Danas Sekunde
Susanne hatte die Zentrale der PAST übernommen, weil alle Streifenwagen unterwegs waren, zum großen Teil bei der Großkontrolle oder anderweitig auf der Autobahn. Sie legte gerade ihren Telefonhörer auf die Gabel und griff zum Funkgerät. „Cobra 11 für Zentrale!“ ‚Die Jungs werden sich bestimmt freuen, wenn ich sie von der Kontrollstelle wegschicke‘, dachte sie bei sich, und wiederholte ihren Ruf, dann meldete sich Alex. „Susanne, was gibt es?“ – „Auf der A4 hat ein Autofahrer eine Blockade durch zwei LKW-Fahrer gemeldet, die keinen Wagen an sich vorbei lassen. Könnt ihr euch darum kümmern.“ – „Nichts lieber als das, Susanne, so kommen wir endlich hier weg.“
Inzwischen hatte Andrea mit Ayda und Lilly die PAST erreicht und ging gleich zu ihrer Freundin. „Andrea, schön dich mal wieder zu sehen. Semir ist noch unterwegs.“ Sie begrüßte Semirs Frau mit einer innigen Umarmung, auf die auch Ayda und Lilly mittlerweile bestanden. Da ertönte plötzlich Semirs aufgeregte Stimme aus dem Lautsprecher. „Cobra 1 an Zentrale, wir werden angegriffen, brauche dring..…“ Anstelle des Endes des Satzes drangen nun ein lauter Knall und das Geräusch knirschenden Blechs und quietschender Reifen an die Ohren der beiden Frauen. Susanne und Andrea starrten sich einen Augenblick entsetzt an. „Semir, was ist los? Melde dich!“, versuchte Susanne. Doch er war nicht mehr zu hören. „Semir!“, entfuhr es nun auch Andrea.
„Cobra 11? Semir braucht Hilfe, ihr müsstest auf dem Weg zur Blockade an ihm vorbei kommen.“, gab sie den Semirs Notruf mit einem Blick auf die Karte auf ihren Monitor weiter. Andrea musste sich setzen und war nur einen Moment froh, dass ihre Töchter schon in das Büro ihres Vaters gelaufen waren, um auf dem Drehstuhl Karussell zu spielen. Sie blickte fassungslos in Susannes Gesicht und schüttelte langsam ihren Kopf. Gemeinsam starrten sie auf das Funkgerät, aus dem jetzt allerdings kein Ton mehr kam. Susanne versuchte noch mehrmals, Semir anzufunken, ohne Erfolg, dann alarmierte sie die Kollegen. „Cobra 11 für Zentrale. Beeilt euch, wir haben den Kontakt zu Semir verloren."
An diesem Autobahnabschnitt waren rechts keine Leitplanken angebracht. Stattdessen zog sich neben der Standspur ein breiter Rasenstreifen entlang, bevor die Böschung der Autobahn steil abwärts einige Meter zu einem Feldweg und dahinter liegenden Getreidefeldern führte. Auf der Böschung wuchsen vereinzelte Büsche und junge Bäume. Qualm drang durch die Ritzen der Motorhaube hervor, als der Motor des Dienstwagens erstarb. Semir schlug verbissen auf das Lenkrad: „Nein, nicht jetzt!“ Er versuchte zu starten, aber der Wagen sagte keinen Ton mehr. Sein Angreifer fuhr mit seinem Geländewagen noch 30m weiter und wendete dann. Aus dem Lautsprecher drang Susannes aufgeregte Stimme: „Semir, was ist los bei euch? Ben und Alex sind auf dem Weg. Sag doch was!“ Doch Semir blieb die Antwort im Halse stecken. Er sah den Mercedes drohend vor sich, und dann fiel es ihm plötzlich auf: Warum war die Autobahnseite hier komplett frei? Sie hatten doch gerade eben noch Autos und sogar einige LKW überholt. Doch Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, blieb ihm nicht. Der Motor seines Gegners heulte auf, dann setzte sich der schnelle Wagen in Bewegung. „Raus! Dana, wir müssen raus!“
Er öffnete seinen Gurt und zog an seinem Türgriff. Nichts. Der Aufprall des schweren Wagens hatte die Fahrerseite des BMW so verbeult und verzogen, dass sich die Fahrertür nicht mehr öffnen ließ. „Dana, beeil dich, wir müssen deine Seite benutzen!“
Dana stieg aus und beeilte sich, vom Wagen wegzukommen. Sie rannte die Böschung hinab auf den kleinen Feldweg zu und kauerte sich hinter einen kleinen Strauch. Hinter ihr hörte sie einen lauten Knall, als der Mercedes den Dienstwagen ihres Vaters traf und über die Böschung katapultierte. Sie schaute dem BMW hinterher, der sich mehrfach überschlug und schließlich auf dem Dach liegen blieb. Suchend drehte Dana sich um, doch von Semir war keine Spur zu sehen. „Papa?“
Sie rappelte sich auf und lief in Richtung des Wagens. War Semir nicht rausgekommen? In Dana kam Panik auf, als oben auf der Straße dem Geländewagen ein Mann entstieg und sich ebenfalls auf den Weg die Böschung hinab zum BMW machte, um sein Werk zu vollenden. In seiner Hand war deutlich eine Waffe zu erkennen. Dana wollte schreien, doch ihr Hals war wie zugeschnürt. Was, wenn der Kerl auch auf sie schoss?
