Beiträge von thommyn

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    Ein lautes Dröhnen durchbrach die Stille der Nacht, gefolgt von einer Polizeisirene. Mit atemberaubendem Tempo rasten ein Audi und ein Passat über die vierspurig ausgebaute B 14. Semir versuchte, den Abstand zu verringern, was aufgrund des Leistungsunterschieds jedoch nicht einfach war. Auf der Rücksitzbank saß Benedikt. Mit der einen Hand hielt er sich am Türgriff fest, mit der anderen umklammerte er sein Handy. „Herr Häberle, die Sache ist schiefgelaufen! Julia und Simone wurden entdeckt und entführt. Gerkhan verfolgt den Entführer auf der Hauptstätter Straße.“ Ein rotes Licht blitzte vor dem Audi auf. „Und jetzt haben wir auch ein Beweisfoto für die Entführung!“ Semir grinste. „Das gibt bestimmt ein paar Punkte in Flensburg. Lächeln, Chefin!“ Auch der Passat wurde von der stationären Radarfalle erfasst. Nach einer Unterführung verengte sich die Fahrbahn auf eine Spur und mündete in eine Linkskurve. Der Audi musste abbremsen, Semir konnte aufholen.

    „Wo könnte der hinwollen?“ fragte Kim Krüger in Benedikts Richtung. „Raus aus der Stadt wahrscheinlich.“ Semir schaltete wieder hoch. „Dann müssen wir ihn vorher schnappen, auf der Autobahn haben wir keine Chance gegen den Schlitten.“ – „Wenn er den Heslacher Tunnel nimmt, haben wir noch eine Chance.“ Semir spitzte seine Ohren. „Wieso?“ Sie fuhren an der nächsten Kreuzung vorbei. Benedikt versuchte sich nach vorne zu beugen, aufgrund Semirs Tempo fiel ihm dies sichtlich schwer. „Im Tunnel gibt es eine Kreuzung, die ist ampelgeregelt. Die Ampel ist die ganze Nacht durch an.“ – „Und wenn die Ampel grün ist?“ – „Ich muss da öfters durch. Die ist nie grün!“ schrie Benedikt nach vorne, da ihn die letzte Kurve schon wieder in den Sitz gedrückt hatte. Vor ihnen tat sich bereits das Tunnelportal auf. „Na dann hoffen wir mal, dass Sie recht haben.“

    Semir schaltete erneut, als sie in den Tunnel einfuhren, der sich nach einer leichten Rechtskurve gerade durch den Stuttgarter Südhang schlängelte. „Da vorne!“ rief Benedikt. Schon von Weitem erkannte Semir die Ampel. Sie zeigte rot. Vier Autos warteten geduldig, weiterfahren zu dürfen. Der Audi bremste scharf ab, die Reifen quietschten. „Jetzt haben wir ihn!“ rief Benedikt freudig aus. Doch der Audi scherte nach links aus und fuhr auf der Gegenfahrbahn des einröhrigen Tunnels weiter. In diesem Moment schaltete die Ampel auf Grün, die Fahrzeuge setzten sich langsam in Bewegung. Stölzles Audi fuhr jedoch bereits neben der Warteschlange. Eine Lichthupe durchbrach das eintönige Weißgelb der Neonlampen. Auch in der Gegenrichtung hatten Fahrzeuge auf die nun angebrochene Grünphase gewartet. Der Audi bremste wiederum scharf ab. Ein ohrenbetäubendes Hupen erklang durch die Röhre und wurde von den Tunnelwänden reflektiert. Da bog der Audi nach links in einen Seitentunnel ab. „Verdammt!“ schrie Benedikt. „Was ist?“ – „Er ist jetzt auf der Gegenfahrbahn der Ausfahrt.“ – „Das bedeutet?“ – „Die ist nicht breit genug für zwei Fahrzeuge. Jetzt darf keiner entgegen kommen.“ – „Und jetzt?“ – „Hier rechts raus, da kommen wir zur gleichen Straße.“ Semir fuhr nach rechts in den Seitentunnel ein. Sie hörten einen Knall, der eindeutig aus dem anderen Seitentunnel kam…

    hmm... schade, dass es Schröders Imbisswagen nicht mehr gibt, stelle mir gerade vor, wie Ben bei ihm künftig Currywurst mit Spätzle bestellt... :D

    Alle Stuttgart-Kenner können schon mal mit dem Raten anfangen, welche Straße in Stuttgart gleich noch eine wichtige Rolle spielt...

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    „Ich hab‘ sie verloren!“ schrie Benedikt so laut, dass Kim Krüger und Semir hochschreckten. Sie drehten sich zum Rücksitz des VW Passat um, auf dem Benedikt mit seinem Laptop saß. Häberle, der im Geislinger Revier auf den erlösenden Anruf von Semir und Kim Krüger wartete, hatte darauf bestanden, dass die beiden Stecheles Dienstwagen nahmen und nicht seine E-Klasse, schließlich hatte er ja in den letzten Tagen ausreichende Erfahrungen gemacht, was bei den rheinischen Kollegen alles zu Bruch gehen kann. „Wie?“ – „Jemand muss die Peilsender bei Julia und Simone entdeckt und entfernt haben!“ – „Kann es sein, dass die Technik spinnt?“ wollte sich Semir vergewissern. „Das ist echte Wertarbeit, das Neueste vom Neuen!“ rechtfertigte sich Benedikt. „Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit eins zu zehn Millionen, dass beide Sender gleichzeitig ausfallen!“

    Krüger handelte sofort. „Okay, Gerkhan, wir machen es wie besprochen. Ich werde mich vor dem Eingang postieren und Sie und Benedikt vor der Tiefgarage. Wenn die Mädchen bei Ihnen auftauchen sollten, hupen Sie zweimal.“ Krüger stieg aus und lief zum großen Platz vor dem Haupteingang, während Semir den Passat um das Gebäude fuhr. Er durfte gar nicht daran denken, was mit Julia und Simone passieren würde, würden Stölzle oder Demmler sie entdeckt haben. Er würde es sich nie verzeihen, wenn den beiden etwas zustieße. Er ließ die Tiefgaragenausfahrt keine Sekunde aus den Augen. Um ihn herum war es völlig still. Benedikt umklammerte mit beiden Händen seinen Laptop.

    „Und jetzt?“ fragte er Semir. „Leise!“ zischte der, als die Ampel der Tiefgarage auf Rot sprang und sich das Rolltor langsam in Bewegung setzte. Semir sah die beiden Scheinwerfer, die aus der Dunkelheit heraustraten. Er hupte zweimal. Der Audi A8 verließ die Garage und bog sofort nach links ab. Durch die Beifahrertür konnte Semir blonde Haare erkennen. Julia! Das musste sie sein. Die Beifahrertür des Passat sprang auf. Kim Krüger stieg hastig ein und schnallte sich an. „Sind sie das?“ – „Sitzt auf jeden Fall eine blonde Frau auf dem Beifahrersitz.“ Der Audi beschleunigte. „Und der Fahrer scheint es eilig zu haben.“ Semir setzte sich hinter den Audi. „Zweistein, anschnallen!“ rief er nach hinten. Benedikt tat, wie ihm befohlen…

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    Das Entree des Rathauses lag in absoluter Dunkelheit. Der einzige Lichtkegel weit und breit kam aus dem Pförtnerhäuschen. Der Sicherheitsbeamte starrte schweigend auf den Monitor, auf dem abwechselnd verschiedene Perspektiven der Überwachungskameras erschienen. Auch aus dem Treppenhaus, das zwischen den sechs stählernen Aufzügen lag, drang kein Lichtschein. Stufe für Stufe tasteten sich Julia und Simone nach oben. Für den Hintereingang hatte der Schlüssel gepasst. Sie hatten sich umgesehen, hatten jedoch nur an der Tiefgarageneinfahrt selbst eine Kamera entdecken können, und deren Blickfeld hatten sie mit einem Zick-Zack-Kurs umgehen können. Beide schwitzten und zitterten. Endlich waren sie im 9. Stock angekommen. Der Zugang zur Etage war nicht abgeschlossen, doch hinter den Aufzügen war der Weg durch eine Tür versperrt.

