In der Operationsabteilung hatten die Ärzte derweil alle Hände voll zu tun, um ihren Patienten stabil zu halten. Nachdem klar war, welche Lungenseite betroffen war, würde man Semir umintubieren und zwar mit einem Doppellumentubus, so dass man jeden Lungenflügel für sich alleine beatmen konnte. Das war ein Schlauch der zwei voneinander unabhängige Hälften aufwies, wobei das eine Ende etwas oberhalb des anderen endete und so der Anatomie des Bronchus völlig entsprach.
Nachdem das unter endoskopischer Kontrolle geschehen war, fuhr die erfahrene Narkoseärztin langsam die Beatmung der linken Lunge zurück. Man hatte extra zwei Narkosegeräte angeschlossen, um wirklich völlig separat die beiden Lungenflügel beatmen zu können. Man musste zwar dann den Sauerstoffgehalt und die Drücke des aktiven Beatmungsgeräts erhöhen, aber Semir´s Werte blieben stabil, die Sauerstoffsättigung fiel nicht ab und auch sein Kreislauf reagierte nicht maßgeblich.
Rasch hatte man seinen Brustkorb desinfiziert und abgedeckt und nachdem der Thoraxchirurg das gebrochene Sternum nun gerade mit einer Sternumsäge durchtrennt hatte, konnte er den linken Thorax eröffnen. Ein Lungensegment war so schwer verletzt, dass es reseziert werden musste, aber nachdem die Blutungen gestillt waren, nahm man ganz vorsichtig unter Sicht und Überdruckbeatmung den Rest der linken Lunge wieder mit dem Beatmungsgerät in Funktion und so wie es aussah, blieb jetzt alles dicht. Rasch verdrahtete der Chirurg das gebrochene Sternum, entfernte dabei den einen oder anderen Knochensplitter und danach stabilisierte der Unfallchirurg mit seinen Assistenten noch die beiden gebrochenen Arme achsengerecht mit sogenannten Fixateuren. Das heißt es wurden nur die groben anatomischen Knochenstrukturen wieder hergestellt, damit die Nerven, Muskeln und Blutgefäße nicht weiter geschädigt wurden und die Puzzlearbeit der endgültigen Versorgung der Trümmerfrakturen würde zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
Jetzt war es wichtig dass der Patient in ein warmes Bett auf die Intensivstation kam und sich vom Schock erholte, in zwei bis drei Tagen war er vermutlich stabil genug, dass man ihn einer weiteren mehrstündigen OP unterziehen konnte.
So waren gerade einmal drei Stunden vergangen, als man die Intensivstation zur Abholung anrief.
Zu Andrea hatte sich derweil ein ehrenamtlicher Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams gesellt, aber nach wenigen Minuten schickte sie ihn weg. „Es tut mir leid, ich schätze ihr Engagement, aber bitte lassen sie mich alleine. Ich kann mich jetzt nicht auf andere Menschen konzentrieren, möchte auch nicht unterhalten werden oder abgelenkt. Der Mann den ich liebe wird gerade operiert und wir beide können hier überhaupt nichts dafür tun, dass es ihm besser geht, nur warten und hoffen“, gab sie Bescheid und der Mann respektierte ihren Wunsch und entfernte sich.
Für Andrea schienen sich die Minuten zu Stunden zu dehnen, sie fixierte die Tür, die zur Operationsabteilung führte, wie eine Schlange das Kaninchen und lauschte auf jedes Geräusch. Einmal wurde eilig eine Schwangere hinein gefahren und kaum eine dreiviertel Stunde später kam sie glücklich mit ihrem Baby im Arm wieder heraus. Der werdende Vater hatte derweil unruhig schier Gräben in den Boden gelaufen, aber als er seine kleine Familie nach der eiligen Sectio dann wohl behalten in die Arme schließen konnte, flossen die Tränen des Glücks.
Andrea hatte alles beobachtet, sich aber weder auf ein Gespräch eingelassen, noch so richtig mit gefühlt, denn die innerliche Anspannung zerriss sie fast. Ob Semir noch am Leben war? Wusste der Operateur dass sie hier wartete? Gab es noch einen zweiten Ausgang? Ein paarmal wollte sie weg gehen, um eine Schwester zu fragen, aber dann verharrte sie, denn was wäre, wenn genau in dem Augenblick Semir heraus käme und sie wäre nicht da?
Wieder war sie gefühlt seit Stunden alleine hier auf dem Flur, auf dem inzwischen die Nachtbeleuchtung angegangen war, als plötzlich blau gekleidetes Pflegepersonal und ein Arzt mit einem leeren Bett an dem eine Transporteinheit mit Beatmungsgerät, Monitor und Perfusoren angedockt waren, unter lockerem Plaudern näher kamen.
Andrea sprang auf. „Bitte- können sie mir sagen- was ist mit meinem Mann Semir Gerkhan- er wird gerade operiert!“, stieß sie hektisch hervor. Der Arzt verharrte kurz. „Frau Gerkhan- wir sind von der Intensivstation, mein Name ist Dr. Zahles und ich werde ihren Mann die nächsten Stunden betreuen. Nur so viel- er hat die Operation überstanden und kommt jetzt beatmet zu uns, viel mehr kann ich ihnen noch nicht sagen. Ich schlage vor sie kommen dann mit uns mit, warten vor der Intensivstation und wenn wir ihn soweit versorgt haben, hole ich sie herein und erzähle ihnen Näheres!“, erklärte er ihr freundlich und folgte dann der Schwester in die Operationsabteilung. Bei aller Anspannung, jetzt flossen die Tränen der Erleichterung bei Andrea- immerhin Semir lebte und sie würde ihn in Kürze sehen können. Nur Minuten später öffnete sich die automatische Tür wieder und diesmal war das Bett nicht mehr leer. Semir lag leichenblass und tief schlafend bis zum Hals zugedeckt darin. Sie wollte ihn küssen, ihn ansprechen, aber der Arzt sagte freundlich: „Das können sie alles später machen, jetzt müssen wir ihn erst einmal noch bei uns versorgen!“, und so folgte sie stumm dem Bett bis vor die Tür zur Intensivstation.
Dort sprang bei der Annäherung des Transports Ben auf und wollte auf das Bett zueilen. „Auch für sie gilt- warten sie, wir müssen unseren Patienten erst einmal aufnehmen, Besuche sind erst später möglich und dann auch nur von den nächsten Angehörigen!“, erklärte der Arzt und bis Ben sich versah, hatte sich die Tür bereits wieder hinter seinem Freund geschlossen, auf den er nur einen kurzen Blick hatte erhaschen können.
So blieb er mit Andrea gemeinsam zurück und die warf ihm erneut einen Blick zu, der ihn beinahe zu Eis gefrieren ließ. „Wenn du mit deinen blöden Ponys nicht gewesen wärst, würden wir jetzt selig zuhause im Bett liegen und schlafen, ich finde nicht, dass du das Recht hast auch nur in seine Nähe zu kommen!“, keifte sie ihn an und Ben zog sich zurück wie ein geprügelter Hund. Jedes von Andrea´s Worten schmerzte wie ein Peitschenhieb und das Schlimmste war- genau dieselben Vorwürfe kreisten seit Stunden in seinem Kopf- wie Recht sie nur hatte!