Bad
Sie sahen den Jaguar etwa 100m vor ihnen nach links auf die Bundesstraße abbiegen. Die Ampel schaltete in dem Moment auf Rot, als er in die Kreuzung einfuhr. Alex hatte Probleme, ihm zu folgen, weil der Querverkehr einsetzte und er einigen PKW ausweichen musste, quietschende Reifen vereinigten sich mit mehrstimmigem Hupen zu einem Klangkonzert, das Semir jedoch nicht davon abbrachte, sich weiter auf den Flüchtigen zu konzentrieren. „Lass ihn nicht entkommen, Alex! Das könnte auch unser Mörder sein, ich wäre dir sehr dankbar, wenn wir ihn vor Umsetzung seiner Pläne erwischen könnten.“
Kurz danach bog der Jaguar auf die A1 in Richtung Süden und wurde von seinem Fahrer auf der mäßig befahrenen Autobahn beschleunigt. Aber Alex gelang es durch einige geschickte Fahrmanöver den Abstand zu reduzieren. Einige Minuten später hatten sie ihn eingeholt. Der Verfolgte wurde langsam nervös, er trat das Gaspedal noch stärker durch. Er wechselte in hohem Tempo auf die rechte Spur und schnitt dabei die Fahrerin eines roten Golfs.
Diese war gerade vom Verkehr um sie herum leicht abgelenkt, weil ihre kleine Tochter in ihrer Sitzschale begonnen hatte zu schreien und jetzt auch noch anfing zu spucken. Sie hatte sich nur kurz umgedreht, um beruhigend auf das 6-monatige Mädchen einzureden. „Mäuschen, wir halten gleich an und dann mache ich dich wieder sauber und frisch, ein paar Minuten nur noch.“ Sie bereute es, heute den Kindersitz nicht auf den Beifahrersitz geschnallt zu haben, da hätte sie leicht mal eine Hand für die Kleine frei gehabt, um sie zu beruhigen. Aber sie hatte vorher den Sohn des Nachbarn noch beim Fußballtraining abgesetzt und dem wird auf der Rücksitzbank immer übel. Und so weit war der Weg nach Bad Münstereifel ja auch nicht.
Als sie nun ihren Blick wieder nach vorne richtete, erschrak sie vor dem schwarzen Auto, welches nur Zentimeter an ihrem Golf vorbeischrammte und verriss das Lenkrad, ihr Auto kam ins Schleudern und drehte sich mehrmals um sich selbst. Alex konnte dem roten Golf gerade noch ausweichen, die Blicke von Semir und der völlig panischen Mutter trafen sich für einen Bruchteil einer Sekunde. Er sah auch den Kindersitz auf der Rücksitzbank, dann schoss der Wagen schon unkontrollierbar über die Böschung hinaus, und rollte unausweichlich auf den dort befindlichen Teich zu.
Semir reagierte sofort. „Alex! Lass mich aussteigen. Ihr schnappt sie euch! Und ruf RTW und Sascha!“ Alex bremste scharf und kam rutschend auf der Standspur zum Stehen. Semir hatte den Wagen kaum verlassen, die Tür noch nicht zugeschlagen, da gab Alex bereits wieder Gas und versuchte, den sich rasch entfernenden Jaguar einzuholen.
Auch ein LKW-Fahrer hatte den Unfall beobachtet und sich sofort entschlossen zu helfen. Da sein Gefährt einen langen Bremsweg hatte, hatte Semir vor ihm den Golf erreicht, von dem noch die Fahrerkabine aus dem Wasser schaute, der aber auf dem schlammigen Untergrund ständig weiter nach hinten ins Wasser rutschte. Noch im Laufen hatte Semir seine Jacke ausgezogen und die Waffe gezogen und ließ beides auf dem Rasen fallen. Er stand schon bis zur Brust im Wasser und riss die Fahrertür auf, als der stämmige LKW-Fahrer die Böschung hinuntereilte.