    Simone kramte ihren Schlüsselbund hervor. Jetzt kam es darauf an. Sollte der Schlüssel hier nicht passen, wäre alles umsonst gewesen. Vorsichtig steckte sie den Schlüssel in das Schloss. Die Tür rührte sich nicht. So leise sie konnte, ruckelte Simone an der Tür. „Was ist?“ flüsterte Julia ihr ins Ohr, fast unhörbar. Simone spürte, wie ihr der kalte Schweiß über den Nacken lief. Sie zog den Schlüssel heraus, versuchte ihn dabei so gerade wie möglich zu halten und steckte ihn erneut in das Schloss. Langsam zog sie die Klinke an sich heran. Es knackte leise. Nun ließ sich der Schlüssel drehen, die Tür öffnete sich. „Nach Ihnen, Gnädigste.“ flüsterte sie Julia zu. Beide traten durch die Tür, die Simone wieder hinter sich verschloss. Was hatte Menk ihnen gesagt? Geradeaus, an der Teeküche vorbei und danach die sechste Tür rechts. Sie standen vor einer schweren Holztür. Raum 9.010 stand an dem rotbraunen Schild, jedoch kein Name. Das musste es sein. Das musste das Büro von Michael Demmler sein.

    Julia drückte vorsichtig die Klinke nach unten. Die Tür war nicht abgeschlossen. Das große Aquarium, das den Raum in zwei Hälften teilte, tauchte Demmlers Büro in einen fahlen Lichtschein. Vom Marktplatz drangen die Lichter der umliegenden Häuser durch die Panoramafenster in den Raum. Die beiden gingen zu Demmlers Schreibtisch. Ein dunkler, wuchtiger Tisch, der sorgsam aufgeräumt war. Auf ihm lagen drei Unterschriftsmappen, ein paar Kugelschreiber und ein Foto, von dem Julia und Simone vermuteten, dass es Demmlers Familie zeigte. Wie würde dieser Kerl zuhause seiner Familie eine heile Welt vorspielen können, während er hier Verbrechen begeht? Oder wusste seine Familie am Ende noch, was er hier trieb? Dass er mindestens zwei Menschen auf dem Gewissen hatte? Oder hatten Leute, die an so einem Tisch sitzen, überhaupt kein Gewissen? Julia startete Demmlers PC. Vor einem blauen Hintergrundbild erschien der Anmeldebildschirm. Julia tippte ‚bordeaux‘ ein, das Passwort, welches Sonja in ihren Dateien vermerkt hatte. Hoffentlich hatte Demmler es noch nicht geändert. Der Mauszeiger verwandelte sich in eine Sanduhr. Die Sekunden schienen zu stehen.

    Beide erschraken, als die Begrüßungsmelodie von Windows ertönte. Doch um sie herum war alles still. Simone zog den USB-Stick, den ihr Benedikt am Morgen gegeben hatte, aus ihrer Tasche und steckte ihn ein. Nach einem kurzen Surren zeigte der Bildschirm an, dass der PC den USB-Stick erkannt hatte. Julia wechselte in das E-Mail-Programm. Wieder erinnerte sie sich an Sonjas Aufzeichnungen, die sie sich sorgsam eingeprägt hatte. Rubrik „Intern“, dann Ordner „Projekte“, dann das zweite Passwort eingeben. Wieder tippte Julia auf der Tastatur. Es öffnete sich ein neues Fenster mit einer Liste von E-Mails. Julia überflog die Zeilen. An zehnter Stelle erkannte sie Stecheles Namen. Julia doppelklickte auf die E-Mail. Das war es. Das würde genügen, um Ben, den schnuckeligen Polizisten, zu entlasten. Julia markierte alle E-Mails, die der Ordner „Projekte“ enthielt, klickte auf die rechte Maustaste und kopierte die E-Mails auf den USB-Stick. Wieder schien die Zeit stillzustehen. Julia und Simone wagten nicht zu atmen.

    Nach einer Minute waren die Dateien fertig kopiert. Simone zog den USB-Stick aus dem Rechner, während Julia hastig ALT und F4 drückte, um die Programme zu schließen. Nun noch leise hier herausspazieren, dann hatten sie es geschafft. Das Licht des Bildschirms erlosch, der PC war heruntergefahren. Auf leisen Sohlen verließen sie Demmlers Büro. Sie schlichen den langen Gang in Richtung Treppenhaus entlang. Schon standen sie wieder vor der Zwischentür, die Simone wieder verschlossen hatte. Sie drehte den Schlüssel wieder um. „Gleich sind wir wieder draußen.“

    Sie öffnete die Tür und stieß einen lauten Schrei aus. Vor ihnen stand eine dunkle Gestalt. Das Licht im Gang ging an. „Guten Abend, meine Damen. Sie hätten mit den Überstunden warten sollen, bis ich mich entschieden habe, wen von Ihnen ich einstelle. Und Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass ich es nicht merke, wenn mein Ersatzschlüssel fehlt?“ Wie erstarrt blickten sie in Stölzles braune Augen…

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    „Sie könnten also schon nächste Woche anfangen?“ Julia und Simone nickten brav. Beide saßen auf schwarzen, ledernen Besucherstühlen und hatten ihre Arme in den Schoß gelegt. Stölzle sah aus den beiden Bewerbungsmappen hoch, die Julia und Simone am Vorabend hastig zusammengezimmert hatten. Um nicht mit Sonja in Verbindung gebracht zu werden, hatten sie nicht ihre Plochinger Anschrift, sondern die des Studentenwohnheims angegeben. „Das ist gut.“ Stölzle erhob sich, sah zum Fenster hinaus und wand den beiden den Rücken zu. „Ihre Vorgängerin hatte leider einen tragischen Unfall. Wir suchen also händeringend wieder jemanden, der uns unterstützt. PR-Arbeit, Telefonate führen, Termine koordinieren und Veranstaltungen vorbereiten. Wir brauchen jemanden auf den wir uns hundertprozentig verlassen können.“ Simone sah sich im Raum um. Bereits, als sie von Stölzle in sein Büro geführt wurden, hatte sie seinen grauen Mantel am Garderobenhaken bemerkt. „Da sind wir genau die Richtigen.“ – „Aber wir haben nur einen Platz zu vergeben, so leid es mir tut…“

    Simone versuchte sich zurückzuhalten. Hier spielt Stölzle den mitleidenden Chef und hinten rum lässt er einen Auftragskiller auf Sonja los. Ihre Hände bohrten sich in das Leder des Stuhls. Stölzle sah kurz auf. „Ist etwas, Frau Heller?“ Simone wurde es heiß. Sie hoffte, dass Stölzle nicht bemerkte, wie ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. „Entschuldigung, Herr Stölzle, mir ist gerade nicht gut. Dürfte ich kurz auf die Toilette gehen?“ – „Rechts, den Gang runter, letzte Tür links.“ Simone stand auf. Langsam ging sie zur Türe. Kurz, bevor sie diese erreicht hatte, ließ sie ihren Schlüsselbund fallen. Stölzle sah erneut kurz auf, führte aber dann sein Gespräch mit Julia fort. Ganz langsam hob Simone den Schlüssel auf, während sie mit der anderen Hand in Stölzles Manteltasche griff. Sie jubelte innerlich, als sie einen Schlüsselbund greifen konnte. Schnell nahm sie beide Schlüssel und drückte die Türklinke nach unten.

    Leise schloss sie die Türe wieder hinter sich. Uff, geschafft. Der Gang vor Stölzles Büro war menschenleer. Sie bückte sich und betrachtete den Schließzylinder. „ZEISS IKON“ war darauf zu lesen. Mist. Es gab zwei Schlüssel an Stölzles Schlüsselbund, die diese Bezeichnung trugen. Sie steckte den Schlüsselbund wieder in ihre Tasche, ging auf die Toilette und schloss die Tür ab. Sie betrachtete eingehend die beiden Schlüssel, hielt sie gegen die Deckenlampe. Sie sahen genau gleich aus. Simone setzte sich. Und nun? Sie stieß einen stillen Jubelschrei aus, als sie erkannte, dass auf beiden Schlüsseln die gleiche Seriennummer eingraviert war. Noch leichter kannst Du es uns nicht machen, dachte sie und zog langsam einen der beiden Schlüssel von dem Ring, an dem sie befestigt waren. Sie befestigte ihn an ihrem eigenen Schlüsselbund, drückte die Spülung, tupfte sich am Waschbecken mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, wusch sich die Hände und verließ die Toilette. Die Garderobe war beim Reingehen rechts, erinnerte sie sich und nahm Stölzles Schlüsselbund fest in die rechte Hand.

