Nadine senkte ihr Buch auf ihren Schoß und hob ihren Kopf, als sie den Schlüssel im Schloss hörte. Der Familienhund der Gerkans hatte schon vorher seinen Korb verlassen, sich gestreckt und wartete schwanzwedelnd direkt vor der Wohnungstür. Kurz darauf betraten Andrea und Semir vergnügt den Flur. „Hallo Nadine, wie war es?“, begrüßte Andrea ihre Babysitterin, als sie durch die Türöffnung des Wohnzimmers blickte, „Alles ruhig?“, während Semir noch seine Anzugsjacke an die Garderobe hängte, den Hund streichelte und zusah, dass er aus seinen unbequemen Anzugschuhen kam.
„Ja, alles bestens. Sie sind eingeschlafen und haben sich seitdem nicht mehr gerührt.“ Semir trat nun ebenfalls ins Wohnzimmer, dicht an seinem Bein Ben, dem die Begrüßung wie immer zu kurz erschien. Doch Semir brauchte nur seinen Arm in Richtung Korb auszustrecken, und der Hund folgte der Richtung und trottete in Richtung seiner Decke, nicht ohne sich auf halben Weg noch einmal umzusehen, um zu erkunden, ob sein Herrchen es wirklich ernst meinte. Dann aber vollendete er seinen Weg und rollte sich in seinem Korb zusammen.
Plötzlich stand Nadine auf und kramte ihr Handy aus ihrer Jeans, dessen Vibrationsalarm sie erschreckt hatte. Sie sah auf das Display und stutzte. „Ja? Hier Nadine Vogt. Sophie? … Ach, Frau Ziegler, Sie sind es, guten Abend …“, der Klang ihrer Stimme ließ jetzt auch Andrea und Semir aufmerksam werden, „nein, Sophie ist nicht bei mir, ich habe sie seit letzter Woche nicht mehr gesehen, … nein, ich war auch nicht auf Marcels Party, ich hatte heute Abend einen Babysitter-Job bei den Eltern on Dana Wegner, … und sie war nicht im Bus? … und haben Sie schon die Polizei…?“ Bei ihrer letzten Frage schaute Nadine Semir direkt an, der nun näher kam, „ich schalte Sie mal eben auf laut, Danas Vater ist Polizist und kann vielleicht helfen.“
Nadine schaltete die Freisprecheinrichtung des Handys ein, und nun ergriff Semir das Wort. „Frau Ziegler? Mein Name ist Semir Gerkan, der Vater von Dana Wegner, ich arbeite bei der Kripo, was ist passiert?“ Jetzt erfuhren Semir, Nadine und Andrea, was Frau Ziegler bewogen hatte, Nadine um 20 Minuten nach Mitternacht noch anzurufen.
„Wir hatten Sophie erlaubt, heute bis 22:00 auf Marcels Geburtstagsfeier zu bleiben. Dann sollte sie mit dem Bus nach Hause fahren. Mein Mann wollte sie hier an der Haltestelle abholen, aber sie war nicht im Bus. Und auch nicht im nächsten. Aber die Party hat sie pünktlich verlassen, dort haben wir vor einer guten Stunde angerufen. Also bin ich jetzt dabei, alle Mitschüler und Freunde zu fragen.“ – „Frau Ziegler, hat ihre Tochter ein Handy?“ – „Ja, aber das muss ausgeschaltet sein. Da geht gleich die Mailbox ran. Bestimmt hat sie den Akku leergespielt.“
„Und Sophie ist sonst immer zuverlässig, gerade wenn es um Pünktlichkeit geht?“ – „Ja, total“ – „Sie ist nie später nach Hause gekommen, als vereinbart?“
Semir spulte die Standardfragen herunter, die die Polizei in einem Vermisstenfall beantwortet haben wollte. „Nein, höchstens mal ein paar Minuten, oder sie hat vorher angerufen und gefragt. Wir können uns in dieser Beziehung voll und ganz auf Sophie verlassen.“ – „In diesem Fall sollten wir die Polizei einschalten, können Sie mir Ihre Tochter beschreiben? Was hatte sie heute Abend an, zum Beispiel?“ – „Sie meinen …“ – „Frau Ziegler, wenn wir Ihre Tochter suchen sollen, brauchen wir eine genaue Beschreibung. Haben Sie ein aktuelles Foto Ihrer Tochter, das sie mir schicken können?“ – „Ja, das habe ich“ – „Auf dieses Handy? Ist das möglich?“ – „Ja, Herr Gerkan.“ – „Und was hatte sie heute an?“ – „Ich weiß nicht … meinen Sie, es könnte ihr etwas zugestoßen sein?“
Semir schloss für einen Moment seine Augen, zog zischend die Luft ein und aus und fuhr in ruhigem Tonfall fort: „Frau Zieger, konzentrieren Sie sich bitte. Fangen wir bei der Jacke an. Sie trug doch eine Jacke?“ – „Ja, einen roten Anorak.“ – „Jeans?“ – „Nein, Sophie trug fast nie Jeans, sie hatte eine schwarze Leggings und einen schwarzen Rock an, dazu eine bunte Bluse. Und schwarze kurze Stiefel.“ – „Gut, Frau Ziegler. Ich werde die Beschreibung an meine Kollegen im Innenstadtrevier weitergeben, dann halten bald alle Streifenwagen Ausschau nach Ihrer Tochter. Noch etwas. Mit welchem Bus wäre Sophie nach Hause gekommen?“ – „Mit dem 136er“ – „Und von wo nach wo?“, hakte Semir nach. „Vom Neumarkt bis zur Kitschburger Straße, wir wohnen in der Mommsenstraße. Um 22:19 oder um 22:34 Uhr hätte sie da sein müssen, aber sie kam nicht.“