Ben erwachte, weil eine Putzfrau mit ihrem desinfektionsmittelgetränkten Wischmop an die Stühle stieß, die ihm als Bett dienten. Verständnislos blickte er um sich, während er sich langsam aufrichtete. Ihm tat jede Gräte weh und als er mit einer Entschuldigung zu seinen Krücken griff und ein paar Schritte zur Seite humpelte, sog er die Luft geräuschvoll ein, aua das zwickte ganz schön und sein Fuß fühlte sich an als wäre er auf das Doppelte seiner Größe angeschwollen. Aber in dem Moment als er realisiert hatte, wo er sich befand, war der gestrige schreckliche Tag plötzlich wieder völlig präsent in seinem Kopf und ihn plagte nur ein Gedanke: „Wie geht es Semir?“
Das Glück war ihm hold, denn als wenig später die Nachtschicht nach der Übergabe mit müden Augen die Intensivstation verließ, erkannte ihn Andy, ein Kollege seiner Frau, der ihn schon öfter betreut hatte und auch bereits bei ihnen zuhause bei diversen Stationsfeiern zu Gast gewesen war. „Hey Ben- was treibst du denn hier?“, fragte er verwundert und winkte seinen Kolleginnen zu, weiter zur Umkleide zu gehen und auf ihn nicht zu warten. „Mein Freund Semir Gerkhan liegt hier, mich würde dringend interessieren wie es ihm geht, aber ich bin zwar sein bester Freund, aber eben kein Angehöriger, drum erfahre ich nichts“, brach es aus Ben heraus. Andy dachte kurz nach. Als Ben das letzte Mal Patient gewesen war, war der kleine Türke nicht von seiner Seite gewichen, ihm war bei dem beatmeten Zugang heute Nacht, den er nur am Rande mitgekriegt hatte, gar nicht bewusst gewesen, dass er den kannte und der ebendieser Polizist war. Er hatte allerdings auch völlig andere Patienten versorgt und war gar nicht in dem Zimmer gewesen. Bei der Übergabe hatte er aber durchaus die Diagnosen des Kutschenunfalls mit gekriegt und bei sich noch gedacht, dass der Umgang mit Pferden immer gefährlich war. Sie bekamen häufig verunglückte Reiter rein, die manchmal im Rollstuhl landeten, aber der aktuelle Patient hatte trotz schwerer Verletzungen die Nacht gut überstanden und war stabil, soviel wusste er.
Auch wenn er seine Kompetenzen jetzt bei Weitem überschritt und gegen alle möglichen Gesetze und Regeln verstieß, drehte er sich um. „Ben warte einen Moment, ich frage mal die Kollegin die ihn betreut, ob du kurz einen Blick auf ihn werfen kannst“, und damit hatte er sich schon umgedreht und war wieder in der Station verschwunden. Die Intensivschwester die Ben zwar nicht kannte, aber Andy zuliebe ein Auge zu drückte, war einverstanden und so stand Ben wenig später neben seinem Freund, der immer noch sediert und schlafend an der Beatmungsmaschine in seinem Klinikbett lag. Ben hatte seine Blicke über die ganzen Maschinen und Apparaturen schweifen lassen und ihn schauderte. Semir hatte inzwischen mehr Farbe im Gesicht als nach der Operation, aber seine beiden Arme, die von Metallstangen umschlossen und mit einigen Bohrdrähten versehen auf zwei Kissen lagen, sahen futuristisch und furchterregend aus. Er lag mit erhöhtem Oberkörper da, Drainagebeutel mit blutigen Flüssigkeiten kamen unter der Decke hervor, eine Vielzahl von Infusionen und Perfusoren versorgten seinen Freund mit Flüssigkeit und Medikamenten, überall führten Zugänge in ihn hinein, aber trotzdem war Ben irgendwie erleichtert- Semir lebte und die Pflegekräfte waren ganz unaufgeregt, was er als gutes Zeichen wertete.
Normalerweise hätte er jetzt Semir´s Hand ergriffen, aber das wäre bei den Verletzungen eine blöde Idee gewesen und so strich er vorsichtig über die Wange seines besten Freundes, auf der die Bartstoppeln wuchsen. „Semir bitte werde wieder ganz gesund, wir brauchen dich doch!“, flüsterte er leise und die Augenlider des Patienten flatterten, allerdings war die Anstrengung wohl zu groß. Aber Ben hatte das Gefühl dass sein Freund ihn wahr genommen hatte und als Andy ihm jetzt die Hand auf die Schulter legte und ihn zum Mitkommen aufforderte, sagte er: „Danke dass ich ihn sehen durfte und passt gut auf ihn auf“, während er sich bereits umdrehte und nach draußen humpelte. Irgendwie war ihm jetzt viel leichter ums Herz und er konnte wieder nach vorne schauen, auch wenn seine Schuld immer noch schwer an ihm nagte.
Als er das Krankenhaus verlassen hatte und einem Taxi winkte, überlegte er kurz, ob er nach Hause fahren sollte, aber irgendetwas in ihm war dagegen, aber weil er jetzt unbedingt einen Kaffee und bekannte Gesichter um sich brauchte, ließ er sich zur PASt bringen und hieß den Taxifahrer zuvor noch kurz vor seiner und Semir´s Lieblingsbäckerei anhalten.
