Die Staatsanwaltschaft holte beim Richter die Genehmigung zur Sichtung der Aufzeichnungen der umliegenden Tankstellen ein. Tatsächlich wurden sie mithilfe von Hartmut´s Algorithmus sogar zweimal fündig. Als in der ersten Tankstelle der rothaarige Techniker rief: „Wir haben einen Treffer!“, beugten sich Jenni und Ben gebannt über den Bildschirm seines Laptops. Tatsächlich - das war eindeutig ein gelber Spyder, leider konnte man weder vorne noch hinten das Kennzeichen erkennen, obwohl der Wagen ansonsten blitzsauber war, schienen die mit Schlamm verschmiert zu sein. Der Fahrer war ausgestiegen, aber auch da konnte man nur sehen, dass es ein großer, dunkelhaariger, schlanker Mann war. Sein Gesicht war nirgendwo zu erkennen und wie man bei der Rückverfolgung der Daten dann feststellen konnte, hatte er bar bezahlt. „Mist - gut wir sind ein bisschen weiter, der Fahrer ist ein Mann und vom Habitus her nicht mehr ganz jung, aber mehr wissen wir noch nicht. Machen wir an der nächsten Tankstelle weiter!“, beschloss Ben und als sie an der übernächsten Tanke zwar erneut den Wagen drauf hatten, etwa zwei Wochen früher, waren die Umstände aber dieselben. Kein Kennzeichen und kein Gesicht, über das man eine Gesichtserkennungssoftware laufen lassen konnte. Hartmut versprach, sich das Bildmaterial in der KTU mit besserer Auflösung nochmals an zu sehen, aber den ultimativen Durchbruch hatten sie nicht erzielt. Alle Tankstellenpächter waren zwar gebeten worden nach dem Spyder Ausschau zu halten und sofort die Polizei zu verständigen, wenn der wieder erschien, aber mehr konnten sie aktuell nicht machen.
Ben hatte erneut zwei Schmerztabletten eingeworfen und humpelte zunehmend stärker, sein Fuß war in der Schiene mega angeschwollen. „Meinst du nicht wir sollten Feierabend machen?“, schlug Jenni mit einem Blick auf ihn vor. „Soll ich dich heim fahren?“, fragte sie, aber Ben schüttelte den Kopf. „Feierabend wäre okay, immerhin ist es inzwischen vier geworden, aber wenn du mich zur Uniklinik bringen könntest, wäre ich dir dankbar!“, bat er und Jenni nickte. „Möchtest du deinen Fuß anschauen lassen, soll ich auf dich warten?“, fragte sie, aber Ben verneinte. „Weder noch – ich werde nochmal versuchen Semir zu sehen, sonst finde ich keine Ruhe und fahre später mit dem Taxi heim. Mit einem Dackelblick auf die inzwischen trocken – schlammige Rückbank fragte er: „Jenni - wenn ich dich bei Gelegenheit zu einem fürstlichen Essen einlade, könntest du für einen armen, schmerzgeplagten Invaliden zum Staubsauger greifen?“, säuselte er und Jenni runzelte erst die Stirn und dann versetzte sie ihm einen freundschaftlichen Boxhieb an den Rippenkasten. „Du weißt schon, dass du mir dann was schuldig bist, aber meinetwegen, ausnahmsweise, weil du es bist – und das Lokal bestimme ich“, antwortete sie und wenig später stieg Ben vor dem Haupteingang der Uniklinik aus dem Wagen.
Seine Krücken vergaß er, aber als er nun langsam in Richtung Intensivstation humpelte, machte ihm eher Sorge, wie er dort reinkommen sollte, wenn doch Andrea ein Besuchsverbot ausgesprochen hatte. Aber trotzdem konnte ihn nichts und niemand aufhalten, sein bester Freund war ihm einfach zu wichtig, als dass er sich da an irgendwelche Anweisungen Dritter halten würde. Falls es ihm offiziell nicht gestattet wurde Semir zu sehen, würde er einfach rein spazieren, zumindest einen kurzen Blick auf ihn werfen und dann vermutlich wieder raus geworfen werden, aber den Ärger war es ihm wert.
