Semir war nach drei Stunden auf dem Sofa aufgewacht, hatte nur noch schlaftrunken seine Klamotten ausgezogen, seine Zähne geputzt und war in sein Bett gekrabbelt. So ruhig er auf dem Sofa geschlafen hatte-jetzt plagten ihn Alpträume und viele Situationen in denen er Ben beinahe verloren hätte, kamen im Traum wieder vor und wurden in seinem Gehirn zu einem verworrenen Gespinst verknüpft. Er fühlte Angst, als er zusehen musste wie sein Freund mit dem Wagen in eine Feuerwand raste, wie er auf der Plattform eines LKW angekettet in ein Hafenbecken stürzte, wie er auf der Messe, infiziert mit einem tödlichen Keim da lag und er gedacht hatte, er wäre schon tot, als er ihm das rettende Gegenmittel mit der Impfpistole injizierte. Der Anblick des Sargs als Ben lebendig begraben worden war und er nicht wusste, als sie das Monstrum gefunden und aus dem Schlamm gezogen hatten, ob er darin noch lebte, oder sie den Wettlauf gegen die Zeit verloren hatten. Die Erinnerung als Ben im Gebirge von einer Lawine erfasst worden und abgestürzt war, als er in den Höhlen im Wellnessurlaub von einem Rauschgiftdealer gefangen genommen und gequält worden war-all das vermischte sich in Semir´s Kopf und morgens um drei weckte ihn Andrea, weil er sich schreiend im Bett herum gewälzt und immer wieder „Nein-bitte nicht!“, gerufen hatte.
„Semir-geht es dir gut?“, fragte sie besorgt und hatte Angst, dass er doch Nebenwirkungen von der Medikamentengabe hatte. Als er ihr gebeichtet hatte, dass er als Versuchskaninchen gedient hatte, hatte sie nicht sehr viel darauf gesagt. Freilich ehrte es ihn, dass er bereit war für seinen Freund ein großes Risiko ein zu gehen-aber er hatte schließlich auch eine Verantwortung als Ehemann und Vater und wenn er sie vorher gefragt hätte, hätte sie eindeutig nein gesagt, aber so war sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Sie war einerseits voller Sorge, aber auch ein wenig beleidigt weil sie in diesen Entscheidungsprozess nicht mit einbezogen worden war. Allerdings würde Semir sich auch wegen ihr nicht verbiegen und eigentlich liebte sie ihn genau deswegen.
Als er ganz wach geworden war und voller Erleichterung festgestellt hatte, dass er zuhause in seinem Bett lag, atmete er erleichtert auf. „Du glaubst gar nicht welche Alpträume ich gerade hatte-danke dass du mich geweckt hast!“, sagte er, trank einen Schluck Wasser und zog seine Frau dann nahe zu sich. „Es ging um Ben, nicht? Du hast mehr als einmal seinen Namen gerufen!“, fragte Andrea und Semir nickte. „Ich hoffe nur die Medizin wirkt, ich könnte es nicht ertragen ihn zu verlieren, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, ihm klar zu machen, dass ich sein Freund bin und ihm nie etwas Böses wollte, auch wenn er das gerade annimmt!“, flüsterte der kleine Türke und nun küsste ihn Andrea auf die Stirn. „Schlaf jetzt, Ben wird nicht sterben und du wirst noch viel Zeit haben ihm zu erklären, dass du sein Freund bist!“, erklärte sie mit fester Stimme und Semir der sich wunderte, warum seine Frau da so sicher war, seufzte auf und schloss die Augen. „Ich hoffe du hast Recht!“, sagte er, aber als er nun erneut einschlief hatte er keine Alpträume mehr und als er wenige Stunden später an einem strahlenden Morgen aufstand, hatte er ganz tief drinnen wieder Hoffnung geschöpft und sein Bauchgefühl sagte ihm zumindest, dass Ben noch am Leben war.
Sarah hatte die nächste Lagerungstour bei Ben gar nicht mit bekommen und als sie kurz vor sechs erwachte, musste sie sich erst einmal orientieren wo sie war und was geschehen war. Dann zwickte ihre Schulter, ihr Blick fiel auf medizinische Geräte und jetzt drehte sie angstvoll den Kopf-oh Gott-was war mit Ben? Der lag allerdings recht entspannt in seinem Bett und schlief anscheinend noch-genau das würde er zuhause morgens um sechs auch auf jeden Fall tun, er war beileibe kein Frühaufsteher und kam erst nicht mehr zu spät, seitdem sie das morgendliche Wecken übernommen hatte. Wie oft hatte ihr Semir deswegen schon seine Dankbarkeit bekundet!
