9. Geldübergabe
„Das sollten wir in aller Ruhe besprechen. Habt ihr denn überhaupt so viel Geld?“, fragte Werner leise. „Gute Frage, Hauke und ich auf keinen Fall. Aber seine Großmutter. Ich muss zu ihr.“ – „Soll ich mitkommen? Dann können wir zusammen entscheiden, was zu tun ist.“ – „Das ist vielleicht keine schlechte Idee, ich kann momentan eh keinen klaren Gedanken fassen.“ Martina Krause legte die Tageszeitung und die übrige Post zurück in den Briefkasten, verschloss ihn und machte sich mit Werner auf den Weg zu Emma Krause.
Das hatte Werner doch geschickt eingefädelt, oder? Erst den Erpresserbrief schreiben und ausliefern und dann „rein zufällig“ des Weges kommen, als Martina Krause ihn in die Hände bekommt. Jetzt galt es nur noch dafür zu sorgen, dass Krauses das Geld bereit stellten und vor allem die Polizei aus dem Spiel ließen. Es war ja schon Samstagvormittag, die Geldübergabe sollte schon in gut zehn Stunden sein.
Emma Krause war genauso erschrocken über die Entführung ihres Enkels und den Erpresserbrief, begann aber bald, Haukes Frau zu beruhigen. „Martina, ich gebe dir natürlich das Geld, das ist doch Ehrensache. Da brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Aber sollten wir nicht doch die Polizei einschalten? Die wissen doch bestimmt, was zu tun ist.“ – „Ich weiß nicht, Oma“ – Martina nannte Haukes Großmutter auch Oma – „Die verlangen ausdrücklich von uns, keine Polizei einzuschalten. Was meinst du, Werner?“ – „Schwer zu sagen“, antwortete dieser, „ich glaube, denen geht es wirklich nur ums Geld. Geld gegen Hauke, so lese ich den Brief. Ich meine, Sie sollten zahlen und die Polizei nicht einschalten. Aber letztendlich ist es Ihre Entscheidung.“
Martina und Emma Krause überlegten hin und her. Werner lenkte die Überlegungen immer wieder in eine bestimmte Richtung, und so kamen die Frauen zu der Entscheidung, die Werner sich erhofft hatte. „Ich besorge das Geld“, entschied Emma Krause und ging zum Telefon. Obwohl es Samstag war, gelang es ihr, mit dem Bankdirektor zu sprechen und ihn zu bitten, unter dem Vorwand eines wichtigen Vorhabens, ihr noch heute Zugang zu ihren Bankschließfächern zu ermöglichen. Drei Millionen lagen dort in mehreren Fächern in bar. Bargeld lacht, sagte sie immer, und heute hätte sie endlich den Beweis dafür. Sie machte sich mit einer leeren Reisetasche auf den Weg und holte das Geld, mit dem sich Martina am späten Abend in ihrem roten Kleinwagen auf den Weg zum Übergabeort an der A57 machte.
10. Routine
„HAHAHAAA-TSCHIII“ Jenny nieste laut und putzte sich kräftig die Nase. „Mensch, Jenny, du solltest dich mit deiner Erkältung besser zuhause ins Bett legen“, gab Dieter Bonrath, der den Porsche Cayenne – Streifenwagen der Autobahnpolizei über die A57 fuhr, seiner jungen Kollegin auf dem Beifahrersitz einen guten Rat, „du tust dir und uns keinen Gefallen damit, dass du dich zur Arbeit schleppst und uns womöglich noch ansteckst.“ - „Ach Bonny, du weißt doch, wie unterbesetzt wir jetzt zur Ferienzeit sind. Alex tourt mit dem Wohnmobil Richtung Nordkap, Semir erholt sich irgendwo in der Eifel, lass uns einfach diese Nachtschicht rumbringen, dann werde ich mich morgen zuhause pflegen und gesundschlafen.“ – „Okay Jenny, ich habe es ja nur gut gemeint. Komm, wir schauen uns mal den nächsten Parkplatz an.“ – Dieter Bonrath lenkte den Streifenwagen auf die Abbiegespur zum Parkplatz „Eichengrund“. Direkt vor ihm fuhr ein roter Kleinwagen, langsamer als erforderlich und zwang Dieter zum starken Abbremsen. Er schüttelte seinen Kopf, sagte aber nichts und hielt vorne am WC-Häuschen an. Nachdem sie eine Woche vorher einen Junkie in einem Toilettenhäuschen gefunden hatten, der in allerletzter Minute vom herbeigerufenen Notarzt reanimiert werden konnte, hatte Bonrath es zu ihrer Routine werden lassen, gerade auf diesen einsamen Parkplätzen die Toilettenhäuser regelmäßig zu überprüfen.
