuerte diese auf André ab. Semir konnte damals nur erkennen dass André getroffen nach hinten über Bord fiel und im Meer versank. Erst dann erschoss er Carlos Berger und sprang aus 15m Höhe aus dem Hubschrauber ins Mittelmeer, um André zu helfen. Semir war vollkommen in Gedanken abgerückt in diesem Moment, so sehr dass es ihm gar nicht auffiel, dass er nicht mehr tippte sondern nur noch die Buchstaben auf seinem Monitor ansah. Er merkte auch nicht, dass Ben ihn mittlerweile beobachtete und bemerkte wie weit weg Semir mit seinen Gedanken war. Vor dem inneren Auge seines Partners lief ein Film, sein Kopfsprung ins Wasser und seine verzweifelten Rufe nach seinem Partner. Der Helikopter sank zum Wasser und der Pilot musste sogar mit Drohungen arbeiten, um Semir zurück an Bord zu bekommen. André war im Wasser nirgends mehr zu entdecken. „Das kann er nicht überlebt haben…“, murmelte Semir leise, und ihm war nicht bewusst, dass seine Gedanken just in diesem Moment zu gesprochenen Worten wurden.
„Wer kann was nicht überlebt haben?“, hakte Ben wie selbstverständlich nach, als ob Semir bewusst mit seinem Partner geredet hatte. Semir fuhr erschrocken zu sammen, hob den Kopf schnell in Bens Richtung und machte eine verständnisloses Gesicht. „Was?“, fragte er erstaunt, als hätte er Bens Frage nicht verstanden. Sein Partner erhob sich von seinem Stuhl und kam zu Semirs Schreibtischseite. „Also entweder, du erzählst mir jetzt, was mit dir los ist…“, begann Ben katzenfreundlich, aber bestimmt. „… oder ich frage die Chefin, und die WIRD es mir erzählen.“ Semir schloss kurz die Augen. Der Engelhard hatte er nicht erzählt, dass er Ben noch nicht eingeweiht hatte. „Also gut…“, begann Semir und holte tief Luft. Er sah Ben fest in die Augen, der erwartungsvoll neben ihm stand und zuhörte. „In dem Fluchtwagen von heute Morgen, habe ich den Fahrer erkannt.“ Bens Augen wurden tellergroß. „Es war…“, sagte Semir gerade als eine laute Stimme aus dem Hauptbüro das Gespräch unterbrach.
„Du wartest hier, das kläre ich mit Frau Engelhard alleine.“, herrschte Kriminalhauptkommissar Plotz seinen jungen Partner Kevin Peters an, der mit bitterböser Miene mitten im Büro stehen blieb. Erwin Plotz dagegen rauschte ohne Anzuklopfen ins Büro der Chefin, und die Tür war keine Sekunde im ins Schloss gefallen, als Kevin ein verächtliches „Arschloch“ über die Lippen rutschte, als er seinem Kollegen hinterher sah. Bonrath und Herzberger grüßten Kevin mit einem Nicken, sie kannten ihn ja bereits, genauso wie Andrea die nun wiederrum von Kevin mit einer Kussandeutung auf beide Wange begrüßt wurde. „Kalt habt ihr’s hier.“, meinte der junge Kommissar und unterließ es seine Lederjacke auszuziehen. Semir war um die Unterbrechung seiner Erklärung kurzzeitig sehr froh, er stand von seinem Stuhl auf um Kevin ins Büro zu bitten. Auch die beiden Kommissare begrüßten ihren Kollegen mit Händedrücke. „Wir haben gesehen, dass ihr die gleiche Idee hattet, wie wir.“, meinte Kevin und lehnte sich mit seinem Gesäß gegen den kleinen Schrank hinter Semirs Schreibtisch. „Wart ihr auch bei Kressners Mutter?“, hakte Ben kurz nach, obwohl Kevin nichts anderes meinen konnte. Der nickte und fügte hinzu: „Der Notarzt war gerade da.“ „Notarzt?“, war es nun Semir, der verständnislos fragte. Wiederrum begleitete ein Nicken Kevins Antwort. „Kreislaufzusammenbruch. Offenbar war es für die Frau ein bisschen viel, auch wenn ein Seelsorger da war.“ Semir und Ben schauten sich bedrückt an. Die Atmosphäre in dem Haus und der Zusammenbruch der Frau hatte sie bereits mitgenommen, diese Nachricht war allerdings natürlich nochmal eine Spur härter. „Im Krankenhaus ist sie jetzt wohl besser aufgehoben.“, meinte Semir. „Und dein Kollege war jetzt so freundlich dich hier vorbei zu fahren, um deine Kiste zu holen?“ Kevin musste auflachen bei dem Gedanken, dass Erwin ihm mal einen Gefallen tun könnte. „Nicht ganz…“, antwortete er. „Da geht es eher um eine Grundsatzdiskussion der Zuständigkeitsbereiche.“ „Ahja, soso.“, war Semirs Kommentar mit einem leichten Lächeln. „Habt ihr eigentlich etwas rausgefunden bei der Frau?“, war es nun Kevin vergönnt eine Frage an die beiden Autobahnpolizisten zu stellen. Semir berichtete, dass Timo sich seit 20 Jahren nicht mehr bei seiner Mutter hatte blicken lassen, und es auch keinen festen Wohnsitz oder Meldung gab. „Andrea hat eine internationale Anfrage in Umlauf gebracht. Mal sehen was dabei rauskommt.“, schloss Ben Semirs Bericht ab.