    Sie öffnete Stölzles Bürotür. Dieser war immer noch mit Julia im Gespräch. Als Julia bemerkte, dass sich die Tür geöffnet hatte, begann sie dreimal lautstark zu husten. Simone nutzte den Moment und ließ Stölzles Schlüsselbund wieder in seine Manteltasche gleiten. Das war geschafft. „Ist mit Ihnen wieder alles in Ordnung?“ Sie erschrak, als sie Stölzles Stimme hörte und sah, wie er sie ansah. „Ja, ja, geht schon wieder. Alles in Ordnung.“ Sie versuchte zu lächeln, war sich aber nicht sicher, ob es nicht zu aufgesetzt wirkte. Hoffentlich war es der richtige Schlüssel. Und hoffentlich hatte Stölzle nichts bemerkt, sonst würden sie ähnlich enden wie Sonja…

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    Julia und Simone putzten ihre WG, als Semir, Kim Krüger und Gerhard Menk eintrafen. Zwar stapelten sich nun Zeitschriften, Bücher und Geschirr auf dem Boden und der Balkon war mit einer Armee kaputter Pflanzen vollgestellt, ansonsten war die Wohnung zwischenzeitlich aber wieder halbwegs bewohnbar geworden. Die beiden waren schockiert, als sie erfuhren, dass Stechele ebenso korrupt wie tot war und Ben verhaftet worden war. Ebenso erstaunt waren sie, als sie erfuhren, dass und wie Demmler den Volksentscheid gefälscht hatte und Sonja sich neben ihrem Studium quasi als Spionin verdingte. Von CDs oder USB-Sticks mit Sicherungskopien wussten sie auch nichts. Semir durchsuchte noch einmal Sonjas Zimmer, doch auch er konnte nichts finden. Erschöpft und nachdenklich ließ er sich auf die Wohnzimmercouch fallen, die Julia und Simone von Stapeln aller Art befreit hatten.

    Menk dachte laut: „Wenn Sonja keine Sicherungskopien gemacht hat, gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen die Daten neu von Demmlers Rechner beschaffen.“ – „Wie stellten Sie sich das vor, Herr Menk?“ entgegnete ihm Kim Krüger. „Solange wir keine Beweise haben, können wir nicht einfach einen Durchsuchungsbefehl für das Büro des Oberbürgermeisters beantragen, jedenfalls nicht erfolgreich. Ich bin mir sicher, dass das schwäbische Pendant zur Schrankmann da einiges auszusetzen hätte.“ Semir grinste bei Krügers Seitenhieb auf seine Lieblings-Staatsanwältin. „Aber solange wir keinen Durchsuchungsbefehl haben, haben wir auch keine Beweise.“ seufzte Menk. „Wir müssten wieder jemanden bei Demmler einschleusen. Er braucht doch mit Sicherheit eine Nachfolgerin für Sonja. Ist ja wahrscheinlich nicht so, dass Demmler den ganzen Tag krumme Dinger dreht, sein Geld zählt und in der übrigen Zeit nur in der Nase bohrt…“ – „Das ist zu gefährlich, Herr Menk!“ Kim Krüger wurde lauter. „Sie wissen ja, was Stölzle und Demmler mit Stechele und Kandel gemacht haben. Die beiden scheinen keine Skrupel zu kennen, wenn es um ihren bescheuerten Bahnhof geht.“ – „Ich kenne aber auch keine Skrupel, wenn es darum geht, Stuttgart 21 zu verhindern, Frau Krüger.“ wehrte sich Menk. Semir ergänzte: „Chefin, und ich kenne keine Skrupel, wenn es darum geht, Ben wieder bei mir zu haben. Ich glaube, Menk hat Recht. Das ist die einzige Chance, die wir haben. Stölzle und Demmler wiegen sich jetzt in Sicherheit. Der Zeitpunkt wäre also günstig. Und wenn Ben erst vor dem Haftrichter steht und seine Unschuld vollends bezweifelt wird, muss ich künftig alleine über die A 4 jagen.“

    Semir sah Kim Krüger mit dem niedlichsten Hundeblick an, den er in diesem Augenblick zustande bekam. Sie dachte lange nach, und schließlich schloss sie die Augen und seufzte. „Gut, Gerkhan, was schlagen Sie vor?“ – „Was Menk gesagt hat: Wir schleusen eine neue Praktikantin ein.“ – „Ich habe noch ein paar Kontakte in der Personalabteilung, das müsste sich hinbiegen lassen, ohne dass Demmler oder Stölzle etwas bemerken.“ – „Das MUSS sich hinbiegen lassen, Herr Menk!“ mischte sich Semir wieder ein. „Und wen?“ Menk stand auf und begann, langsam im Raum auf- und abzuwandern. Die Aufregung schien ihn seine maroden Gelenke vergessen zu haben. „Diejenige müsste an den Schlüssel zur Etage gelangen. Mit dem lassen sich alle Büros öffnen. Die Zugangsdaten und Passwörter von Demmlers PC hat Benedikt rekonstruieren können. Rein, einloggen, Mailverkehr auf einen USB-Stick kopieren und wieder raus. Ich kann diejenige instruieren, wie sie in Demmlers Büro gelangt, das Rathaus ist seit meinem Ausscheiden nicht mehr umgebaut worden.“ – „Und an wen denken Sie, wenn Sie ‚diejenige‘ sagen?“ Semir sah Menk fragend an.

    „Frau Krüger, mit Verlaub, für eine Praktikantin sind Sie leider zu alt. Und Häberle ist zu dick dafür, also…“ Mit einem Mal blieb Menk stehen, drehte sich um, und sah Julia und Simone direkt in die Augen. Die beiden jungen Frauen sahen sich gegenseitig an. Sie waren sprachlos...

    So, jetzt hab ich Euch aber lang genug auf die Folter gespannt und Benedikt genug Zeit gegeben, den Laptop zu untersuchen... Spaß beiseite, leider hatte das Tagungshotel, in dem ich die letzten zwei Wochen verbracht hab, zwar "kostenloses WLAN" im Prospekt, aber leider war es auch NUR im Hotelprospekt kostenlos, der Stundenpreis hätte mein Budget bei Weitem überschritten (irgendwie erinnerte mich das an Tom Gerhardt: "Zwei Freibier, bitte" - "Freibier kostet fünf Mark" - "Ui, das is' aber teuer hier..."). Ab jetzt geht's aber wieder täglich weiter - ein paar Kapitel hab ich noch auf Lager...

    @ susan: Jetzt hab ich vorher extra noch auf wikipedia recherchiert, die sprachen immer von der "Zusammensetzung des Gemeinderats"... komisch...

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    Das fahle Neonlicht über Benedikts Schreibtisch flackerte beständig. Benedikt tippte wie wild auf die Tastatur, während Semir, Häberle, Gerhard Menk und Kim Krüger ihm über die Schulter blickten. „Also, Euer Hartmut ist ja mal n richtiger Crack.“ lobte Benedikt. „Wir haben bestimmt ne Stunde telefoniert und der hat mir ganz neue Tricks gezeigt, die ich bis dato überhaupt nicht kannte, zum Beispiel…“ – „Ich unterbrech‘ Sie nur ungern, aber können wir uns bitte die Dateien anschauen,“ mahnte Semir zur Eile, „mein Partner möchte so schnell wie möglich wieder aus der U-Haft auschecken…“ – „Na klar!“. Benedikt legte die Stirn in Falten und öffnete ein paar Dateien. „Die hier konnten wir komplett wiederherstellen. Nicht viel, aber ich hoffe, Ihr könnt etwas damit anfangen…“