Auf der Dienststelle lautete natürlich die erste Frage: „Wie geht es Semir?“, und wahrheitsgemäß antwortete er, dass der wohl stabil sei, aber sehr schwer verletzt auf der Intensivstation liege. Als er seinen Kaffee einschenkte und sich mit einem Schokocroissant nieder ließ, fiel sein Blick auf den verwaisten Schreibtischstuhl gegenüber und ein Stich fuhr durch sein Herz. Würde Semir dort jemals wieder sitzen können und gemeinsam mit ihm im Team ermitteln? Er war doch sehr schwer verletzt und nicht mehr der Jüngste, hatte vielleicht er, Ben, mit der unüberlegten Anschaffung der Ponys das Leben seines Freundes zerstört? Auch Susanne war inzwischen eingetroffen, aber auf die Frage, ob sie etwas von Andrea gehört habe, immerhin waren die beiden gut befreundet, schüttelte die Sekretärin den Kopf.
Kim Krüger musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Herr Jäger- halten sie sich für arbeitsfähig?“, fragte sie förmlich und wies mit gerunzelter Stirn auf den unförmigen Vakuumschuh und die Krücken. „Wenn ja dann nur im Innendienst, dass das klar ist!“, blaffte sie noch und Ben blieb wie ein geprügelter Hund wortlos sitzen. Er wusste doch selber nicht was er machen sollte, würde er zuhause bleiben, würde er jede Sekunde an Semir denken, also wäre Ablenkung besser, aber erstens klopfte sein Bein wie verrückt und zweitens hatte er überhaupt keine Lust jetzt die nächsten Wochen Akten zu wälzen, das würde ihn wahnsinnig machen- dann lieber eine Krankmeldung.
In diesem Augenblick kam Hartmut in die Dienststelle. Er hatte noch seinen weißen Overall der Spurensicherung an, schnappte sich im Vorbeigehen ein Croissant und bemerkte zu Ben: „Stell dir vor woher ich gerade komme! Heute Nacht wurde ein Radfahrer kurz hinter der Autobahnabfahrt in der Nähe deines Wohnortes tödlich verletzt mit Fahrerflucht und weil die zuständigen Kollegen der Meinung waren sie hätten eh zu viel Arbeit und das falle noch in den Aufgabenbereich der Autobahnpolizei, wurden wir angerufen. Ich habe hier Fahrzeugteile und Lackspuren gesichert, so ganz hundertprozentig sicher bin ich noch nicht, dazu muss ich erst noch was an meinem PC analysieren, aber ich denke der Unfallwagen dürfte ein gelber Audi R8 Spyder gewesen sein, sowas habt ihr doch auch schon gesucht. Diese Lackierung ist eine Sonderfarbe, die nur bei sehr wenigen Fahrzeugherstellern vorkommt, also bin ich mir fast sicher!“, und nun zuckte Ben wie elektrisiert zusammen. „Verdammt- der hat uns gestern bei unserer verhängnisvollen Fahrt überholt und gehupt, erst daraufhin sind die Ponys durchgegangen, der muss also irgendwo in der Nähe wohnen- den Typen kaufen wir uns!“ stieß er hervor, sprang auf und wollte nach alter Gewohnheit schon los rennen und gemeinsam mit Semir die Ermittlungen aufnehmen, als er mit einem Schmerzenslaut wieder zusammen fiel. Erstens konnte Semir nicht mit ermitteln und zweitens konnte er selber nicht mal fahren! Was sollte er nur tun?
Sarah hatte zuhause nach ihrer Rückkehr einen Erkältungssaft für die Nacht genommen, auf den sonst eher Ben schwor, aber so hatte sie tief und erholsam geschlafen und erwachte erst spät am Morgen von lachenden Kinderstimmen und Sonnenschein, der in ihrer Nase kitzelte. Hildegard hatte die Lage in Griff und fragte auch nicht wo Ben war. Sarah trank einen Kaffee, aß ein wenig Müsli und kontrollierte ihr Handy ob ihr Mann ihr eine Nachricht geschickt hatte, aber da war nichts. Sie widerstand auch der Versuchung ihn an zu rufen, irgendwie war sie immer noch sauer auf ihn und er vermutlich auf sie. So beschloss sie nach einer erholsamen Dusche, dass sie jetzt nach den Ponys sehen würde.
Am liebsten hätte sie noch auf der Intensivstation angerufen, um sich nach Semir´s Befinden zu erkundigen, aber Ben´s Vorwurf hielt sie davon ab, nun gut, ihr Freund war in professionellen Händen und machen konnte sie sowieso nichts. Sie überlegte kurz, ob sie die Kinder mitnehmen sollte, aber die machten sich gerade fertig, um mit Hildegard und den bereits aufgeregt schwänzelnden Hunden Gassi zu gehen und so setzte sie sich alleine ins Auto und fuhr zum Hof des Pferdehändlers.
Die meisten Pferde waren auf der Weide, aber von den beiden Ponys war nichts zu sehen. Sarah läutete am Haus, aber da rührte sich niemand und so betrat sie kurz entschlossen die Stallungen und schritt die Boxen ab, um wenig später entsetzt die Hände vor den Mund zu schlagen, um nicht laut auf zu schreien.