Andrea war in einem merkwürdigen Zustand zwischen Freude und Sorge, als sie heute draußen an der Intensiv läutete. Freundlich wurde ihr über die Sprechanlage Zutritt gewährt und als sie wenig später in Semir´s Zimmer trat, staunte sie nicht schlecht. Er war zwar blass und sichtlich angestrengt, aber er saß mit einem dünnen Laken zugedeckt, umgeben von Kabeln und Schläuchen in einem Mobilisationsstuhl und lächelte sie an. Mit zwei Schritten war sie bei ihm, Tränen der Freude in den Augen. „Schatz – ich bin begeistert – das hätte ich gestern nicht zu träumen gewagt! Du bist bereits auf – jetzt glaube ich langsam, was unsere Hausärztin prophezeit hat - du bist so ein Kämpfer, du wirst bald wieder auf den Beinen sein“, stammelte sie mit Tränen des Glücks in den Augen. „Als Ben mich vorgestern angerufen hat und mir von deinem Unfall erzählt hat, dachte ich es ist vorbei. Und jetzt – ich bin einfach nur glücklich!“, sagte sie und küsste ihn zärtlich auf die Stirn.
Langsam fiel die Anspannung von ihr ab und als die Schwester wenig später einen Joghurt brachte, fütterte sie ihren Mann wie früher die Kinder als sie klein waren. „Verdammt ich komme mir vor wie ein Kleinkind, nichts, aber auch gar nichts kann ich selber tun“, polterte Semir. „Ich hoffe nur, dass ich nicht zur Toilette muss, nicht mal selber abwischen könnte ich mich!“, klagte er, aber jetzt war es an Andrea den Kopf zu schütteln. „Semir – das sind doch Peanuts! Du hast früher unsere Kinder auch gewickelt, als sie noch nicht sauber waren. Das ist jetzt einfach so und so wie ich das verstanden habe, wirst du viel Krankengymnastik kriegen und bald wieder wenigstens ein kleines bisschen mobiler sein. Gestern noch hatte ich Angst dich zu verlieren und jetzt bist du wegen Kleinigkeiten undankbar“, schalt sie ihn und er sagte momentan nichts darauf.
Kurz darauf kam die Schwester wieder herein und leuchtete ihm in die Augen, bat ihn die Extremitäten zu bewegen, was er mühsam und unter Schmerzen bewerkstelligte und stellte orientierende Fragen. „Siehst du Andrea – todmüde bin ich obendrein, ständig werde ich geweckt und mit nervigen Fragen bombardiert – auch nachts!“, beschwerte er sich, aber jetzt war es an der älteren und souveränen Pflegekraft ein wenig zu schimpfen. „Herr Gerkhan – seien sie nach diesem schweren Unfall den sie hatten bitte dem Schicksal ein wenig dankbarer. Es ist nicht selbstverständlich dass sie hier so sitzen und bereits wieder herum mosern können. Sie sind dem Tod gerade mal noch so von der Schippe gesprungen und wenn sie nicht das große Glück gehabt hätten, sofort suffizient reanimiert zu werden und danach hochklassige medizinische Betreuung zu erhalten, würden sie vielleicht für den Rest ihres Lebens als sabbernder Fleischkloß ohne Bewusstsein vor sich hin vegetieren, oder ihre Frau musste jetzt alles für ihre Beerdigung veranlassen. Wir tun hier alle nur das, was für sie im Moment gut und notwendig ist. Dieser sogenannte Kopfbogen, also die stündliche Kontrolle ihrer Pupillen und einiger anderer Parameter, die auch dokumentiert werden, soll uns erkennen lassen, falls es doch noch Komplikationen gibt, wie eine stärkere Einblutung in ihr Gehirn. Wenn das so wäre könnten wir sofort reagieren, aber ihr Gemeckere sind kindische Befindlichkeitsstörungen. Sie müssen keine Angst haben - ich fühle mich von ihrem Verhalten nicht persönlich angegriffen und werde sie weiter professionell versorgen, wie ich das seit 40 Jahren mit meinen Patienten mache, aber das musste mal gesagt sein!“, knallte sie ihm vor den Latz und augenblicklich war Semir still. Andrea beobachtete ihn sorgenvoll, aber dann kam eine Reaktion die sie nicht erwartet hatte. Semir, dessen Gesicht erst zornig gewesen war, begann zu grinsen. „Touché, Schwester Susanne, jetzt haben sie mich aber wieder eingenordet, aber ich befürchte das habe ich verdient. Wenn ich nicht so Angst vor den Schmerzen hätte, würde ich ihnen jetzt die Hand schütteln, ich habe mich gerade wie ein A.... verhalten und war ungerecht und undankbar, aber ich werde versuchen mich zu bessern, ich bin nur so ungern Patient!“, erklärte er und nun lächelte auch die Schwester. „Sehen sie ich wusste doch, dass man mit ihnen reden kann. Ich würde sagen, sie bleiben, wenn ihr Kreislauf das mitmacht, noch kurz draußen und in etwa 20 Minuten bringen meine Kollegin und ich sie wieder ins Bett zurück. Bis dann!“, verabschiedete sie sich und verließ das Zimmer.