„Achja, bevor du es wieder vergisst.“, schwenkte Semir vom Dienstlichen nun ins Private und kroch unter seinen Schreibtisch. Als er wieder auftauchte stellte er einen Karton auf den Schreibtisch. „Jetzt schau auch wenigstens mal rein.“, meinte er dann noch. Kevin hatte den Karton während seines Falles bei der Autobahnpolizei in seinem alten Büro gefunden und hier untergebracht. Reingeschaut hatte er damals allerdings nicht, und nach dem für ihn tragischen Ende des Falles auch nicht mehr daran gedacht. Er öffnete den Karton, nahm daraus allerlei Schreibtisch-Krimskrams heraus. Ganz unten lag ein kleiner Stapel Bilder, die Kevin nun durchsah. „Da sind sogar Kinderbilder von mir drinnen.“, sagte er fast verständnislos. Semir und Ben stellten sich seitlich von Kevin um einen neugierigen Blick auf das Bild eines kleinen 9jährigen Jungen zu werfen, der mit abstehenden Haaren auf der Straße stand und gegen einen Ball trat. „Die Frisur kann man nicht verleugnen“, meinte Semir amüsiert. Zwei Bilder weiter zeigten Kevin als 14jährigen hinter einem Tresen, ein Mann mit Nackenfrisur, Anzug und Goldkettchen stolz neben ihm, den Arm um die schmächtige Schulter des Jungen gelegt. Erik Peters, Bordell-Besitzer und Kevins Vater posierte stolz mit seinem Sohn. Kevins Miene war bei dem Betrachten des Fotos genauso versteinert wie seine Miene auf dem Foto. Semir kannte Kevins Gedanken, denn er wusste von dem schwierigen Verhältnis welches Kevin zu seinem Vater hatte. Seine Mutter hatte Kevin nie kennengelernt, sein Vater hatte sich lange nicht um den Jungen gekümmert. Er wuchs bei einer Tänzerin des Bordells auf, lernte früh die Gesetze der Straße, und kam in seiner Jugend auch öfters mit dem Gesetz in Konflikt. Kevin schob das Bild hinter die anderen, und seine Miene hellte wieder etwas auf. „Hier war ich 17, kurz vor dem Ende meiner Drogenzeit.“, sagte er offen. Das Bild zeigte eine Gruppe Karatekämpfer, die mit ihrem Trainer posierten. „Das war so ein Programm, was Jugendliche von der Straße holen sollte. Das hat mir damals sehr geholfen.“, fügte er noch hinzu. „Bist du dadurch von den Drogen weggekommen?“, fragte Ben. „Nicht direkt. Aber es hat mir auf jeden Fall sehr geholfen, wieder den richtigen Weg einzuschlagen. Unser Trainer hatte damals einen großen Anteil daran und hat viel mit mir gesprochen.“, antwortete Kevin. Semir war völlig still. Ben sah zu ihm herüber und zog die Stirn in Falten. Wie hypnotisiert starrte sein Partner auf das Bild, das Kevin immer noch in der Hand hielt…