Jake verbrachte heute seinen einzigen freien Tag in der Woche. Am Morgen hatte seine Schwester ihm sorgenvoll berichtet, dass sein kleiner Neffe in der Nacht wieder hoch Fieber gehabt hatte und gar nichts essen wollte. Nur mit Mühe hatte sie wenigstens ein süßes Getränk in den Kleinen hinein gebettelt und jetzt schlief er schon wieder, außerdem beunruhigte sie eine Art punktförmiger Ausschlag an seinem ganzen Körper, der aber anscheinend nicht juckte.
„So kann das nicht bleiben! Ich gehe jetzt noch ein wenig mit meinem Hengst ausreiten, der ist die ganze Woche viel zu kurz gekommen und du packst Sachen für dich und den Kleinen zusammen. Wenn ich zurück bin, fahren wir in die Klinik. Ich kann nicht glauben, dass das nur ein Infekt ist. Diesmal werde ich nicht eher ruhen, bevor Joseph nicht ordentlich behandelt ist“, beschloss Jake und seine Schwester nickte dankbar. Ihr Mann war schon ein paar Tage auf Montage und sie war völlig verunsichert und hatte auch ein wenig Angst vor dem Arzt in der Klinik. Jake hoffte, dass die nette Schwester und nicht der Drache Dienst hatte, die hatte anscheinend eine eigene Meinung und würde ihnen sicher weiterhelfen. Er würde ja auch in ein anderes Krankenhaus fahren, aber wohin? Wenn man sich in medizinischen Dingen so gar nicht auskannte, war das schwierig. Also sattelte er sein braves Pferd, das fröhlich schnaubte und ritt bergan in die Wildnis.
Semir, Ben und Erhardt hatten den Wagen im Tal abgestellt. „Hier muss es zu der Berghütte gehen. Man kann da wohl auch hochfahren, aber ich glaube wenn wir uns als Wanderer tarnen, ist das unauffälliger. Außerdem wollen wir unsere Frauen ja auch nicht komplett anlügen, ein wenig Fitnesstraining tut uns allen gut und später lassen wir uns dann noch im Hotel verwöhnen, so eine Salzschlammmassage muss sich wunderbar anfühlen“, plante Semir. Ben humpelte zwar immer noch ein wenig, aber er durfte voll belasten und ehrlich gesagt stellte der ausgebaute Weg auch keine große Herausforderung dar. „Laufen auf unebenem weichen Boden ist sogar besonders gut für mich und du kannst ja unterwegs einen Herbstblumenstrauß für Andrea pflücken - so wegen der Feinmotorik in den Händen!“, flachste Ben, der noch dazu mit Trekkingstöcken lief und so kamen sie die nächste Stunde gut voran. Plötzlich dröhnten nicht weit entfernt ein paar Schüsse und die drei zuckten zusammen. „Das war ein Jagdgewehr, aber was schießt man denn um diese Tageszeit?“ , fragte Semir und Erhardt fiel sofort eine Antwort ein. „Hier in den Karpaten gibt es alles an Wild, aber auch Wölfe, Bären und Luchse, wobei die jetzt eigentlich nicht hungrig sein dürften“, überlegte er laut und seine Begleiter erstarrten einen Moment. „Sag mal, konntest du uns das nicht vorher sagen, oder hast du wenigstens eine Pistole dabei?“, fragte Semir, aber Erhardt schüttelte den Kopf. „Seit meiner Pensionierung habe ich keine Waffe mehr in der Hand gehabt, ich bin Privatier, falls ihr das vergessen haben solltet“, bemerkte er und schweigend gingen die drei nun weiter, musterten aber dabei vorsichtig ihre Umgebung.
„Falls das der Tierarzt oder sein Komplize sein sollten, die da in der Gegend rum ballern, sollten wir vielleicht den Weg verlassen und uns an die Hütte anschleichen, wer weiß was uns erwartet“, überlegte dann Ben und so pirschten sie sich den letzten Kilometer bergan in Deckung an die Jagdhütte heran. Die Schüsse waren nicht ganz nah gefallen und so kamen sie überein, zunächst das kleine hübsche Holzhaus in Augenschein zu nehmen.