Der Monitor zeigte halbwegs stabile Werte und auch wenn er immer noch Fieber hatte und von einem feuchten Handtuch bedeckt war, die Temperatur war mit 39,8°C zwar immer noch hoch, aber nicht mehr so lebensbedrohlich. Als sie die Perfusoren musterte bemerkte sie, dass man das Noradrenalin wieder ein wenig hatte reduzieren können-es war kein richtiger Erfolg, aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt würde gerade die Übergabe laufen und sie waren ungestört, so holte sie erst das Pulver aus dem Nachtkästchen, schluckte voller Ekel, aber mit Überzeugung ihre Dosis, trank viel Wasser nach und zog dann die nächste Spritze für Ben auf. Sie schwang die Beine aus dem Bett, stöpselte ihre Infusion ab und wenn sie auch selber noch ein wenig wacklig auf den Beinen war- die paar Stunden Schlaf hatten ihr gut getan.
Als sie sich über ihn beugte und liebevoll „Guten Morgen mein Schatz!“, flüsterte, öffnete er die Augen über der Atemmaske und sie meinte ein kleines Lächeln über seine Züge huschen zu sehen, während sie ihm das Mittel injizierte. Durch ihren Körper strömten Glücksgefühle und sie war dankbar, dass er sie anscheinend auch nicht mehr verdächtigte, ihm Übles zu wollen und sich gegen die Medikamentengabe wehrte. „Ben-du wirst wieder gesund werden und wir werden zusammen alt!“, sagte sie mit fester Stimme und huschte dann wieder in ihr Bett. Als die Kollegin von der Frühschicht zur Übergabe gemeinsam mit der Nachtschwester das Zimmer betrat, war auch hier die Stimmung besser. Die Nachtschwester teilte ihrer Kollegin ebenfalls mit, dass es eine ganz leichte Tendenz nach oben gäbe und als Ben später von ihr gewaschen wurde, wagte sie es danach die Atemmaske weg zu lassen, ohne dass die Sättigung einbrach und Ben Atemnot bekam.
Sarah hatte sich selber frisch gemacht und sehnte sich nach einer Dusche, aber darauf würde sie wohl noch eine Weile warten müssen, bis sie entweder auf Normalstation war, oder ihre Isolierung aufgehoben wurde. Das wäre dann aber auch nicht gut, denn dann musste sie Ben verlassen und so mimte sie bei der Visite doch noch die Leidende und keiner der Ärzte stellte in Frage, dass sie noch hierbleiben dürfe-es war sowieso jeder froh, dass die junge Frau so ein schweres Krankheitsbild überlebt hatte und Ben bekam jetzt haargenau dieselbe Antibiose wie sie-anscheinend wirkte da doch etwas, anders war die Genesung medizinisch nicht erklärbar.
Ben war zwar nach dem Waschen sehr erschöpft und fühlte sich immer noch als hätte ihn ein LKW überrollt, aber er genoss die Gegenwart seiner Frau und als Sarah sich auf einen Stuhl neben ihn setzte war er es, der nach ihrer Hand griff und diese ganz fest hielt, bevor er wieder einschlief. Der Stationsarzt wechselte später gemeinsam mit dem Chirurgen die Verbände, etwas was zwar schmerzhaft war, aber das Sekret das aus der Wunde lief war nicht mehr so eitrig und Ben stöhnte zwar mehrfach schmerzerfüllt auf, blieb dabei aber ganz ruhig. Erst als dann eine Kollegin den Kopf zur Tür herein steckte und Grüße von Semir ausrichtete, wurde Ben unruhig. „Sarah-Semir will uns Böses-er soll sich von uns fern halten!“, ächzte er und durch die Aufregung sank sofort seine Sauerstoffsättigung. Die Schwester beeilte sich wieder die Atemmaske auf seinem Gesicht fest zu schnallen. „Ruhig Herr Jäger, regen sie sich bitte nicht so auf-das tut ihnen nicht gut“, beschwichtigte sie ihn und Sarah war jetzt ganz verzagt-dass Ben sich so aufregen würde, hatte sie nicht erwartet, ohne professionelle Hilfe wären sie hier aufgeschmissen, aber jetzt musste sowieso erst sein Körper wieder gesund werden, bevor man sich an andere Dinge heran tastete.
Auch wenn Semir am Telefon direkt keine Auskunft bekam, wusste er doch wie er fragen musste, um heraus zu finden wie es Sarah und Ben ging. Man konnte Sarah so lange sie isoliert war das Stationstelefon nicht geben, weil es dann kontaminiert wäre, aber immerhin durfte die zuständige Schwester ihm mitteilen, dass der Zustand von gestern sich bei beiden ein wenig verbessert hatte und das genügte ihm im Moment. Er holte wie abgesprochen Hartmut ab, der nach einer Nacht voller Schlaf und einer Dusche wieder wie ein Mensch aussah und als sie gemeinsam zur Past fuhren, bemerkte Semir: „Ich habe in der Klinik angerufen, ich glaube das Mittel wirkt, denn ansonsten wäre Ben wohl schon nicht mehr am Leben“, und jetzt atmete auch Hartmut erleichtert auf.