Als der Hubschrauber abgehoben hatte, war Ben ganz blass geworden und hatte ein wenig zu Zittern begonnen. Wohltuend bemerkte er eine warme Decke über seinen Schultern und die starken Arme eines der Sanitäter, die ihn stützten. „Können sie aufstehen?“, fragte der und Ben nickte. Der Schmerz in seinem Knöchel war zwar da, aber wenn er ihn nicht belastete ging es schon. „Kommen sie zum Wagen, dort sieht sich die Ärztin ihren Fuß genauer an, haben sie sonst irgendwo Schmerzen?“, fragte ihn der Mann, aber das verneinte Ben. Er fühlte sich aktuell nur wie ausgehöhlt und als er gestützt von dem Mann zum Fahrzeug humpelte, bat er seinen Nachbarn, der gerade ein bisschen unschlüssig herum stand: „ Robert-könntest du bitte schauen, ob du mein Handy findest- das könnte irgendwo da vorne an dem Graben liegen, dort bin ich nämlich von der Kutsche gefallen. Ich muss dringend die Frau meines Freundes verständigen“, und der Mann machte sich sofort auf die Suche.
Während der eine Sanitäter die Schweinerei auf der Wiese beseitigte und allen medizinischen Abfall, benutzte Tücher und was sonst noch so herum lag, in einen Müllsack steckte, hatte die Notärztin ihre Hände gründlich desinfiziert und besah sich jetzt Ben´s Fuß, der bereits begann an zu schwellen- das Ausziehen des Schuhs war schon ziemlich schmerzhaft gewesen. „Ich denke da sind ein paar Bänder ab, es könnte auch sein dass was gebrochen ist, man muss auf jeden Fall eine Röntgenaufnahme machen. Wir bringen sie in die nächstgelegene Klinik, damit sie dort versorgt werden- sonst tut ihnen wirklich nichts weh?“, fragte sie nochmals explizit nach, aber Ben schüttelte den Kopf. „Ich muss aber unbedingt in die Uniklinik!“, sagte er, nur dazu erklärte der Sanitäter, der derweil seine Personalien aufgenommen hatte: „Wir dürfen eine weiter entfernte Klinik nur bei medizinischer Indikation anfahren, sonst wird zu viel Personal unnötig gebunden!“, erklärte er und Ben nickte, eigentlich war ihm das schon klar gewesen. „Dann schaue ich selber wie ich dahin komme!“, sagte er entschlossen und wischte sich dankend das schmutzig- blutige Gesicht und die Hände mit dem nassen Tuch ab, das ihm die Notärztin reichte.
Als er an sich herunter blickte erschauerte er- er war voller Blut- Semir´s Blut, also eines war klar, jetzt musste er erst mal nach Hause und sich umziehen. „Wenn sie noch irgendwo Unterarmgehstützen haben, benutzen sie die und legen sie das Bein möglichst hoch und kühlen sie es, bis eine Diagnostik gelaufen ist“, ermahnte ihn noch die Notärztin und jetzt schickte Ben sich an aus zu steigen.
Nun hörte er vor dem Wagen Kinderstimmen- natürlich Tim und Mia- Sophie! Ben war ein wenig schuldbewusst, wie hatte er sie nur vergessen können, allerdings wusste er sie wie immer bei Hildegard in besten Händen. Er kletterte aus dem Wagen und sofort lagen seine Zwerge in seinen Armen. „Mir ist nichts passiert!“, bemühte er sich die Kinder zu beruhigen, die jetzt von ihrer Leihoma nicht mehr zu halten gewesen waren und nun stand auch schon sein Nachbar vor ihm und streckte ihm sein Handy entgegen. „Es lag gleich da vorne!“, bemerkte er.
Der Rettungswagen machte sich auf den Weg zurück zu seinem Standort und nun rief Ben Semir´s Nummer an und so fanden sie zwischen den Trümmern der Kutsche auch dessen Mobiltelefon. „Robert- könntest du bitte hier noch ein wenig aufräumen? Ich bezahle natürlich alles und danke dir bereits jetzt von ganzem Herzen für deine Hilfe!“, sagte Ben herzlich und humpelte zu Hildegards Wagen. Es tat zwar weh, aber er konnte auftreten und seine kleine Blessur war jetzt absolut nebensächlich gegen das was mit Semir geschehen war. Er entschloss sich noch ein paar Minuten mit seinem Anruf bei Andrea zu warten, er fühlte sich so mies und schuldig an Semir´s Unfall und wusste im Moment noch gar nicht was er zu ihr sagen sollte, außerdem hatte sein Handy auch kaum noch Saft- was gäbe es Schlimmeres als mitten im Gespräch deswegen unterbrochen zu werden?
So fuhren sie jetzt nach Hause, was ja mit dem Wagen nur ein paar Minuten dauerte und Sarah sah ihn völlig entsetzt an, als er schmutzig und blutig wie er war, ins Schlafzimmer humpelte.
„Oh Gott-was ist passiert? Ist was mit den Kindern und wie siehst du nur aus?“ fragte sie fast panisch, aber da hörte sie schon die munteren Rufe ihrer Liebsten aus dem Parterre schallen, dazu die ruhige Stimme Hildegards und Lucky`s und Frederik`s fröhliches Bellen- mit denen schien alles in Ordnung zu sein.