    Über eine Stunde sichteten sich die fünf durch die „paar“ Dateien und E-Mails – genau einhundertdreiundachtzig. Menk erläuterte die Hintergründe, soweit sie ihm bekannt waren und doch waren alle danach nur teilweise zufrieden. „Sodele, für e Haftbefehl für de Stölzle dürfte des auf jede Fall reiche, und de Bürgermoischta kemmt aa ned guat dabei weg…“ stellte Häberle fest. Krüger unterbrach ihn: „Nur leider kein einziger Hinweis auf Stechele!“ stellte sie resigniert fest. „Chefin, den müssen wir aber unbedingt noch bekommen. Wenn wir Demmler und Stölzle wegen der Daten hier festnageln und die stellen sich stumm, dann wird Ben hier bei Wasser und Spätzle versauern. Wir brauchen unbedingt Beweise, dass Stechele für Stölzle gearbeitet hat, sonst können wir Ben nicht vom Mordverdacht entlasten!“

    Menk mischte sich ein. „Sonja hat mir am Wochenende noch E-Mails auf ihrem Laptop gezeigt, die Stechele an Stölzle geschickt hat. Aber ich habe keine Kopien oder Ausdrucke davon.“ – „Wurden im Wagen oder in der WG irgendwelche Sicherungskopien gefunden?“ fragte Semir. Krüger verneinte. „Aber wir könnten ja bei ihren Mitbewohnerinnen nochmal anklopfen. Vielleicht hat Sonja bei den beiden eine CD oder einen USB-Stick deponiert.“ – „Also, auf nach Plochingen!“ Semir verließ den Raum, die anderen folgten ihm. Benedikt sah ihnen nach. „Ein einfaches ‚Danke‘ hätte auch gereicht.“ flüsterte er in seinen nicht vorhandenen Bart. Ob Semir sich bei Hartmut auch nie bedankt? Er würde ihn fragen, wenn er das nächste Mal mit ihm telefonieren würde. Und das würde er bestimmt. Endlich kannte er jemanden, mit dem er in Ruhe würde fachsimpeln können…

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    Gespannt saßen Häberle, Krüger und Semir im Konferenzraum des Geislinger Polizeireviers Gerhard Menk gegenüber und lauschten seinen Erzählungen. Menk hatte seinen Gehstock an den Tisch gelehnt, er saß leicht nach vorne gebeugt und hatte die leicht zittrigen Hände gefaltet. „Ich gehe davon aus, dass es Ihr wichtigstes Ziel ist, diese SMS von Sonja zu entschlüsseln. Das kann ich übernehmen. Sie hatten soweit Recht, DS steht für Dieter Stechele. Und MD steht für den Stuttgarter Oberbürgermeister, Michael Demmler.“ Häberle sah ihn zweifelnd an. „Der Stuttgarter Oberbürgermeister? Sind Sie sich da sicher?“ fragte Semir nach. „Hundertprozentig. Denn ich bin der ‚M.‘ in ihrer SMS. Sonja hat sie mir vorgestern Abend geschickt.“ Menk, schoss es Semir durch den Kopf.

    Dieser fuhr fort: „Dass Stechele im Rahmen des Volksentscheides Stimmen hat verschwinden lassen, wissen Sie ja bereits. Den Auftrag dazu hat er von Demmler erhalten. Demmlers Privatsekretär und Stechele sind beide in Uhlbach aufgewachsen und waren dort lange Jahre im Schützenverein. Und jetzt hat Demmler mit Stecheles Hilfe erreicht, dass Stuttgart 21 doch gebaut wird.“ – „Und was hat Demmler davon?“ – „Er erhält eine Menge Geld von der Bahn und hat ein Vorkaufsrecht auf die Grundstücke des Bahnhofsgeländes. Ein riesiges neues Baugebiet mitten im Zentrum der Stadt. Können Sie sich vorstellen, welche Grundstückspreise die Stadt hierfür verlangen kann?“ – „Und woher wissed Sie des alles, wenn I frage derf?“ Häberle sah Menk wieder misstrauisch an.

    Gerhard Menk seufzte tief, bevor er fortfuhr. „Demmler war früher meine rechte Hand. Damals, noch zu der Zeit, als wir gegen die Atomkraftwerke in Neckarsulm demonstriert hatten, wurde ich zum Chef der ‚Grünen‘ von Stuttgart gewählt. Die Partei zog 1980 zum ersten Mal in den Gemeinderat ein: Wir haben viele Projekte gemeinsam vorangetrieben. Unter anderem haben wir die Nordostumgehung verhindert, mit der der damalige OB eine Betonschneise durch die schönen Weinberge der Oststadt schlagen wollte. Doch als 2009 die Grünen stärkste Kraft im Gemeinderat wurden und Demmler zum Oberbürgermeister gewählt wurde, schien er wie ausgewechselt. Projekte, die wir früher bekämpft hatten, begann er nun zu realisieren. Und bei Stuttgart 21 habe ich mich dann völlig mit ihm überworfen. Ich habe ihn als Verräter und Verbrecher beschimpft. Im Gegenzug hat er dafür gesorgt, dass ich jegliche politische Ämter verliere. Sogar aus der Partei haben die mich ausgeschlossen.

    Durch Zufall lernte ich Sonja Kandel vor drei Monaten auf einer Demonstration kennen. Sie war genau die richtige, genauso, wie ich einst war. Wir hatten dieselben Ziele, die gleiche Überzeugung und verstanden uns prächtig.“ – „Und da haben Sie sie auf Demmler angesetzt?“ – „Ich hatte noch einige Vertraute im Gemeinderat. Die halfen mit, dass Sonja eine Praktikantenstelle bei Demmler bekam. Tagsüber bereitete sie seine Reden und Positionspapiere vor, war fleißig und tüchtig, und wenn Demmler und Stölzle außer Haus waren, hat sie ein wenig in deren Computern herumspioniert. Letzte Woche konnte sie endlich die Passwörter knacken. Als sie mitbekam, was beim Volksentscheid tatsächlich abgelaufen war, hat sie den Inhalt von Demmlers E-Mail-Postfach auf ihren Laptop kopiert. Sie wollte mir die Daten so schnell wie möglich zukommen lassen.“ – „Hat sie ihnen diese nicht direkt per E-Mail weitergeleitet?“ – „Wissen Sie, da bin ich altmodisch. Ich besitze zwar einen Computer, aber keinen Internetanschluss. Ich war froh, dass mir Sonja beigebracht hat, mit dem Mobiltelefon umzugehen und SMS zu schreiben. Dafür habe ich ihr andere Tricks beigebracht.“ – „Zum Beispiel, das Handy unter dem Sitz festzukleben?“ fragte Krüger beinahe beiläufig. Gerhard Menk musste schmunzeln. „Ja, das hat sie von mir.“ – „Den Laptop haben wir in tausend Einzelteilen aus dem Autowrack von Sonjas Mördern geholt. Unsere Techniker versuchen gerade, ob darauf noch Daten zu retten sind.“

    Als ob er auf dieses Stichwort gewartet hatte, stand Benedikt mit einem breiten Grinsen in der Tür. „Herr Gerkhan, Frau Krüger, Herr Häberle! Wir haben es geschafft, wir konnten aus dem Laptop ein paar Dateien wiederherstellen!“ Freudestrahlend sprang Häberle auf. „Kommed se, Menk, Sie kennad sich in derer ganze Schose aus. Sie könned uns beschtimmt e bissle was entschlüssele…“ Semir und Kim Krüger folgten Häberle, Menk und Benedikt in den Keller der KTU…

    (21)

    Zufrieden blickte er aus dem Fenster. Der Qualm der Explosion des Turms zog langsam in Richtung Neckartal und vermischte sich mit den geschuppten Wolken. „Gute Arbeit!“ lobte er Stölzle, der in der Tür erschienen war. Auch er sah zufrieden aus. „Gut, dass Sie so schnell reagiert hatten und mir das Foto mit dem Handy geschickt hatten, als Stechele mit dem zweiten Mann auftauchte.“ – „Unser Glück, dass Stechele ihn beim Namen nannte und Sie ihn in der Datenbank gleich finden konnten.“ – „Das war nicht Glück.“ Demmler drehte sich um. „Es hat sich einfach bewährt, Zugangsdaten für das Polizeinetz für alle Notfälle bereitzuhalten. Ich frage mich nur, warum er den zweiten Bullen dabei hatte.“ – „Vielleicht hatte er Angst?“ – „Wenn Sie Angst haben, schieben Sie dann einen Polizisten mit einer Waffe in der Jackentasche quer durch die Bahnhofshalle?“ – „Nicht wirklich. Aber egal. Dieser Jäger kommt uns nicht mehr in die Quere. Auf dem Foto ist die Waffe nicht zu erkennen, und deshalb hat es Lehner ja geschluckt.“

