Ramm
Semir machte bald Feierabend und lenkte seinen Wagen zu Thorsten Ramms Adresse. Als er in dessen Wohnstraße einbog, fielen ihm sofort die in der Straße abgestellten Einsatzwagen der Feuerwehr ins Auge. Auch ein Rettungswagen mit geschlossenen Türen und ein Streifenwagen standen auf dem Gehweg. Aus den zerborstenen Fenstern des Hauses mit der Nummer 14 quollen schwarze Rauchwolken. Semir beschlich ein ungutes Gefühl. Ohne die Anschrift mit seinen Unterlagen abgeglichen zu haben, war er sich sicher, dass dieses das Zuhause von Thorsten Ramm war. Er kam zu spät. Die Feuerwehr war bereits damit beschäftigt ihre Utensilien zusammenzupacken und die Schläuche zusammenzurollen.
Semir ging zielstrebig auf seinen uniformierten Kollegen zu und wies sich aus: „Gerkan, Kripo Autobahn. Wo ist der Hausbesitzer? Thorsten Ramm?“ – „Drews, guten Abend. Das wissen wir noch nicht, die Kollegen der Feuerwehr sind noch drin, aber zumindest ist das Feuer schon gelöscht.“ – „Haben Sie die Spurensicherung gerufen?“, fragte Semir. „Nein, dazu bestand bisher kein Anlass, aber der Brandermittler wird seine Arbeit heute noch aufnehmen. Wir sperren das Grundstück noch ab und sind dann fertig hier.“
In dem Moment trat ein Feuerwehrmann auf die Polizisten zu. „Wir haben etwas entdeckt, können Sie mal mitkommen?“ Der Uniformierte winkte ab. „Ich nicht, ich habe gerade eine Bronchitis hinter mir, ich dürfte nicht einmal hier in der Nähe des Hauses sein.“ – „Dann rufen Sie die Spurensicherung an. Ich gehe mit rein“, beschloss Semir und folgte dem Feuerwehrmann in Richtung Haus. Dieser drückte ihm am Einsatzwagen noch eine Atemmaske und eine kleine Sauerstoffflasche in die Hand. Anschließend marschierten die zwei in das ausgebrannte Haus. Semir musste seinem Begleiter vertrauen, er alleine hätte der Treppe, über die sie nun in die zweite Etage gelangten, die Stabilität nicht zugetraut. Auch hier war der Putz durch die Hitze des Feuers von der Decke gefallen, die Holzvertäfelung verkohlt. Der Feuerwehrmann zeigte Semir den Weg in ein Zimmer am Ende des Flurs, der Raum war hier ohne Zwischendecke bis in die Dachspitze offen, freiliegende Balken gaben ihm ein rustikales Aussehen. Als sie sich umschauten, schreckte Semir zurück. Da hing er! An einem Strick, der an einem der Deckenbalken befestigt war, hing ein Mann. Obwohl er schwarz verkohlt und nicht mehr erkennbar war, wäre Semir jede Wette eingegangen: Das war Thorsten Ramm! Erhängt und verbrannt im eigenen Haus.
Semir streckte seinen Arm zur Seite aus und hinderte so den Feuerwehrmann am Näherherantreten an den Leichnam. Er zeigte nach hinten, raus hier, sollte das bedeuten. Unten nahm er seine Maske an. „Keiner betritt mehr das Haus, das ist jetzt ein Tatort und ein Fall für die Spurensicherung“, bestimmte er. Auf dem Weg zum Einsatzwagen schnappte er die Stimme einer Schaulustigen auf. „Und das ausgerechnet der nette Herr Ramm. Der hat doch Zeit seines Lebens an seinem Elternhaus gehangen.“ – „Glauben Sie mir, das tut er auch jetzt noch“, konnte sich Semir nicht verkneifen zu antworten.
Er wartete noch auf die Kollegen der Spurensicherung und äußerte seinen Verdacht. „Im ersten Stock hängt eine Person, ich bin mir sicher, dass es sich um den Hausbesitzer handelt, Thorsten Ramm. Ich möchte, dass ihr seine Identität nachweist und jedes noch so kleine Indiz findet, welches auf Fremdverschulden hindeuten könnte, ich habe einen begründeten Verdacht, dass es kein Selbstmord war. Wenn ihr mir dann bitte euren Bericht zukommen lassen würdet?“ Dann ging Semir zu seinem BMW, um nach Hause zu fahren, aber vorher nahm er sein Telefon zur Hand und rief Kim Krüger an, um ihr vom Ableben des nächsten Mannes von Torres‘ Liste zu erzählen. Er riet der ehemaligen Dienststellenleiterin der PAST sich umgehend um Personenschutz zu bemühen und sich sofort bei ihm, Alex oder Ben zu melden, wenn ihr etwas verdächtig vorkommen sollte.
