Als das Beruhigungsmittel in seine Adern floss, wurde es Ben erst schwindlig und dann breitete sich ein wohltuendes Gefühl in ihm aus, dass alles egal sei. Er meinte zu Schweben und die Angst zu Ersticken und um jeden neuen Atemzug ringen zu müssen, ließ nach. Er fühlte wie viele Hände ihn vorsichtig in ein Bett hoben, wo das Kopfteil sehr hoch gestellt war, so dass er wieder mehr saß als lag, aber die Worte des Arztes, der sehr kompetent wirkte und souverän und ruhig seine Arbeit machte, verstand er schon nicht mehr.
Auf der Intensivstation angekommen, hängte man ihn dort sofort an den Monitor am Bettplatz, der Notfallwagen wurde mit einem Überzug versehen neben das Bett gestellt und die Schwester, die mit beim Notfalleinsatz gewesen war, übernahm seine pflegerische Versorgung.
Noch vernebelte das Adrenalin und so machte man, bevor man wieder Schläuche in ihn bohrte, erst einmal aus dem Ohrläppchen eine kapilläre Blutgasanalyse. Der Kompressionsverband in der Leiste war schon wieder durch geblutet, aus der Harnröhre tropfte ebenfalls das Blut, aber wenigstens waren die Werte der BGA nicht so katastrophal, wie man sich das vorgestellt hatte. „Vielleicht kommen wir um die Intubation oder Koniotomie herum. Wir werden ihn gut sedieren und wenn das Adrenalin komplett vernebelt ist, versuchen wir es mit einer nichtinvasiven Maskenbeatmung. Noch kann man nicht absehen, ob die Schwellung der Halsweichteile eher noch zunehmen wird, was dann eine Intervention erfordert, oder ob die maximale Schwellung bereits erreicht ist. Geben wir ihm noch eine Chance, sind aber immer in Stand By“, lautete der Entschluss des erfahrenen Oberarztes, der in seinem Berufsleben schon viel gesehen hatte und auch ohne zu zögern solch einen Notfalleingriff durchführen würde und konnte. „Ich werde die nächsten Stunden die Station nicht verlassen, bis sich die Lage entspannt hat, oder sich das Befinden des Patienten verschlechtert und wir doch reagieren müssen. Den Reapiepser fürs Haus muss derweil jemand anders übernehmen, es ist sicher eine Gratwanderung, aber ich sehe im Augenblick keine absolute Indikation für eine Intubation, Tracheotomie oder Koniotomie. Das ist jetzt aber eine Entscheidung, für die man als Arzt auch gerade stehen muss!“, erklärte er den beiden Assistenzärzten, die sich schon gefreut hatten, einmal eine Notfallkoniotomie am lebenden Objekt mit zu erleben. Etwas was in der ärztlichen Berufslaufbahn nicht sehr häufig vorkam, meistens gelang es dank modernster Techniken wie Glideskopes und Bronchoskopen die Patienten doch zu intubieren. „Treffen sie solche Entscheidungen aber nur, wenn sie sich sicher sind, den Patienten damit nicht über ein gewisses Maß zu gefährden und revidieren sie ihre Meinung sofort, wenn sich auch nur die kleinste Veränderung im Befinden zeigt. Die Alarme am Monitor müssen sehr scharf gestellt sein und falls Herr Jägers Sauerstoffsättigung, die sich gerade um die 92% bewegt, unter 90% fällt, oder er sich klinisch verschlechtert, schreiten wir doch noch zur Tat. So werden wir ihn jetzt mit einem großlumigen zweiten peripheren Zugang und einer neuen Arterie versorgen. Der Chirurg soll sich die Blutung in der Leiste ansehen und der Urologe die Blutung aus der Harnröhre. Laut BGA ist das Hb zwar niedrig, aber noch nicht transfusionswürdig, auch das muss man in so einem Fall berücksichtigen-ihm fehlen Sauerstoffträger und ein weiterer Blutverlust muss dringend vermieden werden.“
Die Schwester hatte bereits einen frischen Stapel Kompressen auf Ben´s Leiste gedrückt und bat, während der Oberarzt seine Kollegen anrief, einen der Assistenzärzte zu komprimieren. Ben, der als das Tavor angeflutet war, erst mal ziemlich weg getreten war, begann sich wieder zu regen und schmerzerfüllt das Gesicht zu verziehen. „Er bekommt Morphin-das hilft gegen die Schmerzen, die Angst und die Atemnot“, ordnete der Oberarzt jetzt noch an und die betreuende Pflegerin bat ihre Kollegen ihr einen Perfusor vor zu bereiten und ins Isolierzimmer zu geben. Als Ben 2 mg des Medikaments erhalten hatte, driftete er wieder ab und bekam es gar nicht so richtig mit, wie man ihm erst einen zweiten venösen Zugang in den Handrücken und dann noch einen frischen arteriellen Zugang am Unterarm legte. Auch das nun sofort analysierte arterielle Blutgas zeigte wenig Veränderungen, weder zum Besseren, aber eben auch nicht zum Schlechteren und so tauschte man die Verneblermaske nun gegen eine Beatmungsmaske und unterstützte seine Atmung mit höheren Drücken und einem Turbinenbeatmungsgerät, was auch dabei half, die Atemwege offen zu halten. Unangenehm war dabei zwar die eng anliegende Maske, aber das Morphin und das beruhigende Zureden der Pflegekraft half Ben, sich darauf ein zu lassen und mit Hilfe des Opiats dämmerte er weiter vor sich hin.