    Demmler sah wieder aus dem Fenster. Bald würde Gras über die Sache gewachsen sein und dann könnte er endlich wieder zur Tagesordnung übergehen. Diese Sache hatte schon viel zu viel Zeit gekostet. Wenigstens sind jetzt alle Mitwisser aus dem Weg geräumt. Sonja Kandel tot, Stechele tot, dieser Jäger so gut wie hinter Gittern. Es war vorbei. Er konnte wirklich zufrieden sein. Und Stölzle hatte sich seine Belohnung wirklich verdient…

    ... um Ben zu killen, braucht es schon etwas mehr als die Sprengung eines Hauptbahnhofs, der hat ja die Sprengung der Messehallen auch schon überlebt. Aber vielleicht denkt sich Elli mit mir ja mal was schönes aus --- sie foltert, ich sprenge. Aber vorher müssen wir uns ein Land suchen, das nicht ausliefert... :D :D

    (20)

    Mit einem großen Knall explodierte die Spitze des Südturmes des Stuttgarter Hauptbahnhofes in tausend Teile. Der Feuerball war weit über die Stadtgrenzen hinaus zu sehen. Steine, Schutt und Mauerteile wurden in die Luft geschleudert und regneten zu Boden. Die Passanten, die an der nahegelegenen Bushaltestelle auf ihren Bus warteten, hielten sich ihre Hände über die Köpfe und rannten davon. Ein Mauerteil schlug in das Dach eines am Taxistand stehenden Taxis ein, dessen Fahrer vor Schreck seine Bildzeitung fallen ließ. Kim Krüger, Semir Gerkhan und Häberle, die in Häberles E-Klasse saßen und auf der B 14 auf den Hauptbahnhof zufuhren, blieb der Mund vor Schreck offen stehen. „Heiligs Blechle!“ stieß Häberle aus. „Ben!“, schrie Semir, „Schneller, Häberle!“ Häberle gab Gas. Eine Minute später stellte er seinen Diestmercedes an der Menschentraube ab, die sich um den Bahnhofsplatz gebildet hatte. Aus dem halb eingefallenen Turm stieg Rauch auf. Von der Ferne dröhnten mehrere Feuerwehr- und Polizeisirenen. Häberle hielt seinen Dienstausweis in die Luft und drängelte sich durch die Menge. „Polizei! Mir müssed da durch!“

    Als die drei an den Resten des Turmes angelangt waren, sahen sie Ben im Gras liegen. Sein linkes Knie war aufgeschürft, seine Nase blutete. Semir rannte zu ihm. „Ben!“ – „Hallo Partner!“ flüsterte Ben leise. „Was ist passiert?“ – „Stechele! Er hat mich in den Turm geschleppt, und in dem war eine Bombe.“ – „Wo ist Stechele jetzt?“ Ben musste husten. „Vermutlich gibt der gerade seine Eintrittskarte am Eingang zur Hölle ab.“ Ein Feuerwehrwagen mit einer Drehleiter bog um die Ecke. Die Feuerwehrleute sprangen aus dem Fahrzeug und begannen, die große Drehleiter auszufahren und den Löschschlauch vorzubereiten. Semir, Ben, Krüger und Häberle sahen zu, wie die Männer in voller Montur begannen, die Turmreste zu besteigen und die letzten Glutnester zu löschen. Sie setzten sich ins Gras des Parks. Ben erzählte von Stecheles Erpressungsversuch.

    „Aber wer dahinter steckt, damit ist er leider nicht rausgerückt.“ schloss Ben. Da hielt ein Polizeiwagen direkt neben dem Quartett. „Keine Bewegung!“ hörten Sie eine Stimme schreien, drei Männer stürmten mit gezogenen Waffen auf die vier zu. „Hey, hey, alles gut…“ wollte Semir die Situation klären, doch einer der Männer drückte ihn weg. Dieser zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn Ben vor die Nase. „Herr Jäger?“ – „Ja?“ antwortete Ben verstört. Er drückte sein Taschentuch wieder fester an seine blutverschmierte Nase. „Hauptkommissar Lehner, Kripo Stuttgart. Ich verhafte Sie hiermit wegen Mordverdachts an Dieter Stechele! Abführen!“ Die beiden anderen Männer legten Ben Handschellen an und zogen ihn ins Auto. Kim Krüger und Semir versuchten, ihn aufzuhalten. Doch Lehner schnauzte die beiden an. „Wir haben einen Zeugen, der gesehen hat, wie Herr Jäger mit Herrn Stechele im Turm verschwunden ist. Alles Weitere werden wir klären. Wenn Sie immer noch an die Unschuld von Herrn Jäger glauben, Sie finden mich im Präsidium!“ Die beiden Männer drückten Ben auf den Rücksitz und stiegen ein, ebenso Lehner. „Schönen Tag noch!“ Das Polizeiauto fuhr ab und ließ Semir, Häberle und Krüger ratlos zurück.

    „Was war das denn bitte?“ kam von Semir. Seine Fassungslosigkeit war ihm immer noch ins Gesicht geschrieben. „Egal, wer auch immer Jäger in diese Situation gebracht hat“, ergänzte Krüger, „jetzt hat er zwei mächtige Feinde!“ – „Drei!“ kam es von Häberle. „Vergessed sie mi ned.“ Semir und Krüger grinsten ihn an. Krüger sortierte ihre Gedanken. „Also, was haben wir, wo können wir diesen Lehner bei den Eiern packen?“ – Semir kam ihr zu Hilfe: „Laut Ben faselte Stechele etwas von einem Geldgeber, der Stimmen für den Volksentscheid gegen Stuttgart 21 gekauft hat. Ich bin mir sicher, wenn wir diesen ominösen Geldgeber finden, finden wir auch den Mörder von Stechele, den Mörder von Sonja Kandel und auch den Schlüssel zu Bens Handschellen.“ – „Doch WIE solled mir des alles findet?“ fragte Häberle in die Runde.

    „Haben Sie noch den Ausdruck der SMS?“ Häberle gab Semir den Zettel. „Also: DS steht für Dieter Stechele, da können wir uns das Grübeln sparen. Ich glaub, dass MD für Mike Danner steht, glaubt in dieser Runde wohl niemand mehr.“ Krüger und Häberle nickten im Duett. „Also, für was steht MD? Jeder noch so kleine Anhaltspunkt kann wichtig sein. Unser MD ist in den Volksentscheid von S21 involviert, hat die Kohle und die Connections, zwei Auftragskiller auf Kandel loszulassen und konnte binnen Minuten Ben an Lehner verpfeifen. Wer könnte MD sein…“ – „Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische.“ hörten die drei eine Stimme hinter sich. „Aber ich glaube, da kann ich Ihnen weiterhelfen…“

    Die drei drehten sich um. „Wer sind Sie denn?“ fragte Krüger. „Gestatten, Menk, Gerhard Menk.“ – „Und wie, meinen Sie, dass Sie uns helfen können?“ – „Können wir das irgendwo in Ruhe besprechen?“…

    (19)

    Er hörte den Straßenlärm von unten. In der Ferne konnte er erkennen, wie ein Intercity-Express langsam vom Bahnhof abfuhr. Zwei Krähen umkreisten Ben. In letzter Sekunde hatte er sich an einem überdimensionalen Transparent festhalten können. Es zeigte einen Zug, das Logo der Deutschen Bahn und eine weiße Schrift auf rotem Grund: „Wir machen Stuttgart mobil für das 21. Jahrhundert – Stuttgart 21!“. Er hielt mit beiden Händen fest das obere Ende des Transparents. Er hatte Angst. Angst, in die Tiefe zu fallen. Er hing etwa einen halben Meter unterhalb der Fensteröffnung, etwa dreißig Meter über dem Boden. Er spürte, wie der Wind frisch um seine Ohren blies. Das etwa zwölf Meter hohe Transparent flatterte im Wind. Dann sah er Stechele, wie er sich aus der Fensteröffnung beugte. Sekunden später verschwand er wieder. Das konnte nur eins bedeuten: Er würde seine Waffe holen, und dann war es aus mit ihm. Er hatte nicht mehr viel Zeit, zumal die Bombe jeden Moment würde hochgehen können.