Dann erregte etwas in einem kleinen Gebüsch auf halbem Weg die Böschung hoch, noch etwa 30m vom Wrack des BMW ihre Aufmerksamkeit. Dort lag etwas und sie schaute genau hin. Erleichterung machte sich in ihr breit. Semir muss doch noch über den Beifahrersitz aus dem Wagen entkommen oder herausgeschleudert worden sein. Mit wenigen Schritten war Dana bei ihrem Vater und ging neben ihm in die Knie. „Papa, wach auf, er ist noch da! Papa! Er wird uns erschießen! Ich habe Angst!“ Semir war nicht bewusstlos, ihm war nur einen Augenblick vor Schmerz schwarz vor Augen geworden. Er konnte seinen rechten Arm nicht bewegen, jeder Versuch wurde mit einer Schmerzattacke bestraft. „Dana“, stieß er aus, „bist du in Ordnung? Wo ist er?“ – „Bei deinem Auto. Er hat eine Pistole!“ – „Du musst mir meine Waffe geben, ich kann meinen Arm nicht bewegen.“ Semir lag auf dem Bauch und verlagerte sich jetzt so, dass er in Richtung seines Wagens blickte. Dana zog seine Waffe aus dem Holster und legte sie in Semirs linke Hand. Er entsicherte die Pistole einhändig und machte sich bereit.
Ihr Gegner wandte sich, als er den BMW leer vorfand, suchend um und machte sich auf den Weg in Danas und Semirs Richtung. Da der Bewuchs nur spärlich war, entdeckte er die beiden nach kurzer Zeit. Dana presste sich neben Semir auf den Boden. Schon peitsche ein Schuss knapp vor ihnen in den Boden und schickte eine kleine Grassode in die Luft. „Nun mach doch was, Papa!“ Semir versuchte zu zielen und abzudrücken, aber auch seine linke Hand gehorchte ihm nicht, sie begann vor Schmerz zu zittern, ihm fiel die Pistole aus der Hand. Ein weiterer Schuss peitschte durch die Luft, verfehlte aber ebenso wie der vorherige sein Ziel. „Dana, ich kann es nicht, du musst!“ – „Was?“, entfuhr ihr entsetzt. Sie sollte schießen? Alles in ihr sträubte sich dagegen, aber hier sterben, das wollte sie auch nicht. Und ihren Vater ein zweites Mal verlieren? Nein! Sie schloss ihre zierliche Hand um den Holzgriff von Semirs Waffe, hob das schwere Eisen in die Höhe und drückte den Abzug vier-, fünfmal durch, bis sie sicher war, dass der Gegner getroffen zu Boden gegangen war.
Semir legte seinen linken Arm auf Danas rechte Hand und drückte sie behutsam zu Boden. „Ist gut, Dana. Ich glaube das reicht.“ – „Ha- Habe ich ihn er- erschossen?“, stammelte sie. „Scht, alles wird gut. Es war notwendig, sonst hätte er uns erschossen.“