Hildegard wurde langsam unruhig. Die Kinder hatten ebenfalls bereits zu quengeln begonnen: „Wo sind Papa und Semir mit unseren Ponys, wir wollen endlich Reiten!“, beschwerte sich Tim, als plötzlich das Geräusch rasender Hufe im fliegenden Galopp zu hören waren. Zugleich schrammte irgendetwas über den Asphalt und jetzt konnte Hildegard nur erschrocken die Kinder zur Seite ziehen, als die beiden kleinen Füchse, denen das Blut über die Hinterbeine lief, hintereinander in Panik an ihnen vorbei schossen, während die Trümmer der Kutsche ihnen immer wieder in die Hinterhand krachte, wenn sie die Richtung änderten. Die beiden Pferdchen waren fast weiß vom Schweiß, der ihre kleinen Körper bedeckte. Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen und obwohl sie völlig erschöpft waren, rannten sie immer noch um ihr Leben, wie Pferde als Fluchttiere das eben taten, wie es ihnen ihr Instinkt eingab.
„Um Himmels Willen- da muss etwas Schreckliches passiert sein!“, rief Hildegard und überlegte fieberhaft welches Vorgehen jetzt sinnvoll war. Dann griff sie zu ihrem Handy, wählte die 112 und setzte einen Notruf ab, ohne zu wissen was eigentlich geschehen war, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass Gefahr im Verzug war und man jetzt professionelle Hilfe brauchte um die Verunfallten zu finden und fest zu stellen, ob sie verletzt waren.
Schnell verlud sie dann die Hunde, bat die Kinder in ihre Kindersitze zu klettern, schnallte das kleine Mädchen an- Tim konnte das selber- und rief nebenbei dem Pferdehändler zu, der ebenfalls fassungslos gemeinsam mit seinem aktuellen Kunden den Ponys nach schaute, die gerade an der Hofeinfahrt vorbei geschossen waren. „Kümmern sie sich um die Tiere, holen sie einen Tierarzt, egal tun sie auf jeden Fall was- ich suche die Kutschenbesatzung“, und einige der Pferdeleute rannten nun den Ponys nach, während andere Nachbarn die im Garten gesessen hatten und durch den Radau aufmerksam geworden waren, ebenfalls in ihre Autos sprangen, um nach Semir und Ben zu suchen, denn eines war klar- es musste etwas passiert sein. Hildegard war sich auch sicher, Ben hätte sie angerufen und Bescheid gegeben, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, aber sie wusste in welche Richtung die Kutsche aufgebrochen war und so schwärmte nun ein Suchtrupp aus.
Gerade begannen Ben´s Kräfte zu erlahmen, da regte sich etwas unter ihm und ein gequältes Husten verriet, dass in Semir noch Leben war. Sofort hörte Ben auf zu Drücken und rief keuchend. „Semir, kannst du mich hören?“, und jetzt öffnete der schwerst Verletzte die Augen einen kleinen Spalt und sah Ben an, ohne ihn so richtig zu erkennen. Gerade wollten die Augen wieder zu fallen, da bettete der Dunkelhaarige den Oberkörper seines Freundes auf seinen Schoss und richtete ihn ein wenig auf. Er merkte wie schwer dem kleinen Türken das Atmen fiel und neben der Erleichterung dass er noch lebte, hatte er schreckliches Mitleid als er die Schmerzen wahrnahm, die sein Freund aushalten musste.
Verdammt was sollte er tun? Semir brauchte dringend professionelle Hilfe, aber wenn er ihn jetzt hier alleine ließ um die zu besorgen oder wenigstens unter den Kutschentrümmern ein Handy zu suchen, dann würde er nicht mitkriegen, wenn der erneut aufhörte zu atmen und dann war sein Todesurteil unterzeichnet. So erleichtert er war, dass Semir wenigstens wieder einen Kreislauf hatte, so verzweifelt war er auch, weil ihm klar wurde, dass er alleine nichts, aber auch gar nichts ausrichten konnte. Semir hatte vor Qual auf geschrien als er ihn aufgerichtet hatte und er hatte panische Angst ihm jetzt noch mehr Schmerzen zu zufügen, wenn er ihn erneut bewegte.