    Er bemerkte, dass das Transparent unter seinem Gewicht nachgab. Das obere Ende begann sich zu wölben, kleine Risse gruben sich in den Stoff. Er hatte nur eine Chance. Er schob seine Hände zusammen und konzentrierte sich auf den Punkt, an dem die Risse am größten waren. Vorsichtig rüttelte er leicht am Transparent. Jetzt hoffe ich nur, dass das Seil da oben stark genug ist, dachte er, sonst war’s das. Der Riss begann, sich zu vergrößern. Er spürte Todesangst. Sein Puls pochte, seine Arme schmerzten. Nur nicht nach unten sehen…

    Da begann sich mit einem lauten Ratschen ein Streifen aus dem Stoff zu lösen. Ben klammerte sich noch fester. Der Streifen bog sich immer weiter und schließlich gab der Stoff nach. Das Transparent riss auf der gesamten Länge durch und mit zappelnden Beinen ging es für Ben abwärts. Etwa fünf Meter vom Boden entfernt kam er zum Stehen. Der Mittelteil des Transparents hing nun auf der gesamten Länge über. Ben sah kurz hinab. Unter ihm war ein Busch. Oben an der Fensteröffnung konnte er Stechele erkennen. Er hatte seine Waffe in der Hand und zielte auf ihn. Ben schloss die Augen und überlegte den Bruchteil einer Sekunde. Vor seinem geistigen Auge sah er eine rote Digitalanzeige auf null springen. Dann sprang er in die Tiefe...

    ( 18 )

    Leise konnte Ben hören, wie Stechele sich der oberen Plattform näherte. Er versuchte sich zu konzentrieren, die Position von Stechele genau auszumachen. Nach dem letzten Absatz waren es noch zehn Stufen. Das Knarzen der Stufen verriet ihm, wie weit Stechele noch entfernt war. Noch sechs, noch vier, noch zwei… er war oben. Ben hielt die Luft an. Er zählte stumm bis zwei. Dann drehte er sich zur Seite und hielt die Eisenstange auf Kniehöhe in den Raum hinein. Genau richtig. Stechele fiel darüber und ging zu Boden. Die Waffe glitt ihm aus der Hand und flog in einem hohen Bogen auf den letzten Treppenabsatz hinab. Ben warf sich mit voller Wucht auf Stechele und versuchte seine Hände zu greifen. Doch dieser war schneller und griff nach Bens Hals.

    „Bombe! Hier drin ist eine Bombe!“ röchelte Ben. „Versuchen Sie nicht, mich zu verarschen!“ schrie ihn Stechele an und drückte fester zu. Beide wälzten sich auf dem Boden, Staubfetzen stoben durch die Luft. Ben hatte den Griff von Stechele etwas gelöst und robbte auf dem Boden einen Schritt zurück. Stechele rutschte mit einem Arm von Ben ab, mit dem anderen packte er ihn am Fuß. Ben versuchte, mit dem anderen Fuß seinen Griff zu lösen, doch Stechele bekam auch diesen zu fassen. Mit beiden Armen konnte er ihn abwehren. „Hier fliegt gleich alles in die Luft!“ – „Schnauze!“ Dann spürte Ben einen Faustschlag im Gesicht. Benommen glitt er ein Stück zurück. Da spürte er einen erneuten Schlag. Doch diesmal bekam er die Faust von Stechele zu fassen und drückte ihn weg.

    Ben stützte mit einem Knie auf. Mit ganzer Kraft stemmte er sich Stechele entgegen. Er konnte erkennen, dass Stecheles linkes Knie blutete. Ben versuchte weiter, ihn in Richtung Boden zu drücken. Seine Arme begannen zu zittern. Endlich konnte Ben aufstehen, doch er rutschte mit dem Arm ab. Hektisch wollte er Stecheles Arm wieder greifen, doch dieser bückte sich nach hinten und Bens Griff ging ins Leere. Stechele konnte sich ebenfalls aufraffen. Diesen Moment nutzte Ben und hechtete zur Seite. Mit einem hastigen Griff bekam er die Eisenstange erneut zu fassen und hieb sie auf Stecheles lädiertes Knie. Dieser glitt erneut zu Boden.

    Ben sah sich um. Er wusste nicht, ob es neben der verschlossenen Tür noch einen anderen Ausgang gab und ihm blieb noch höchstens eine Minute. Er würde es nie nach unten schaffen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Stechele wieder aufzustehen versuchte. Er rannte los und sprang durch die fensterlose Öffnung nach draußen...

    (17)

    Bens Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Er war mit einem Seil an einen Stützpfeiler gefesselt worden. Der Boden war mit Staub und Bauschutt bedeckt. Der Raum mündete in einen großen Turm, von oben drang Tageslicht herein. Die Fenster des Raumes selbst waren mit Plastikplanen abgedeckt. Stechele zündete sich eine Zigarette an. Die Waffe behielt er in der Hand. „Nehmen Sie’s nicht persönlich, aber ich kann kein Risiko eingehen.“ – „Warum haben Sie das getan?“ fragte Ben. Hinter seinem Rücken versuchte er, die Fesseln zu lockern. Er hatte, als Stechele ihn am Pfeiler festgebunden hatte, tief eingeatmet und hatte so zumindest etwas Luft gewinnen können. Genug, um seine Hände etwas bewegen zu können, doch zu wenig, um sich befreien zu können.

    „Von Sonja Kandel wusste ich nichts. Als ich noch in Stuttgart wohnte, war ich mit einem Bekannten, der heute im Rathaus arbeitet, im Schützenverein. Dieser rief mich vor ein paar Monaten an und fragte mich, ob ich mir nicht etwas hinzuverdienen wolle.“ – „Sie korrupter Bulle!“ Ben schrie extra laut, damit Stechele nicht hörte, wie er ein Ende seiner Fesseln mit dem Finger zu fassen bekam und das Seil etwas lockern konnte. „Schreien Sie nur, hier hört Sie keiner. Das war hier noch echte Wertarbeit. Trotzdem bin ich froh, wenn dieser Steinhaufen hier endlich dem Erdboden gleichgemacht wird. Und Sie können live dabei sein!“

    Ben schauderte es. „Es wird Sie hier niemand finden. Sobald ich mein Geld bekommen habe, wird hier wieder abgeschlossen und in ein paar Tagen kommt der große Bagger.“ – „Warum haben Sie Sonja Kandel töten lassen?“ – „Ich habe sie nicht töten lassen. Mit der Kandel hatte ich nichts zu tun. Ich bin erst stutzig geworden, als mir Häberle gestern Abend die Fotos von den Toten im Jeep gezeigt hat. Ich erkannte die beiden Typen sofort, die haben die echten Stimmzettel vom Volksentscheid verschwinden lassen. Da witterte ich meine Chance, etwas mehr Geld herauszuschlagen als geplant. Ich hab‘ einen Job erledigt, hab den Bürgern beim Volksentscheid ein wenig bei ihrer Meinungsbildung geholfen und bekomme dafür jetzt eine schöne Stange Geld. Sie glauben ja nicht, wie deprimierend es ist, als ehemaliger LKA-Anwärter in diesem Provinzkaff Streife zu schieben und diesem Spätzlefresser Häberle dabei zuzusehen, wie er noch fetter wird.“ Stechele sah auf seine Armbanduhr. „Aber ich bin nicht hier, um mit ihnen Smalltalk zu halten. Mein Geldkoffer muss jeden Moment kommen. Gute Reise, Herr Jäger!“

    Stechele drückte seine Zigarette aus und wandte sich von Ben ab. „Sie Schwein!“ schrie Ben. Er hatte die Fesseln ein Stück lösen können, doch er wusste, dass er schnell sein musste, um nicht von Stechele in diesem abbruchreifen Bau eingesperrt zu werden. Er schrie und schrie, er schabte und schabte an seinen Fesseln. Doch Stechele war bereits wieder an der schweren Holztür angekommen. Er drückte die Türklinke. Die Tür war verschlossen. Stechele rüttelte mehrmals daran. Er hatte sie doch nicht etwa abgeschlossen? Er nahm den Schlüssel aus der Tasche und versuchte, ihn in das Schloss zu stecken. Es klemmte. Er sah durch das verrostete Türschloss hindurch. Irgendetwas Metallenes steckte darin fest. Er erkannte die abgebrochene Spitze eines anderen Schlüssels, die quer im Schloss lag. Er rüttelte und rüttelte, versuchte erneut, den Schlüssel in das Schloss zu bekommen. „Scheiße! Was zum Teufel…“ fluchte er. Er beugte sich erneut zum Türschloss hinab.

