Samstag, 15:00 Ayda und Lilly
Schon wenige Meter hinter der Stelle des Überfalls nahm der Fahrer seine Maske, die er jetzt nicht mehr brauchte, herunter und drehte sich zu Ayda und Lilly um. „Ruhig Kinder, wir werden jetzt ein wenig spazieren fahren und dann lasse ich euch raus. Aber ein bisschen Zeit brauchen wir noch. Alles ist okay“
Nichts war okay. Mama verschwunden, Papa verschwunden, und ein fremder Mann fuhr mit ihnen weg. Das einzige, was ihnen bekannt vorkam, war das Auto, in dem sie saßen, ihre Sitze, in die sie sich krallten, und die Stofftiere, die sie immer noch in ihren Händen hielten. Ayda nahm ihren Mut zusammen und fragte: „Warum können wir nicht mit Papa und Mama fahren?“ – „Papa muss für uns was erledigen, und Mama muss ihm helfen. Verstehst du das?“ – „Aber …“ – „Nichts aber, seid jetzt ruhig, ich mache ein bisschen Musik an“ Tatsächlich beruhigten sie Kinder sich etwas, Lilly schlief sogar ab und an etwas ein.
Zwei Stunden wurden sie durch die Landschaft kutschiert, um Kenan und Murat Zeit zu verschaffen. Dann steuerte der Fahrer einen Rasthof an, an dessen Ende sich die Dienststelle der Autobahnpolizei befand. „So, hier sind wir, bleibt aber noch sitzen und lasst den Schal noch drauf.“ Kenan hielt mit seinem Mercedes neben ihm. Der Fahrer sagte zu Ayda: „Du zählst jetzt langsam laut bis 50, dann dürft ihr aussteigen. Wir sind vor dem Büro eures Vaters.“ Er ließ den Schlüssel stecken, stieg aus dem Skoda aus und zu Kenan in den Mercedes. Dieser gab Gas und fuhr los.
„1 – 2 – 3 ...“, zählte Ayda, genauso wie ihr aufgetragen worden war, „… 48 – 49 – 50!“ Sie nahm ihren Schal runter und erkannte den Parkplatz der PAST, wo sie schon des Öfteren waren, um ihren Vater auf der Arbeit zu besuchen. „Komm Lilly!“ Ihre kleine Schwester rührte sich nicht, Ayda nahm ihr den Schal ab und rüttelte sie wach. Lilly begann sofort an zu weinen. „Komm Lilly, nicht weinen, wir sind da!“ Sie löste ihren Gurt und den ihrer Schwester und stieg dann aus dem Auto, wartete auf Lilly, die langsam und müde aus ihrem Kindersitz kletterte, nahm ihre Schwester bei der Hand und ging zum Bürogebäude. Ihre Schritte wurden immer schneller, die letzten Meter rannten sie. Sie kümmerte sich nicht um den Wagen, der mit offenen Türen und steckendem Schlüssel auf dem Parkplatz stehen blieb.
„Susanne“, rief Ayda, als sie die Tür zur PAST aufstieß und die Sekretärin erblickteund rannte auf die Freundin ihrer Mutter zu, Lilly im Schlepptau. Sie ließen sich umarmen und ihren Tränen jetzt freien Lauf. „Ayda, was ist denn passiert? Seid ihr ganz alleine hier? Ihr seid ja völlig aufgelöst. Wollt ihr es mir erzählen?“ Susanne nahm beide Kinder auf ihren Schoß.
Nur stockend konnten sie von der Autofahrt erzählen, dass ihre Mamain ein Auto steigen musste und Semir sich auch bei den maskierten Männern befinden musste. „Siggi!“, rief sie ihrem uniformierten Kollegen zu, „draußen auf dem Parkplatz muss sich Semirs Auto befinden, kannst du es zur KTU bringen, vielleicht hat der Fahrer Spuren hinterlassen.“ Während Siggi sich bereit machte, fiel Susanne noch was ein. „Und Siggi, bau doch bitte die Kindersitze aus und lege sie in mein Auto. Vielleicht brauche ich sie noch.“ Siggi nickte und verließ mit Susannes Autoschlüssel die PAST, während diese den Kindern etwas zu trinken brachte und versuchte, mehr Informationen zu erfahren.
Dann griff sie zum Telefon und wählte erst Semirs Handy-Nummer, als sie keinen erreichte auch Andreas, wieder ohne Erfolg. Sie dachte kurz nach. Dann rief sie Alex an, der nach dem vierten Klingeln ranging und undeutlich lallte: „Ja, Brandt?“ – „Alex, du klingst ja schrecklich, wie geht es dir denn?“ – „Das wird schon. Was gibt es?“ – „Alex, wir müssen davon ausgehen, dass Semir und Andrea entführt wurden und sich in den Händen von Leos Gang befinden. Die Kinder sind hergebracht worden.“ – „Scheiße, ich bin in 20 Minuten da, hast du einen Anhaltspunkt, wo wir mit dem Suchen anfangen können?“ – „Nein, Ayda und Lilly sind noch total verstört und konnten mir nicht viel sagen. Ich werde gleich versuchen, ihre Handys zu orten, vielleicht hilft uns das weiter.“ – „Dann ruf doch bitte auch Ben an, der hattegestern noch Kontakt zu Semir, vielleicht hat er ihm was erzählt“ – „Ben? Okay, danke für den Hinweis, das mache ich dann gleich. Tschüß Alex“ – „Tschüß, ich bin unterwegs zu euch.“
Susanne hatte die Handy-Nummer von Ben in ihrem Telefon eingespeichert und drückte die Kurzwahltaste. „Ben? Hier ist Susanne, ich habe leider keine Zeit zum Plaudern, Semir und Andrea sind verschwunden, wahrscheinlich bei Leos Leuten, weißt du da mehr?“ Ben erzählte Susanne, die bislang keine Ahnung hatte, dass Semir und sein Bruder persönlich in dem aktuellen Fall verstrickt waren, was Semir ihm erzählt hatte, dass Semir seine Familie in das Sommerhaus seines Vaters und damit in Sicherheit bringen wollte. Gemeldet habe er sich aber seitdem nicht bei ihm.
Susanne hielt es für die beste Idee, Ayda und Lilly erst einmal zu sich nach Hause mitzunehmen, damit die beiden etwas zur Ruhe kämen. Die Handyortung überließ sie den Kollegen. Die Kinder waren ihr jetzt wichtiger.
Die Handyortung verlief erfolglos. Die Beamten waren zwar in der Lage, die Handys nach längerer Suche zu finden, aber sie lagen nicht weit voneinander entfernt am Waldrand der Bundesstraße, allem Anschein nach aus einem vorbeifahrenden Auto geworfen.