Plötzlich näherten sich auf der ein Stück entfernten Straße zwei langsam fahrende Fahrzeuge und Ben erkannte voller Erleichterung als vorderstes Auto den Caddy von Hildegard. Noch nie in seinem Leben war er so dankbar gewesen. „Hier- hier sind wir! Verständigt schnell einen Notarzt, Semir ist in Lebensgefahr!“, brüllte er und wedelte mit den Armen, achtete dabei aber sehr darauf, seinen Freund nicht erneut zu bewegen, der dennoch aufstöhnte. Als Semir wieder hustete, kam schaumiges Blut aus seinem Mund und Ben wagte ihn gar nicht eingehender zu betrachten, denn auch die Arme waren irgendwie völlig verdreht und verschoben und er meinte unter seinem Shirt einen Knochen am Oberarm vorspießen zu sehen.
Hildegard und das nach ihr fahrende Fahrzeug hatten ihn bereits entdeckt, aber es war auf direktem Weg wegen des Grabens nicht möglich mit einem Auto zu ihnen zu gelangen. Allerdings musste ja auch der Bauer irgendwie auf seine Wiese fahren und so versuchte Hildegard einen Zufahrtsweg für den Rettungsdienst zu finden, während der Nachbar mit dem Autoverbandskasten zu den Verunfallten rannte.
Die ältere Frau hatte auch schnell ab gewägt, ob es sehr sinnvoll war, den Kindern den Anblick eines Schwerstverletzten zu zumuten und war zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, die Rettung zu koordinieren. Sie konnte auch nicht mehr als Erste Hilfe leisten und das machten soeben der Nachbar und Ben, wie sie auf die Entfernung erkennen konnte. So teilte sie via Handy der Leitstelle den ungefähren Unfallort mit, fand bald auch die Zufahrt zur Wiese und wartete darauf den Rettungsdienst einzuweisen. Tim und Mia- Sophie waren ganz still geworden und das kleine Mädchen presste sein Kuscheltier, ein kleines Pony, fest an sich und ein paar Tränchen suchten sich ihren Weg. Auch Tim, der sonst manchmal ziemlich altklug war, sagte kein Wort, außer einmal „Papa!“
Während aus der Ferne schon die Martinshörner zu hören waren, drehte Hildegard sich nun zu den Kindern um und versuchte sie ein bisschen zu beruhigen und abzulenken, wobei sie sogar aus der Entfernung das viele Blut gesehen hatte. „Jetzt kommt gleich der Notarzt und die Sanitäter, die helfen Semir und bringen ihn in die Klinik. Eurem Papa ist wohl nicht allzu viel passiert“, erklärte sie und hoffte, dass das auch den Tatsachen entsprach.
Nun erschienen zwei Streifenwagen und zwei Rettungswagen, davon einer mit Notarzt und als Hildegard ausstieg und winkte, kamen sie auch sofort in ihre Richtung gefahren. Es waren keine weiteren Worte mehr nötig und wenig später sprang die Notärztin aus dem vorderen Fahrzeug, das nahe des Baums gehalten hatte und während der Rettungsassistent und die Sanitäter das Equipement heran trugen, begann sie sich einen Überblick über die Verletzungen zu verschaffen.
Ein Uniformierter war derweil zu Hildegard getreten und fragte: „Was genau ist passiert und wo sind die Pferde, die die Kutsche gezogen haben?“, woraufhin sie nochmals erzählte was sie wusste und jetzt machte sich die Streifenwagenbesatzung auf die Ponys zu suchen, falls die nicht wieder im Stall waren, denn es sollten keine weiteren Verkehrsteilnehmer gefährdet werden.
Der eine der Sanitäter war derweil ans Funkgerät gegangen und orderte einen Rettungshubschrauber, denn jetzt ging es um jede Minute!