    Ben sah seine Chance gekommen. Mit einem kurzen Ruck konnte er den Rest des Knotens, der nach seinem Scheuern übrig geblieben war, lösen. Er war frei. Doch er sah, dass Stechele die Waffe immer noch in der Hand hielt. Er selbst war unbewaffnet, er hätte also keine Chance. So leise wie möglich schlich er zu der schweren Holztreppe.

    Vorsichtig betrat er die erste Stufe. Die Treppe, die sich über mehrere Etagen an der Turmwand entlang wand und steil nach oben führte, knarzte laut. Stechele schreckte hoch und drehte sich um. „Was zur Hölle…“ Ben lief, so schnell er konnte, hinauf. Stechele hechtete ihm hinterher. Ben rannte und rannte. So oft er nur konnte, nahm er zwei oder drei Stufen auf einmal. Er hörte einen Schuss. Stechele verfehlte ihn um etwa einen halben Meter. Er drückte sich an die Mauer und entdeckte im Mauerwerk einen lockeren Stein. Er nahm diesen aus dem Mauerwerk heraus und warf ihn in die Tiefe. „Aah!“ hörte er Stechele schreien. Er hatte getroffen. Ohne sich umzusehen rannte Ben weiter. Immer weiter nach oben. Er hörte seinen Atem keuchen und sein Herz schlagen. Sein Adrenalin war auf Anschlag. Doch er hörte auch, wie Stechele sich wieder aufraffte und ihm in den Turm folgte. Nach gefühlten zweihundert Stufen erreichte Ben keuchend das obere Ende der Treppe. Das Tageslicht schien ihm nun durch eine Öffnung, die jedoch kein Fenster mehr enthielt, direkt in die Augen. Er hielt eine Hand vor sein Gesicht und versuchte sich zu orientieren. Die obere Plattform des Turmes war mit einem Betonboden ausgekleidet, an der Wand standen Gerüstteile.

    Er entdeckte eine Nische, die durch eine etwa hüfthohe Steinmauer vom Rest der Plattform abgetrennt war. Schnell warf er sich dahinter. Zwischen den Gerüstteilen entdeckte er eine Eisenstange. Er nahm diese in die rechte Hand und rührte sich nicht. Die Eisenstange verdeckte einen Karton. In diesem Karton sah Ben ein rotes Licht. Er zog die Seitenwand des Kartons ein Stück nach vorne und blickte auf eine Digitalanzeige, die an mehreren roten und blauen Drähten befestigt war. Die vier roten Leuchtziffern zeigten 02:23 an. Gleichmäßig zählte die Uhr nach unten, unerbittlich rückte die Anzeige im Sekundentakt der Null näher entgegen. Ben stockte der Atem. Mit zitternden Händen ließ er den Karton los. Ihn schauderte. Sein Puls raste. Er nahm die Eisenstange fest in beide Hände…

    (16)

    Eine blecherne Stimme kündigte die um 20 Minuten verspätete Einfahrt des Eurocity nach Straßburg an. Hektisch rannten hunderte Passanten durch die große Bahnhofshalle, doch niemand beachtete die beiden Männer. Niemand außer einer dunklen Gestalt in einer schwarzen Lederjacke, die zwischen dem Haupteingang und dem Eingang eines Büchergeschäftes an einer Säule lehnte und in sein Smartphone vertieft schien. Ben spürte den Lauf der Pistole, die ihm Stechele durch seine Jackentasche hindurch in den Rücken drückte. „Ganz langsam vorwärts.“ flüsterte er ihm zu. „Da hinten müssen wir hin.“ – „Stechele, was soll das? Was haben Sie vor?“ – „Wenn Sie schön brav mitkommen, werde ich Sie zumindest nicht hier vor aller Augen erschießen. Und, vergessen Sie’s, niemand würde mich in diesem Trubel erwischen.“ – „Sie stecken da mit drin! Sie sind mit schuld am Tod von Sonja Kandel.“ – „Ich hab‘ nur meinen Job erledigt, und jetzt bekomme ich dafür das, was mir zusteht. Und jetzt Klappe halten, Jäger!“

    Sie verschwanden an der Mauer mit den Schließfächern. Stechele zog einen Schlüssel aus der Jackentasche und öffnete Schließfach Nr. 53. Darin lag ein weiterer Schlüssel. „Los, weiter geht’s!“ Sie durchquerten erneut die Bahnhofshalle. Stechele schob ein Baugerüst, an dem ein Schild vor dem Betreten der Baustelle warnte, auf die Seite und öffnete mit dem Schlüssel die schwere, mit Eisenteilen versetzte Holztür. „Gleich haben Sie genug Zeit, um über alles nachzudenken.“ Er schubste Ben in die Dunkelheit. Doch er sah nicht, dass ihnen jemand gefolgt war…

    @ Elli: Das hab' ich gern... erst mich dazu verdonnern wollen, eine weitere Story zu erfinden und dann gleich mal ne Idee von mir stibitzen, das geht schon mal gar nicht... :D Und Du bleibst sowieso die unangefochtene Folterkönigin...

    (15)

    Sandra Schmidt stöhnte laut. „Kein Treffer in Kandels Freundeskreis, soweit er uns bekannt ist, und dreitausendachthundertsiebenundfünfzig Treffer in der Verbrecherkartei!“ rief sie zu Häberle, Krüger und Semir hinüber. „Was kennad des hoiße…“ wollte Häberle sich in seinem Stuhl zurücklehnen, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig daran, dass seine Sitzgelegenheit gerade nicht voll belastbar war. Hektisch lehnte er sich wieder nach vorne, der Stuhl knarzte erneut.

    „Gehen wir das Ganze doch mal anders an.“ schlug Kim Krüger vor. „Die SMS ist von vorgestern Abend. Mit ‚übermorgen‘ meint Sonja also heute, 12 Uhr, das ist in einer Stunde. Was könnte sie mit dem Südturm meinen?“ – „Der Stuttgarter Hauptbahnhof!“ sagte Sandra Schmidt, die in die Tür getreten war. „Der hat einen Südturm. Sonst wüsste ich nichts hier in der Umgebung, dass sich ‚Südturm‘ nennt, außer, es handelt sich um irgendein privates Gebäude oder einen Code.“ Kim Krüger drehte sich zu Schmidt um. Sie las nochmals von Benedikts Zettel ab. „Sie schreibt auch eindeutig „im“ Südturm. Ist der Turm begehbar?“ – „Ned für jed’n“ mischte sich Häberle ein. Sandra Schmidt ergänzte: „Es gab mal ein paar Ausstellungen im Turm, aber seit klar ist, dass er abgerissen wird, ist er verschlossen.“ – „Abgerissen?“ blickte Kim Krüger sie an. „Na, für Schtuagad Oinazwanzg…“ kam es von Häberle. „Für wen?“ Kim Krüger sah ihn ratlos an. „Für Stuttgart 21.“ übersetzte Sandra. „Der Südturm wird bald abgerissen, obwohl sich immer noch heftiger Widerstand dagegen regt. Aber seit dem Volksentscheid legen die von der Bahn nun richtig los…“.