Der Psychologe war inzwischen ebenfalls nach oben gebracht und auf den Bettplatz daneben geschoben worden. Auch er wurde mit dem Monitor verbunden, bekam ein Krankenhaushemd und man kontrollierte die Blutgase, aber so wie es aussah, war sein Zustand nicht kritisch und das Cortison, die Verneblung und Überwachung würden vermutlich genügen. Allerdings waren bei ihm, wie bei Ben, die Fingerabdrücke von Elias am Hals blau unterlaufen zu erkennen und die Pflegekraft, die ihn aufnahm und versorgte, erschauerte. „Das muss ja ganz schrecklich gewesen sein, von so einem Koloss von Mann angegriffen und beinahe umgebracht zu werden!“, bedauerte sie ihn und Philipp Schneider nickte-auch er würde eine Weile brauchen, um das Erlebte zu verarbeiten. Wie viel schlimmer musste es da erst Ben gehen, der ja bereits ein tagelanges Martyrium hinter sich hatte und psychisch und physisch stark angegriffen war.
Inzwischen war einige Zeit vergangen und Hartmut, der natürlich bereits über die Geschehnisse auf dem Laufenden war, war ins Krankenhaus geeilt, um die Lage zu sondieren-Ben musste doch das Orchideenextrakt bekommen! Allerdings ließ man ihn zwar auf die Intensivstation, aber die Schwester die er fragte, schüttelte den Kopf. „Herr Jäger kann aktuell unmöglich etwas schlucken und muss auch streng nüchtern bleiben, weil es jederzeit sein kann, dass man ihn doch noch intubieren oder sogar koniotomieren muss. Auch auf die schüchterne Nachfrage wegen einer Magensonde schüttelte sie entsetzt den Kopf. „Wenn man in seinem Rachen jetzt herumbohren würde, würde sofort alles komplett zu schwellen, wir sind froh, dass wir ihn halbwegs stabil haben! Jetzt kommt gleich ein Chirurg und dann noch der Urologe, die ihn beide versorgen werden, es tut mir leid, ich kann sie nicht einmal zu ihm lassen, aber glauben sie uns, wir passen gut auf ihn auf!“, versicherte sie ihm und so zog Hartmut schweren Herzens wieder ab.
Auch Semir war kurz auf der Intensiv gewesen und hatte sich nach dem Zustand aller Verletzten und auch Sarah´s erkundigt. Bei Sarah ging es rasant aufwärts, anscheinend wirkte die Urwaldmedizin, aber der kleine Türke war fast froh, dass sie noch intubiert war und vor sich hin schlief, so musste man ihr von der neuen Aufregung um Ben nichts mitteilen und sie in Angst und Schrecken versetzen. Ihre Eltern waren natürlich geschockt, als er ihnen berichtete was passiert war, aber als er dann nach einem sehnsüchtigen Blick durch die Glasscheibe auf den schlafenden Ben und einem Winken zum Psychologen, dem er auch sein Handy übergeben ließ, damit der via WhatsApp seine Familie benachrichtigen konnte, die Intensivstation verließ und nach Hause fuhr, fühlte er sich, als hätte ihn ein LKW überrollt. Erst der Alltag zuhause mit seiner Familie brachte ihn wieder herunter und ließ ihn spät abends dann doch noch in den Schlaf finden.