Der rote Kleinwagen indes hielt hinten auf dem Parkplatz an. Eine blonde Frau stieg aus, nahm eine schwarze Reisetasche von der Rücksichtsbank und ging, sich mehrfach nach allen Seiten umschauend zum Papierkorb. Sie sah zwar den Streifenwagen, dachte sich aber nichts weiter. Sie hatte keine Polizei eingeschaltet und die Entführer, die mit Sicherheit aus der Nähe die Geldablieferung beobachteten, von ihr aber nicht gesehen werden konnten, bestimmt auch nicht. Bevor sie die Reisetasche in den Papierkorb werfen konnte, klingelte ihr Handy und eine männliche Stimme fuhr sie an: „Polizei? Sie haben die Polizei mitgebracht?“ – „Nein, das habe ich nicht. Ich habe ihr Geld“ – „Vergessen Sie’s! Nehmen Sie ihr Geld und hauen Sie ab. Wir melden uns!“ – „Hören Sie! Bitte, lassen Sie Hauke gehen!“ Aber die Leitung war schon tot. Martina legte die Reisetasche wieder auf die Rücksitzbank, setzte sich hinter das Lenkrad und brach in Tränen aus. Die Geldübergabe war gescheitert. Würde sie Hauke je wiedersehen?
Martina Krause bemerkte nicht, wie der Streifenwagen jetzt nach der Überprüfung des Toilettenhäuschens hinter ihr anhielt, beide Streifenpolizisten aus diesem ausstiegen und auf ihren Kleinwagen zugingen. Erst als Jenny an die Scheibe der Fahrertür klopfte, schreckte sie auf. Sie öffnete die Tür. „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Jenny die blonde Frau. „Nein, alles in Ordnung, ich brauchte nur eine kurze Pause“, erwiderte Martina. Jetzt trat Dieter, der in der Zwischenzeit die Nummernschilder und den Zustand des Kleinwagens knapp inspiziert hatte, soweit es im dunklen mit Hilfe einer Taschenlampe ging, zu Jenny und ergriff das Wort: „Ihr TÜV wäre letzten Monat fällig gewesen. Darf ich mal ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere sehen?“ Nach einer längeren Suche in ihrer Handtasche händigte Martina das Gewünschte den Polizisten aus. „Ich verwarne sie mündlich. Bitte holen Sie den TÜV-Termin in den nächsten Tagen nach und stellen Sie den Wagen einer Polizeidienststelle vor. Auf ein Bußgeld verzichte ich heute, weil die Plakette erst seit drei Wochen abgelaufen ist. Und das rechte Hinterrad muss wahrscheinlich auch bald ausgetauscht werden, vielleicht machen Sie das auch bei der TÜV-Vorbereitung.“ Dieter reichte Martina die Papiere zurück, die ihm versicherte, sich darum zu kümmern und das Versäumte umgehend nachzuholen. „Ich wünsche Ihnen dann noch eine gute Weiterfahrt“, verabschiedete Bonrath sich von der blonden Frau. Auch Jenny wünschte ihr eine gute Nacht und Weiterfahrt und folgte Dieter zum Streifenwagen.
Für die Polizisten war es nur eine Routinekontrolle, für Martina Krause das Ende der Hoffnung auf eine baldige Beendigung des Entführungsdramas.