    Krüger überlegte. „Schon wieder Stuttgart 21. Die Kandel war doch nach Aussage von ihren Mitbewohnerinnen voll in die Gegendemos involviert. Ich werd‘ das Gefühl nicht los, dass es da irgendeinen Zusammenhang gibt…“ – „Was hatte es denn mit dem Volksentscheid auf sich?“ fragte Semir vorsichtig. „Ich dachte, das wäre im ganzen Land bekannt geworden…“ begann Sandra Schmidt zu erläutern. Wohl eher nur im ganzen Ländle, dachte Semir und schmunzelte. „Die Stuttgarter wurden per Volksentscheid gefragt, ob denn der neue Bahnhof nun gebaut werden soll oder nicht. War glaub‘ ich ziemlich knapp, aber die Mehrheit hat sich dafür entschieden, dass der neue Bahnhof doch gebaut werden soll.“ – „Aber wenn se des genau wissed wollet, sollet mer doch den Dieter fraged, der hän doch bei der Auszählung mitg’holfe.“ Semir und Kim Krüger blickten zu Häberle hinüber. „Wer hat bei der Auszählung mitgeholfen?“ – „Na, der Dieter. Kollege Stechele.“ Semir und Kim Krüger sahen beide auf den Zettel mit der ausgedruckten SMS, sahen sich gegenseitig an und schrien gleichzeitig. „DS!!! Dieter Stechele!“ Hektisch sprangen sie von ihren Stühlen auf. „Kommen Sie Häberle, Ben ist in Gefahr! Fahren Sie uns sofort nach Stuttgart!!!“

    (14)

    Gedankenverloren sah Ben durch die Windschutzscheibe auf die regennasse Straße. „Und? Glauben Sie ihm?“ fragte er schließlich Stechele, der den Passat durch den langsam einsetzenden Mittagsverkehr Richtung Schnellstraße manövrierte. „Sein Alibi ist mehr als dürftig, ein Motiv hätte er auch. Aber dass ein Autoschrauber zwei Auftragskiller anheuert, nur um seine Ex in die Hölle zu schicken, kann ich mir nicht so wirklich vorstellen.“ – „Zumal das mit Sicherheit ganz schön teuer wäre…“ sagte Ben mehr zu sich selbst.

    Der klapprige Scheibenwischer wischte gleichmäßig die Wassertropfen von der Scheibe. Stechele schwieg. Ben hörte seinen Magen knurren. „Wir könnten am Hauptbahnhof kurz halten und was essen?“ schlug Stechele vor und lenkte den Passat in Richtung Innenstadt. Als sie aus dem Dunkel des Berger Tunnels traten, bemerkte Ben, dass seine rechte Hosentasche vibrierte.

    „Kriminalpolizei Geislingen an der Steige, Aushilfshauptkommissar Jäger am Apparat.“ meldete sich Ben. „Hallo, Partner! Wie, was ist mit Hartmut? Du, ich hab hier ganz schlechten Empfang. Warte kurz…“ Er drehte sich zu Stechele. Dieser fuhr in eine Seitenstraße und blieb vor einer Hauseinfahrt stehen. „Bist Du noch dran? Ja, jetzt ist es besser.“ – „Du wirst es nicht glauben, Ben, die haben einen Freak in der KTU sitzen, der gleicht Hartmut wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber egal, jedenfalls hat Benedikt, also Hartmuts Zwillingsbruder, die letzte SMS, die die Kandel geschrieben hat, wiederherstellen können.“ – „Warte, Partner, ich stell‘ Dich auf laut, dann kann Kollege Stechele mithören…“

    Ben drückte ein paar Knöpfe, und die blecherne Stimme Semir Gerkhans dröhnte aus Bens Handy. Semir las die SMS laut und langsam vor. Bens Miene verfinsterte sich. „Und, was sollen die ganzen Abkürzungen bedeuten, M, MD und DS?“ – „Muss sich wohl um Initialen handeln. Sandra jagt die Kürzel gerade durch Kandels Freundeskreis und die Verbrecherkartei. Aber da kommen wahrscheinlich jede Menge Namen raus.“ Ben fasste sich mit der Hand, die gerade nicht das Handy hielt, an den Kopf. „Wart mal, Partner, MD – das könnte doch Mike Danner heißen, der Typ, bei dem wir grade waren. Der hat sich tatsächlich vorgestern mit der Kandel gezofft und ein wirkliches Alibi für gestern Vormittag hat er auch nicht. Na, den werden wir jetzt nochmal besuchen. Wir melden uns – bis dann, Ciao!“

    Ben legte das Handy beiseite und schnallte sich wieder an. „Sie haben’s gehört, Stechele, wir müssen schnellstens zurück zu Danner! Den werd‘ ich so lange in die Mangel nehmen, bis er mit der Wahrheit rausrückt!“ Er wandte sich zu Stechele um – und sah direkt in den Lauf einer Waffe…

    (13)

    Semir traute seinen Augen kaum, als er gemeinsam mit Häberle die KTU betrat. In einem stickigen Kellerzimmer bastelte ein roter Lockenschopf zwischen gestapelten Computern und Monitoren an einer Platine herum. „Benedikt, des isch da Herr Gerkhän, aus Köln.“ – „Gerkhan“, korrigierte Semir ihn, „aber schon viel besser…“ Häberle versuchte zu lächeln. „Er helfed uns dabei, den Mord an dem Mädle aufzukläred, der in Gruibinge passiert isch.“ Der Lockenschopf drehte sich zu Semir um. „Angenehm, Benedikt Bauer.“

    Semir starrte Benedikt an, bis dieser ihm ein vorsichtiges „Is was?“ entgegnete. Semir schüttelte den Kopf. „Ähm, Herr Bauer…“ – „Benedikt genügt, wir sind hier nicht so.“ – „Sagen Sie mal, Sie haben nicht zufällig einen Zwillingsbruder in Köln?“ – „Nicht dass ich wüsste, wieso?“ Semir starrte ihn immer noch an. „Ach nicht so wichtig. Was ist jetzt mit dem Handy?“ – „Also, wir haben die Hauptplatine durch ein Bereinigungsverfahren mittels ISEI-Entschlüsselung gejagt und in der temporären RAM der Mobile Services…“ Häberle unterbrach ihn. „Benedikt, bitte nochemal für Leutle, die so e Mobiltelefönle benutzed, damit se telefoniered und NUR, damit se telefoniered.“ Semir musste grinsen.

    Benedikt setzte erneut an: „Also, ich konnte die letzte SMS, die Sonja Kandel gesendet hat, wiederherstellen. Hier, ich hab sie ausgedruckt.“ Er nahm einen Zettel von seinem völlig überfüllten Schreibtisch. Semir las laut vor: „Hallo M. Übergabe MD an DS übermorgen um 12 Uhr im Südturm. Alles weitere morgen Abend. SK.“ Eine Stille legte sich über den Raum. „SK wird ja wohl für Sonja Kandel stehen, aber MD, DS, M… sehr kryptisch das Ganze.“ überlegte Semir. „Habed Sie scho rausfinde könned, wem des Mädle dieses SNSle g’schickt hätt?“ – „SMS, Herr Häberle. Und: ja. Ist aber ein Prepaid-Handy, da hab auch ich keine Chance, den Besitzer ausfindig zu machen.“

    Es klopfte an der Tür. Ein Kollege von der Spurensicherung drückte Benedikt eine Schachtel in die Hand, der Inhalt sah nur noch im Entferntesten nach einem Laptop aus. „Hier! Puzzlearbeit für unseren Freak! Wir haben die Tasche gefunden, die die Täter aus Kandels Auto gemopst haben.“ verabschiedete sich der Kollege wieder. Semir musterte aufgeregt den Inhalt der Schachtel. „Das muss mal der Laptop von Sonja Kandel gewesen sein. Benedikt, kriegen Sie da noch was raus?“ Benedikt betrachtete eingehend die zwei Pfund Elektroschrott. „Nee. Also, mit dem Schrott solltet ihr nebenan in die Kirche gehen – da kann nur noch ein Wunder helfen.“

    Semir nahm einen Zettel und einen Stift von Benedikts Schreibtisch und kritzelte eine Kölner Nummer darauf. „Hier, Zweistein, falls Sie nicht mehr weiterkommen, rufen Sie die Nummer hier an und verlangen nach Hartmut Freund.“ – „Wer ist das?“ Nun starrte Benedikt Semir an. Semir nahm die ausgedruckte Nachricht und verließ das Zimmer. Im Gehen rief er Benedikt nach: „Ihr Zwillingsbruder…“ Benedikt sah ihm ratlos nach. „Hä? Was denn für ein Zwillingsbruder?“ – „Koi Ahnung, von welchem Brüderle der schwätzed…“ Häberle zuckte mit den Schultern und folgte Semir nach oben...