„Was ist? Kommen Sie raus!“, forderte Semir die Fahrerin auf, die sich am Lenkrad nach vorne zog, als könnte sie so den Rückwärts-Abwärtstrend des Fahrzeugs aufhalten. Die Rücksitzbank war schon fast im Wasser verschwunden. Semir blickte auf das Kleinkind, welches starr vor Schreck in seinem Sitz saß, und dessen Kopf gerade noch aus dem Wasser ragte. Wieder ging ein Ruck durch den Wagen. „Retten Sie mein Kind!“ Blanke Panik sprach aus den Worten der Fahrerin. „Steigen Sie aus, ich hole ihr Kind!“ – „Ich kann nicht, ich bin gelähmt.“ Semir öffnete die hintere Tür und bemerkte den Rollstuhl, der hinter dem Fahrersitz untergebracht war. Der Wagen rutschte erneut ein Stück tiefer ins Wasser, welches nun plötzlich das Kind vollständig bedeckte. Die Fahrerin geriet noch mehr in Panik, da griffen aber schon kräftigen Hände zu und zogen die Frau von ihrem Sitz. „Nein!“, wehrte diese sich und schlug mit ihren Armen um sich, „Mein Kind!“ – „wird gerade gerettet, bleiben Sie ruhig“, vervollständigte der stämmige LKW-Fahrer den Ruf der Frau. Semir musste schnell handeln, und in das Fond des Golfs tauchen. Zum Glück kannte er sich mir diesen Kindersitzen aus und fand auch blind das Gurtschloss. So erreichte er mit dem Baby bereits nach weniger als einer viertel Minute wieder die Wasseroberfläche. Es schrie augenblicklich wie am Spieß.
Während Semir das kleine Mädchen aus dem Auto rettete und nun aus dem Teich ans Ufer trug, kümmerte sich der LKW-Fahrer um dessen Mutter, die er behutsam auf den Rasen am Ufer absetzte, wo sie jetzt überglücklich ihr weinendes Baby in ihre Arme schließen konnte.
„Ist sie in Ordnung?“ Angesicht ihrer Situation sicher eine berechtigte Frage, die sich allerdings durch das Schreien ihrer Tochter selbst beantworten sollte. Der LKW-Fahrer und Semir schauten sich leicht amüsiert an und hatten denselben Gedanken, den Semir in die passenden Worte fasste: „Wer genug Luft hat, so zu schreien, dem kann es so schlecht nicht gehen.“ Und tatsächlich ließ sich die Kleine in den Armen ihrer Mutter zusehends beruhigen.
Der rote Golf war mittlerweile bis über das Dach in dem Teich verschwunden. "Vielen Dank für Ihre Hilfe! Das ist heutzutage nicht selbstverständlich“, Semir reichte dem LKW-Fahrer seine Hand, „ich heiße übrigens Semir.“ Der stämmige Fahrer schlug ein. „Für mich schon. Rainer!“
Semir zog sich seine vor der Rettungsaktion abgelegte Jacke wieder an, befestigte seine Waffe in seinem Holster. „Wir sollten sehen, dass wir hoch zur Straße kommen. Meine Kollegen haben schon einen Abschleppwagen und einen Rettungswagen gerufen, die müssten jeden Moment eintreffen.“ – „Rettungswagen? Aber wir sind doch gar nicht verletzt.“ – „Aber das wussten wir vor 5 Minuten noch nicht, und bei diesem Wasser sollten Sie sich und insbesondere ihre Tochter einmal untersuchen lassen. Wollen Sie noch jemanden anrufen? Ihren Ehemann vielleicht?“ – „Das mache ich nachher in Ruhe, er kann von München aus sowieso nichts machen.“ – „Ich trage Sie am besten nach oben zur Straße“, schlug Rainer vor und ging schon neben der Frau in die Knie. Diese blickte zwischen ihm und ihrem Kind hin und her. Die Kleine hatte sich wieder beruhigt. „Und meine Tochter?“ – „Geben Sie mir“, bot sich Semir an und nahm ihr vorsichtig das kleine Mädchen ab. „Na du?“, flüsterte er, „du kommst ja gleich wieder zu deiner Mama.“ Ihm fiel auf, wie nass und kalt das Kleinkind war, und er schloss seine Jacke um den kleinen Körper. Rainer nahm die Frau auf seine Arme und begann die Böschung zur Straße hinauf zu steigen, auf der in dem Moment ein Rettungswagen und eine Polizeistreife zum Stehen kamen.