„Sarah- uns sind die Ponys durch gegangen und Semir hatte einen schweren Unfall, ich habe ihn bestimmt 10 Minuten reanimiert, er ist mit dem Hubbi in die Uniklinik gekommen- ich muss jetzt Andrea anrufen- die Kinder waren aber nicht auf der Kutsche!“, teilte er ihr in Kürze das Wichtigste mit, während er die schmutzigen Klamotten herunter riss und Sarah erstarrte vor Schreck. „Um Himmels Willen- wir müssen sofort hinfahren, mir geht’s schon wieder so einigermaßen, ich habe mich vorher richtig geärgert dass ich nicht mit euch mit gekommen bin und war schon drauf und dran mit dem Wagen nach zu fahren. Ich werde mich persönlich von Semir´s Zustand überzeugen und weiß dass er in meiner Klinik in guten Händen ist“, versuchte sie Ben, der völlig durcheinander war, ein wenig zu beruhigen. „Du humpelst ebenfalls- was ist mit dir passiert?“, wollte sie dann wissen, aber Ben winkte ab. „Peanuts, das wird schon wieder- hältst du jetzt kurz die Kinder draußen, damit ich in Ruhe sprechen kann?“, bat er und schon hatte er jetzt sein fast leeres Handy ans Ladekabel gehängt und auf die Kurzwahl von Andrea´s Nummer gedrückt.
Nach nur zweimal Läuten ging Andrea ran. Man hörte aus dem Hintergrund Musik, Gespräche und Gelächter, anscheinend war die Kaffeetafel in vollem Gange. „Ben was gibt’s?“, erklang eine fröhliche Stimme und der Dunkelhaarige hatte jetzt einen fürchterlichen Kloß im Hals. Auch wenn er es von Berufs wegen gewöhnt sein sollte, schlechte Botschaften zu überbringen, war es etwas völlig anderes ob das irgendwelche fremde Menschen waren, oder jemand der einem nahe stand. „Andrea- ich habe dir keine guten Nachrichten!“, sagte er mit rauer Stimme und sofort wurde sein Gegenüber ernst. „Ben warte einen Moment, ich gehe rasch nach draußen“, erwiderte Andrea und man hörte wie sich die lauten Hintergrundgeräusche entfernten.
„Jetzt kann ich dich besser verstehen- ist was mit Semir- und warum ruft er mich nicht selber an?“, fragte sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme.
Noch nie war Ben die Benachrichtigung von Angehörigen nach einem Unfall so schwer gefallen, aber es musste ja sein. Er atmete tief durch und teilte ihr dann mit, was geschehen war: „Andrea- Semir und ich sind heute auf einer Ponykutsche gefahren. Die Ponys sind durch gegangen, ich bin schon ein wenig vorher runter gefallen, aber Semir ist mit voller Wucht an einen Baum geprallt und hat schwerste Verletzungen erlitten“, begann Ben mit stockender Stimme zu berichten. Andrea´s Stimme wurde jetzt ganz schrill: „Was bedeutet schwerste Verletzungen und wo ist er, wie geht es ihm und was zum Teufel tut ihr auf einer Ponykutsche, ich dachte ihr habt Bereitschaft?“, ballerte sie die Fragen raus wie sie ihr durch den Kopf schossen. „Andrea das mit den Ponys ist eine lange Geschichte, passiert ist es quasi bei uns um die Ecke, ich habe Semir reanimiert und er ist vorhin mit dem Hubschrauber in die Uniklinik Köln geflogen worden. Er war nach nochmals kurz bei Bewusstsein, wurde aber dann von der Notärztin in Narkose gelegt. Was für Verletzungen er hat, kann ich dir natürlich nur ungefähr sagen, aber sein Brustkorb, seine Lunge und beide Arme waren betroffen“, umschrieb er laienhaft Semir´s Blessuren. „Sarah und ich machen uns jetzt gleich auf den Weg zur Klinik- kannst du auch dorthin kommen?“, fragte er und hörte an den hastenden Schritten, dass Andrea sozusagen schon auf dem Weg war. „Fahr vorsichtig- wir sehen uns dann!“, fügte er noch ein wenig hilflos hinzu, aber da war das Gespräch schon unterbrochen.
Sarah hatte fassungslos und mit Tränen in den Augen sein Gespräch mit angehört und war inzwischen selber in Jeans und T- Shirt geschlüpft. Für Ben hatte sie währenddessen frische Sachen raus gelegt und er zog sich jetzt ebenfalls an, während Sarah sich im Bad noch mit der Bürste durch die Haare kämmte. „Ich fahre und zwar mit dem Kombi, du bist viel zu durcheinander- ich hoffe Hildegard hat Zeit auf die Kinder auf zu passen!“, sagte Sarah knapp, warf noch ein Hoodie für Ben und für sich eine Strickjacke in einen Korb und half ihm dann die Treppe hinunter zu humpeln. „Hildegard- wir müssen nach Semir sehen- kannst du auf die Kinder aufpassen?“, fragte Sarah nun, warf noch zwei Grippetabletten ein, holte eine Kühlkompresse aus dem Gefrierschrank und legte zwei Wasserflaschen in den Korb. Normalerweise dopte sie sich nicht, aber heute musste ihre Erkältung im Hintergrund bleiben. „Natürlich- ich bleibe da und verteidige hier die Stellung- haltet mich auf dem Laufenden!“, bat die ältere Frau und nach einer kurzen Verabschiedung von den Kindern, die aber überhaupt kein Theater machten, starteten sie in ihrem Passat Kombi mit Automatikgetriebe Richtung Köln. „Und jetzt erzähl!“, forderte ihn seine Frau auf, als Ben ohne zu murren neben ihr auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte und das Eis den Schmerz in seinem Fuß allmählich linderte.