„Wir sind immerhin zu Dritt und können so die Gegend im Auge behalten. Außerdem sind wir ja nur harmlose Wanderer“, überlegte Erhardt, aber darauf erwiderten die beiden aktiven Polizisten nichts. Sowohl der Tierarzt als auch sein Komplize würden Ben erkennen und der Händler auch Semir. Wenn sie entdeckt wurden, würde es zur Konfrontation kommen. „Uns sind hier im Ausland eh die Hände gebunden, ich würde vorschlagen, falls wir die beiden entdecken, nehmen wir Kontakt mit der Krüger auf, die soll dann auf ganz offiziellem Weg um Amtshilfe bitten und wir passen hier derweil auf, dass die nicht abhauen“, schmiedete Semir einen Plan und seine beiden Begleiter nickten.
Inzwischen hatten sie sich der Hütte mehr und mehr genähert. Es war alles ruhig. Kein Laut außer dem Zwitschern der Vögel war zu hören. Direkt neben dem Häuschen war ein kleiner nach vorne offener Anbau und als sie genau hin sahen, konnten sie darin den gesuchten Corsa erkennen. „Bingo - wir hatten Recht mit unserer Vermutung. Der Wagen hat zwar ein rumänisches und kein deutsches Nummernschild, aber das wäre schon zu viel der Zufälle, wenn das nicht das Auto der Tierarztfrau wäre. Farbe und Modellreihe stimmen, so einfach ist es also mit ein bisschen Schmiergeld in Europa unter zu tauchen!“, bemerkte Ben nun im Flüsterton und die anderen beiden nickten. „Ich würde sagen, ich pirsche mich jetzt mal an und sorge dafür, dass mit diesem Wagen in nächster Zeit keiner abhaut – ich denke vier platte Reifen dürften dafür genügen“, verkündete Ben und während er fast mit der Umgebung verschmolz, huschte er jede Deckung wahr nehmend, zu dem Carport und die beiden anderen konnten dann aus der Entfernung sehen, wie das Fahrzeug kleiner und kleiner wurde.
Ben´s Sinne waren hochgradig geschärft. Er bewegte sich fast lautlos und spähte nun vorsichtig bei einem der Fenster hinein. Er hoffte, dass die Bewohner der Hütte das Zischen nicht gehört hatten, als er die Luft aus den Reifen gelassen hatte. In jedem der vier Ventile steckte ein Metallstück – nur gut , dass ein paar Schrauben und Nägel herum gelegen hatten. Ben´s Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, aber dann sah er, dass er in eine kleine leere Küche blickte. Gebückt schlich er zum nächsten Fenster- aha das war das Bad. Seine Aufregung stieg und er verschmolz regelrecht mit der Umgebung, als er sich vorsichtig ein wenig aufrichtete, um zum nächsten Fenster hinein zu schauen. Schnell duckte er sich wieder, denn auf einem gemütlichen Sofa lag der Tierarzt, der allerdings hager und eingefallen war. Allerdings war dessen Blickrichtung eine andere und als Ben nun erneut vorsichtig in das nette Wohnzimmer spähte, konnte er beobachten, wie der Mann sich selber eine Spritze setzte, was immer das auch war. Er spritzte sich in die Leiste und hatte dazu die Hose halb herunter gelassen. Der Arm den Lucky erwischt hatte, hing einfach so herunter und war in dicke Verbände gehüllt. Mit jedem anderen hätte Ben vielleicht Mitleid gehabt, aber wenn er daran dachte, wie der Tierarzt und sein Kumpan ihm, seinem Hund und auch den Ponys zugesetzt hatten, verschoben sich die Gefühle eher Richtung Zorn und Hass. Auch die Familie des getöteten Radlers fiel ihm ein und nicht zuletzt die Ehefrau, die Kinder und Enkel dieses gewissenlosen Mannes. Recht geschah es ihm, sollte er doch vor Schmerzen schreien oder elendiglich verrecken, aber seine größte Genugtuung wäre eine lebenslange Haftstrafe in einem Gefängnis!