Semir und Rainer übergaben Mutter und Kind den Sanitätern, die sie sogleich zudeckten und untersuchten, während Semir Sascha entdeckte, der mit ausgebreiteten Armen auf ihn zukam. „Semir! Hätte ich mir ja denken können, dass du dahinter steckst. Wo ist der Wagen, den ich bergen soll? Und“, er rümpfte seine Nase, „was riecht denn hier so streng?“ – „Gülle, Sascha, in dem Teich laufen drei Gräben zusammen. Und genau in dem steckt das Objekt deiner Begierde.“ – „Das Auto ist …?“ – „Genau. Du hast doch eine Winde an deinem LKW, oder?“ Sascha nickte. „Ach ja, und der Rollstuhl ist besonders wichtig, den braucht die Frau in dem RTW, den holst du bitte zuerst raus.“ Sascha sah auf den Teich, der mit seiner unbewegten Wasseroberfläche keinen Hinweis auf das versunkene Auto gab, und lenkte seinen Blick zurück auf Semir. Doch dessen Blick veranlasste ihn nur zu der Äußerung: „Ich mach mich dann mal an die Arbeit.“ Er wandte sich zurück zu seinem LKW. „Ach, und Sascha?“ – Der stoppte, drehte seinen Kopf, und Semir meinte nur grinsend: „Lass dich nicht aufhalten!“ Er erntete als Antwort nur eine eindeutig Handbewegung von Sascha.
Semir ging auf Rainers Angebot ein, ihn in seinem LKW zur PAST mitzunehmen. Alex Mercedes stand auf dem Parkplatz und auf dem Weg in die Dienststelle kamen ihm seine Kollegen entgegen. Semir winkte noch kurz Rainer zu, der in dem Moment den Hof verließ. „Hey Semir!“, begrüßte ihn Ben, „du siehst irgendwie“, er schaute dem LKW hinterher, „mitgenommen aus.“ – „Bin ich ja auch. Und ihr? Habt ihr ihn?“ Alex senkte leicht betreten den Kopf. „Nein, er ist uns entwischt. Wir haben Platz verloren, als wir dich rausgelassen haben, und der Jaguar hat auch einige Pferdchen unter der Haube. Und, das muss man ihm lassen, er wusste damit umzugehen.“ – „Was zum Kennzeichen?“ – „Es war ein gestohlener Leihwagen“ – „Mist!“, fluchte Semir. „Apropos Mist, wonach riecht es hier eigentlich?“ - „Jetzt fang du nicht auch noch an! Was ist mit der Krüger, zieht sie in eine Schutzwohnung?“ – „Nein, aber sie hat jetzt einem Personenschutz zugestimmt, Kollegen in der Wohnung und vor dem Haus“, erklärte Alex. „Hoffentlich reicht das, ich mach mich vom Acker, wir sehen uns morgen.“ - „Willst du nicht auch über Polizeischutz nachdenken, Semir?“
„Und du? Alex, ich werde meine Familie schützen, aber wieder unterkriechen?“ – „Vielleicht sollten wir zusammen bleiben, bis wir ihn haben? Alex und ich könnten bei euch übernachten, dann kann immer einer von uns wach bleiben“, schlug Ben vor. Semir wollte schon dankend ablehnen, aber so dumm war der Gedanke gar nicht. So könnte aus seiner eigenen Wohnung eine Schutzwohnung werden. „Ben, das …wenn es euch nichts ausmacht, die Idee klingt nicht schlecht. Aber lasst mich erst mal Andrea alleine erklären, was geschehen ist. Gebt mir zwei Stunden, okay?“
Alex und Ben nickten und schauten Semir hinterher, wir er in seinem BMW den Hof der PAST verließ.