Telefonat mit Dana
Semir entschied sich, noch am Montagabend Dana anzurufen, um ihr vom Auffinden von Sophies Leiche zu berichten. Solch eine Nachricht sprach sich schnell rum, und er wollte sichergehen, dass sie keine Information aus zweiter oder dritter Hand, sondern die Wahrheit von ihm persönlich erfuhr. All die Hoffnung, die sie seit Freitagnacht hegten, war mit einem Schlag, mit dem Öffnen eines Kofferraumdeckels zunichte gemacht worden. Dana legte die ganze aufgestaute Frustration in ihre erste Reaktion: „Scheiße!“ – „Es tut mir sehr leid, aber ich wollte, dass du es von mir erfährst und nicht morgen aus der Zeitung.“ – „Hatte sie einen Unfall?“ Aus Danas Stimme glaubte Semir den verzweifelten Versuch herauszuhören, Sophies Tod könnte doch noch erklärbar sein, ein Unfall war irgendwie noch leichter zu fassen als ein Verbrechen. ‚Erst nach ihrem Tod‘, dachte Semir, verkniff sich diese Bemerkung als in dieser Situation zu sarkastisch aber und sagte stattdessen: „Sie lag in einem Kofferraum, als wir sie fanden, Dana. Nein, wir können nicht von einem Unfall ausgehen, wissen aber auch noch nichts Genaueres. Aber wir werden die Sache schon aufklären.“ – „Das musst du auch, Papa!“
Semir hörte Dana am anderen Ende der Telefonleitung die Luft geräuschvoll ausstoßen, gefolgt von einem leisen Schniefen. „Das verspreche ich dir, Dana. Kannst du heute wieder zu deiner Oma gehen? Ich möchte nicht, dass du dich alleine in deinem Zimmer im Hotel verkriechst, ja? Ich hole dich am Freitag ab, ich habe mir ein paar Stunden Pause in meinen Dienstplan eingetragen, ab wann hast du frei?“ – „Mittags um eins.“ – „Ich werde da sein“, antwortete Semir bestimmt. Es trat eine Pause ein, Semir wollte schon das Telefonat beenden, da drang die Stimme seiner Tochter erneut an sein Ohr.
„Du, Papa?“ – „Dana?“ – „Können wir am Wochenende zu meinem Elternhaus fahren? Ich möchte es noch einmal sehen, bevor es verkauft wird.“ – „Bist du dir sicher?“ – „Ja, ich habe darüber nachgedacht. Ich könnte nie in dem Haus glücklich werden. Aber ich möchte es gerne noch einmal sehen.“ – Semir nickte, wurde sich aber umgehend bewusst, dass Dana seine Kopfbewegung nicht sehen konnte und sagte stattdessen verständnisvoll: „Dann machen wir das am Wochenende.“ Semir rang Dana noch das Versprechen ab, den Abend bei ihrer Großmutter zu verbringen und legte dann auf.
„Wie hat sie es aufgefasst?“, wollte Andrea später im Bett von ihm wissen. „Ich weiß nicht, es geht ihr nah, aber ich glaube, etwas anderes beschäftigt sie noch mehr.“ – „Das wäre?“ – „Das Haus. Der endgültige Abschied von ihrem Elternhaus steht ihr bevor. Sie will es noch einmal sehen.“ – „Du fährst mit ihr hin?“ – „Ja, am Wochenende.“
Nach einer Pause, in der Semir und Andrea ihren eigenen Gedanken nachgingen, meinte Andrea leise: „Das Haus ist auch der Ort, an dem du erfahren hast, dass du eine dritte Tochter hast.“ Sie erhielt keine Antwort und hakte nach: „Semir?“ – „Hmm“, war die einzige Reaktion, die von ihrem Mann zu hören war. Andrea beschloss, es dabei bewenden zu lassen.
Der Weg in das Haus wird für beide, für Dana und für Semir, kein leichter werden.